James Kelman

Spät war es, so spät

Roman
Cover: Spät war es, so spät
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2004
ISBN 9783935890212
Gebunden, 420 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Als der Ex-Häftling und Gelegenheitsdieb Sammy nach einem durchzechten Wochenende an einer Straßenecke aufwacht, kann er sich an die vergangenen zwei Tage kaum mehr erinnern. Auf dem Nachhauseweg provoziert er eine Schlägerei mit zwei Polizisten und wird unter Arrest gestellt. Dort wird er von den diensthabenden Beamten derart misshandelt, daß er erblindet. Nach seiner Entlassung versucht Sammy verzweifelt, mit seiner neuen Situation fertig zu werden, die sich jedoch nach und nach zu einem regelrechten Alptraum entwickelt. Seine Freundin ist spurlos verschwunden, und in der gemeinsamen Wohnung findet er ein Lager mit gestohlenen Waren vor. Da die Amtsärzte Sammy nicht glauben, dass er wirklich blind ist,weigert sich das Sozialamt, ihn als bedingt erwerbsfähig einzustufen und seine Bezüge anzuheben. Und zu allem Überfluss überwacht ihn die Polizei, da sie glaubt, Sammy habe Kontakt zu einer politischen Untergrundorganisation.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 16.09.2004

Dieser Roman des schottischen Autors James Kelman hat zwar 1994 den Booker Prize erhalten, aber seinerzeit auch große Diskussionen darüber ausgelöst, ob ein Buch, das im "tiefsten, wenn auch kunstvoll überhöhten Dialekt" verfasst wurde, dieses Preises überhaupt würdig ist, teilt Michael Schmitt mit. Die Handlung spielt im "proletarischen Milieu" Glasgows, in dem der trinkende und nichtsnutzige Sammy nach einem Alkoholexzess in eine Prügelei mit Polizisten gerät und plötzlich erblindet in einer Gefängniszelle landet, fasst der Rezensent zusammen. Im Verlauf des Romans schlägt sich dieser Sammy nun blind durch die Welt und der Leser, der ganz auf Sammys Wahrnehmung angewiesen ist, mit ihm, so Schmitt weiter. Stilistisch ist das Buch durch Flüche, Satzfetzen, Anrufungen und Popsong-Zitaten geprägt, die der Protagonist unreflektiert von sich gibt, beschreibt der Rezensent, der sich von den 400 Seiten andauernden "schnoddrigen, aufreizenden Verbalinjurien" gegen "alles und jeden" durchaus beeindrucken lässt. Er lobt Kelman sehr für die "bewundernswerte Plastizität", mit der er Sammys Streifzüge schildert, und stellt klar, dass es sich bei dem Roman keineswegs um eine "Tragödie" handelt, wie man glauben könnte, sondern vielmehr um einen "modernen Schelmenroman" in der Zeit nach Thatcher. Abschließend betont er die große Leistung der Übersetzerin Silvia Morawetz, die, wie er lobt, eine "flüssig zu lesende" deutschsprachige Fassung erschaffen hat, die sich an die "Sprache der Straße" anlehnt, ohne sich anzubiedern.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.2004

