Julia Franck

Die Mittagsfrau

Roman
Cover: Die Mittagsfrau
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
ISBN 9783100226006
Gebunden, 430 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

In der Lausitz verlebt Helene eine idyllische Kindheit, die mit Ausbruch des ersten Weltkriegs jäh endet. Der Vater wird nach Osten geschickt und kehrt nur zum Sterben nach Hause zurück, die jüdische Mutter zieht sich zunehmend vor den Anfeindungen ihrer Umgebung in die Verwirrung zurück. Blind am Herzen nennt Helene das und fürchtet die zunehmende Kälte der Mutter, die ihre Töchter kaum mehr wahrzunehmen scheint. Helene möchte Medizin studieren, ein ungewöhnlicher Traum für eine Frau zu Beginn des Jahrhunderts. Nach dem Tod des Vaters zieht sie Anfang der zwanziger Jahre mit ihrer Schwester Martha nach Berlin, und während Martha ihrer Freundin Leontine wieder begegnet, lernt Helene Carl kennen. Als der kurz vor der Verlobung stirbt,verliert sie den Sinn für das Dasein. Sie flieht in die Arbeit und will das Leben überleben. Auf einem Fest stellt sich ein gewisser Wilhelm vor, er ist begeisterter Ingenieur, der Reichsautobahnen bauen und Helene heiraten möchte. Die schnell scheiternde Ehe mit ihm führt Helene nach Stettin, wo ihr Sohn zur Welt kommt. Die Liebe, die der kleine Junge fordert, die Nähe, die er sucht, werden ihr zunehmend unerträglich, und bald schon geht ihr der Gedanke vom Verschwinden nicht mehr aus dem Kopf. Schließlich trifft sie eine ungeheuerliche Entscheidung.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2007

Nicht richtig anfreunden konnte sich Rezensent Nico Bleutge mit Julia Francks Roman über das Leben einer jungen Frau in der Zeit der Weltkriege. Helene verbringt ihre Kindheit zwischen der dominanten Schwester, dem liebenden Vater und der selbstbezogenen Mutter in Bautzen. Sie verliebt sich in einen feinsinnigen jüdischen Philosophen, dessen Unfalltod sie jedoch in die Ehe mit einem den Nazis zugetanen Ingenieur treibt. Eines Tages geht sie mit ihrem siebenjährigen Sohn zum Bahnhof, lässt ihn dort stehen, und verschwindet. Julia Franck rückt den zeitgeschichtlichen Kontext dieser Geschichte nicht in den Mittelpunkt. Nicht als historische Skizze deutet der Rezensent den Roman deshalb, sondern als Versuch, Grundsätzliches über "erlöschende Liebe und seelische Erkaltung" zu erzählen und die Tat der Protagonistin aus ihrer Biografie heraus verstehbar zu machen. Julia Francks sorgfältige Recherche und Strukturierung sagen ihm zwar zu, an ihrem Stil stößt er sich aber. Die Historisierung der Sprache, mit der die Autorin dem frühen 20. Jahrhundert auch stilistisch nahezukommen versucht, klingt ihm geziert wie in einem "schlechten Unterhaltungsroman". So aber unterlaufe der Stil die Zeitlosigkeit des Stoffs und mache Julia Franck zu einer reinen "Meisterin der Handarbeitskunst".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2007

Für die Besprechung dieses Romans nimmt sich Rezensent Edo Reents im Aufmacher der Buchmessenbeilage mit großem Anlauf des Großthemas Familie an - und fällt aus allen Wolken. Denn dass Familie nicht immer nur Verantwortung füreinander übernehmen heißt, wie es doch die Christdemokraten so schön definiert haben, das ist ihm, so scheint es, noch nicht recht unterkommen. Er findet den Roman von Julia Franck, den er ausführlich nacherzählt, ist, stellenweise ganz großartig, besonders die Ehe des Paares Wilhelm und Helene sei mit "nüchterner Härte" und beeindruckender "Differenzierungskunst" sehr gut beschrieben. Missfallen haben ihm manche Passagen über das Berlin der Zwanzigerjahre; man habe zu vieles schon zu oft gelesen. Trotz "stilistischer Mängel" hat ihn aber die Geschichte von den ungeliebten Kindern zweier Generationen und wie sie von der jungen Schriftstellerin erzählt wird, sehr beeindruckt.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2007

Tobias Rüther geht in seiner Besprechung in der Sonntags-FAZ ziemlich harsch mit Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau" ins Gericht, der das Thema Emanzipation und lesbische Liebe in der Zwischenkriegszeit behandelt. In erster Linie stört ihn Francks gestelzte Sprache, die noch die schrecklichsten Ereignisse wie Missbrauch, Vergewaltigung und Tod nicht wirklich beim Namen nennt. Er spricht in diesem Zusammenhang kritisch vom "Phänomen der wattierten Beschreibung" und der "Samtschatulle" von Francks Wortschatz, den er schließlich fast zum Lachen findet. Auch mit der Geschichte von Helene, die einen brutalen Nazi heiratet und ihren Sohn weggibt, weiß er nicht viel anzufangen. Auch warum die Autorin das Berlin der zwanziger Jahre noch einmal beschwören muss, zumal auf eine spießige, papierene Weise, die jeden Augenblick das Angelesene verrät, erschließt sich ihm nicht. Die männlichen Figuren wie auch die Begegnung der Geschlechter muten ihm klischeehaft an. Zum Ende hin stößt er auf Passagen, die er nicht nur für "traurig", sondern sogar für "ergreifend" hält, wenn etwa die innere Erstarrung Helenes geschildert wird. Aber das kann das Buch für ihn auch nicht mehr retten.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 29.09.2007

