Michael Lentz

muttersterben

Prosa
Cover: muttersterben
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002
ISBN 9783100448101
Gebunden, 186 Seiten, 17,90 EUR

Klappentext

Einer stirbt. Einer wird vergessen. Einer wird umgebracht. Etwas kommt abhanden. Was tun? "Muttersterben", das sind Momentaufnahmen alltäglicher Erfahrungen, die vom Abschiednehmen handeln. Sie erzählen vom Erinnern und davon, wie der Versuch, sich Situationen und Vorgänge zu vergegenwärtigen, tragisch werden kann, oder absurd oder komisch. Kleinigkeiten werden zu Monstrositäten, Existentielles wird zur Bagatelle. Alles gerät zur Sensation und wird zugleich belanglos und nichtig. Eine Reise im Flugzeug lässt den Erzähler den Boden unter den Füßen verlieren, das Rauchen einer Zigarette transportiert die Leser unweigerlich in den Zoo, das Betrachten eines Fernsehkrimis bringt gehörig die Phantasie durcheinander.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 06.07.2002

Michael Lentz, der sich bisher vor allem als Autor und Performer von Lautgedichten einen Namen gemacht hat, hat allein schon für einen Auszug aus dem Prosastück "Muttersterben" im letzten Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten, informiert Susanne Messmer. Darin beschreibt der 1964 geborene Münchner Schriftsteller den langsamen Krebstod seiner Mutter und vor allem sein Verhältnis zu der Todkranken, so die Rezensentin. Den besonderen Reiz dieses Buchs verortet Messmer in seiner "Widersprüchlichkeit". Einerseits schreibe der Autor über die "miefige Atmosphäre" seines Elternhauses, andererseits nehme er aber auch mit einer gewissen Wehmut Abschied davon. Und was Lentz dabei am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben ist, ist der Garten der Mutter, für ihn in der Erinnerung ein Idyll, das er aber dem Leser in aller Gebrochenheit vor Augen führe. "Muttersterben" ist, denkt Messmer, eine "spannungsgeladene Prosa", die tief bewegt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 02.07.2002

Völlig zu Recht hat Michael Lentz für "muttersterben" im vergangenen Jahr in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten, schreibt Sibylle Birrer. Dieses Prosastück des nicht mehr ganz jungen Autors, Jahrgang 1964, das eine biografische Grenzerfahrung, nämlich den Tod der Mutter, auf kühne und scheinbar kühle Weise sprachlich umkreist, gibt Birrer zufolge den Grundton des ganzen Buches an: das Suchen nach einer Sprache in einer Sprache, die "immer schon alles enthält", so Birrer, "Ernst und Spiel, Tradition und Innovation". Mit Avantgarde hat das ihrer Meinung nach nichts zu tun, auch wenn Lentz konsequent Groß- und Kleinschreibung und Interpunktion ignoriert. Den Dichter bewegt das semantische Baumaterial, sagt Birrer, so wie er seine Worte und Sätze rhythmisiert, auf- und ineinander schichtet und wieder umschichtet. Lentz hat Germanistik studiert, erfahren wir, und über Lautpoesie promoviert, er ist aber auch Musiker und tritt als Interpret seiner eigenen Texte auf. Nicht alle Texte im Band sind so gut wie "muttersterben", meint Birrer, manche wirken nur mäßig durchgearbeitet auf sie, was ihr bei einem solchen poetischen "Trial-and-Error"-Verfahren durchaus verzeihlich erscheint.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 17.05.2002

"Hier ist ein Sprachspieler am Werk", schreibt Lothar Müller über Michael Lentz und sieht keinen Widerspruch darin, dass kombinatorische Wortschöpfungen und Allerweltsfloskeln sich in seiner Sprache die Hand geben. Wenig angetan von der "eher matten Parodie" Lentz' weltgeschichtlicher Darstellungen, erklärt Müller den Text "muttersterben" für das "Zentrum seiner Prosa", da er hier, in der Todesthematik, "zu sich selbst" findet "und zu der Sprache, die er sucht". Scheinbar - aber nur scheinbar! - unbeeindruckt vom Tod, bricht Lentz mit den barocken Sprachtopoi, die sich im Todesdiskurs, in der "Rhetorik der Begräbnisredner und Bestattungsunternehmer" und im "christlichen Memento mori" gehalten haben, und in denen Lentz ein "heimliches Einverständnis mit dem Tod" wittert - ein Einverständnis, gegen das er "sprachspielerisch angeht", so der Rezensent. Der Witz, ewiger Widersacher des Todes, dient Lentz in diesem Feldzug als Waffe, meint Müller. Sprachskepsis und Religionsskepsis greifen ineinander und die Bibelzitate der barocken Totenklagen weichen der modernen Legende des Türhüters, wie sie in den Werken von Musil, Joyce oder Kafka zu finden ist.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 21.03.2002

Weniger Texte sind das, die Michael Lentz in diesem Band versammelt (darunter das beim Bachmann-Preis ausgezeichnete "muttersterben"). Eher, meint die Rezensentin Sigrid Scherer, so etwas wie "Skulpturen". In kurzer und kleiner Form, von "Momentaufnahmen" zu "Kurzerzählungen", gemeinsam haben sie am ehesten, dass der Tod fast überall eine prominente Rolle spielt. Schlimm genug, aber schlimmer noch dadurch, dass es vor allem um Leben geht, die "den Tod schon in sich" tragen. Der Prosastil ist auch danach: Erzählt wird kaum, statt dessen: "Detailanhäufungen, übersteigerte Präzision", Wörter, die nicht viel mehr sind als "tote Materie", wie Scherer formuliert. Jedoch, sie ist von diesem sich dem Verständnis immer wieder entziehenden "Wortrausch" sehr angetan, bewundert jedenfalls die Konsequenz, mit der der Dichter hier Sinn verweigert und vor allem "suggestiv, verspielt und selbstreflexiv" ist.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 20.03.2002

Hätte Michael Lentz im letzten Jahr nicht für seine Erzählung "Muttersterben" in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten, hätte der Fischer-Verlag nun diesen Band mit 25 Prosatexten sicher nicht verlegt, mutmaßt Ina Hartwig. Denn "sperrig" sei die Prosa des 37-Jährigen in Düren geborenen und heute in München lebenden Autors, störrisch und avantgardistisch, in der Zeichensetzung willkürlich, im Satzfluss wüst und schwierig. Seine Geschichten seien denn eher "Antigeschichten", geschrieben von einem, der gänzlich "unpsychologisch" vorgehe. Leider halte Lentz, den Hartwig für durchaus talentiert hält, diesen Stil nicht durch, was die Qualität seiner Texte dann doch einschränke. So etwa die über Paris, in denen er sich unvermittelt und recht überraschend einem Duktus verschreibe, den die Rezensentin nur mit biederen "Feuilleton-Plattitüden" gleichsetzen kann; ebenfalls kritikwürdig findet sie manch "ärgerliche" "Instantpoesie" eines "angry young man", die sich letztlich als reine "Selbstpathetisierung" erweise. Doch trotz so vieler Inkonsistenzen in Haltung und Stil ist Hartwig gespannt, wie sich Lentz literarisch weiter entwickeln wird.
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