Mit Helene, der Protagonistin dieses Romans, hat die Literatur aus Sicht von Rezensentin Antje Korsmeier eine komplexe Frauenfigur hinzugewonnen. Dass Julia Franck das Abgründige im Weiblichen, die gesellschaftliche Außenseiterrolle der Frau nun an einer Mutterfigur verhandelt, findet die Rezensentin dabei besonders bemerkenswert. Es geht um eine Frau, die 1945 bei ihrer Flucht aus Pommern ihren siebenjährigen Sohn auf einem Bahnsteig aussetzt. Der Roman nun erzähle in einer langen Rückblende, "die kreisförmig zum Anfang aufschließt", wer die Frau sei, die zu einer so furchtbaren Tat fähig ist. Dabei bleibe Julia Franck immer wieder dicht dran an den Empfindungen und Wahrnehmungen ihrer Protagonistin. Doch durch geschicktes Verschieben der Blickwinkel gelinge es dieser Autorin, das Problem, dass die Hauptfigur mit Nähe und Distanz zu sich und anderen habe, auch formal zu gestalten. Der ganze Roman ist aus Sicht der Rezensentin inhaltlich und formal so gekonnt, dass Julia Franck auf manches Detail ruhig hätte verzichten können, da angesichts der Fülle mitunter der Verdacht der Effekthascherei und Aufgesetztheit entsteht. Insgesamt kann das die Begeisterung der Rezensentin aber kaum trüben.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 27.09.2007

Rezensentin Kristina Maidt-Zinke fühlt sich angesichts des opulenten historischen Romans von Julia Franck an ein Brötchen erinnert, dessen krosses Äußeres, sprich Prolog und Schlussteil, zwar durchaus überzeugt, im Inneren aber einen allzu weichen Kern offenbart. Der Roman spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und erzählt von einer Lausitzer Krankenschwester, die nach einem schweren Leben den kleinen Sohn im Nachkriegschaos einfach auf einem Bahnhof zurücklässt, fasst die Rezensentin zusammen. Der Roman hebt mit der Innenperspektive dieses Kindes an, und zunächst ist Maidt-Zinke durchaus eingenommen von der atmosphärischen Dichte und der sprachlichen Konzentration, die Franck hier an den Tag legt. Dann aber wird, für die Rezensentin viel zu ausladend und detailgetreu, die Lebensgeschichte der Protagonistin und ihrer Familie nachgeliefert. Klischees werden aufeinander gehäuft, zu intensiv, nämlich bis in die sexuellen Intimitäten spürt die Autorin den Beziehungen der Heldin nach, kritisiert die Rezensentin. Dazu kommen "sprachliche Ausrutscher". Auch wenn Fanck dann im Epilog noch mal zu beeindruckender Dichte in der Erzählung findet, hat Maidt-Zinke insgesamt das ungute Gefühl, hier sei für den Markt und zudem noch unachtsam geschrieben worden.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.09.2007

Einen zwiespältigen Eindruck hat Julia Francks neuer Roman bei Rezensent Christoph Schröder hinterlassen. Da ist vieles, was ihm einfach unausgegoren, durchwachsen, ja misslungen erscheint. Das Leidenspotential hinter den Erfahrungen der Hauptfigur Helene, die zahlreiche persönlichen Demütigungen zu erdulden hat und eine historisch düstere Zeit durchlebt, wirkt auf ihn wie eine "bloße Behauptung". Ihm fehlt hier nicht nur die Leidenschaft, sondern auch die "sprachliche Differenzierung". Überhaupt findet er Figuren wie Handlung immer wieder recht klischeehaft. Vor allem die Männerfiguren hält er für psychologisch wenig überzeugend, sie seien bloße "Pappkameraden". Obwohl ihm vieles missfällt, findet er den Roman aber nicht gänzlich misslungen. Denn gerade die letzten 100 Seiten sind in seinen Augen überaus intensiv. Als "gekonnt und berührend" lobt er hier Francks Beschreibung der Ehehölle Helenes mit ihrem egoistischen und tyrannischen Mann, die Drangsalierungen, Demütigungen und die "gleichgültigen bis brutalen Geschlechtsakte". Aus dem Buch hätte "mehr als nur eine gute Geschichte" werden können, resümiert der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 06.09.2007

Immer wieder sieht Rezensentin Katharina Döbler in diesem vierten Roman von Julia Franck den "Funken der großen Literatur" aufblitzen: in abgründigen schlichten Sätzen beispielsweise, in denen sich unterschwellig die latenten Zusammenhänge von Handarbeiten und Mütterbrutalität herstellen. Oder der "wunderbar stimmigen" Erzählung eines Achtjährigen vom Ende des Krieges. Dieser Roman habe viel, sei "heiß und kalt, grausam und idyllisch, sinnlich und sachlich" zugleich. Umso größer ist daher das Bedauern der Rezensentin, dass diese "feinfühlig erzählte" Nachkriegsfamiliengeschichte am Ende doch kein großer Roman geworden ist. Da sind zum einen sprachliche Mängel, die aus Sicht der Rezensentin einem unsorgfältigen Lektorat zuzuschreiben sind. Schlimmer findet die Rezensentin aber, dass es in diesem Roman über ein Kind, das von seiner Mutter im Stich gelassen wird, immer wieder Strecken gibt, bei denen sie sich dann vorkommt "wie im falschen Buch". Eben noch habe man etwas Großartiges, literarisch Neues gelesen, plötzlich stürze man ab in die Tiefen der Kolportage. Auch manches Handlungsmodul, manche Figur ist der Rezensentin zu nah am Klischee. Fürs Fernsehen allerdings, spekuliert sie, wäre eine Verfilmung dank publikumswirksamer Figuren und eingängiger Dialoge aber sicher ein Gewinn.