Den Sprachlosen eine Sprache zu geben sei eine Art Mission James Kelmans geworden, so schrieb ein Kritiker einmal, berichtet Rezensentin Marion Löhndorf. Und zu Recht, wie sie findet. Allerdings teilt sie nicht die Hymnen, die bei Kelman gleich Parallelen zu Kafka entdeckt haben wollen, auch wenn die Peiniger des Helden, des Kleinkrimellen Sammy, der nach durchzechter Nacht und Prügel durch Polizisten blind in einer Zelle erwacht, hier ebenfalls - und buchstäblich - gesichtslos blieben, und die abstrakte Bedrohlichkeit der Mächte, mit denen er konfrontiert sei, tatsächlich ähnlich universelle Züge trage. Sie lobt aber, dass Kelmans Sprache dem Bedrohlichen und Abgründigen die pathetische Spitze nehme, und ihm "makaber komische" Züge verleihe. Der Roman erhalte seine Originalität und Vitalität durch Kelmans scharfen Blick für die "Banalität des Tragischen": Sammy sei ein unschuldiges Opfer mit sentimentalen Zügen, eine chaplineske Tramp-Figur. Wo die deutsche Übertragung von Silvia Morawetz das um vieles rauere und vulgärere Original nicht ganz trifft, entschuldigt die Rezensentin dies im übrigen mit den "sicher zum Teil unlösbaren Schwierigkeiten", ein deutsches Äquivalent für Kelmans Mischung aus schottischem Dialekt und Vulgärsprache zu finden. Und so nennt Löhndorf als Schwäche dieses Romans schließlich einzig seine Überlänge.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 20.07.2004

Für Rene Zipperlen ist James Kelmans "Glasgow-von-unten-Roman" ein "literarischer Glücksfall". Zipperlen erinnert an den vorgeblichen "Skandal", den die Times vor zehn Jahren in Kelmans Auszeichnung mit dem Booker Prize sah; sie warf Kelman vor allem einen derben und obszönen Stil vor. Rezensent Zipperlen mag sich dem nicht anschließen: Zum einen findet er den Roman, der komplett in der "Sprache der Glasgower Unterschicht" gehalten ist, relativ harmlos - zumindest "verglichen mit dem Vorabendprogramm"; zum anderen entdeckt Zipperlen eine große "Virtuosität" im Ungang mit der derben Sprache, die das "Sag- und Unsagbare aus ihr herauskitzelt". Gerade durch diese Sprachvirtuosität werde die sonst in der Literatur ausgeblendete "Schicht von Verlierern der Dienstleistungsgesellschaft" authentisch erlebbar. Und so findet der Rezensent auch großen Gefallen an der Geschichte um den Kleinkriminellen Sammy, der nach einem "durchzechten Wochenende" mit einem Filmriss aufwacht, verprügelt wird, in Polizeiarrest gerät, erblindet und viele weitere Schicksalsschläge zu erdulden hat, ohne sich unterkriegen zu lassen. Für Zipperlen wird Sammy zum "existenzialistischen Helden am Rande der Gosse". Einziger Wermutstropfen ist für Zipperlen die Übersetzung: Zwar werde Übersetzerin Silvia Morawetz dem schnoddrigen Tonfall "einigermaßen gerecht", aber letztlich fehle das entscheidende Quäntchen, um den Roman "auch in der Übersetzung zu großer Literatur" zu machen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.05.2004

Obwohl Friedhelm Rathjen eine Menge an der Übersetzung dieses im schottischen Original seiner Meinung nach "grandiosen Buchs" auszusetzen hat, ist das Ergebnis für ihn immer "noch ein guter, sehr lesenswerter Roman". Der Protagonist Sammy, ein Kleinkrimineller, der sich gerade so durchschlägt, wird in der Folge eines Filmrisses und einer Schlägerei mit Polizei in Zivil blind und muss sein Leben neu ordnen. Bei dieser Aufgabe ihm zu folgen, das ist nach Meinung des Rezensenten eine sehr beeindruckende Erfahrung, vor allem durch den häufig erfolgenden Perspektivwechsel zwischen erster und dritter Person: "Die Unschärfe zwischen Ich und Er ist intendiert und sorgsam durchkomponiert", versichert der Rezensent. Die zu stark aufpolierte Übersetzung allerdings sorgt nach Rathjens Meinung dafür, dass man als Leser oft stolpert, weil "Sammys Sprache verquer klingt" - allerdings gesteht er der Übersetzerin Silvia Morawetz zu, dass es in der Tat unmöglich ist, den Glasgower Slang authentisch wiederzugeben.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.04.2004

Yvonne Gebauer hält sich in ihrer Kritik von James Kelmans Roman "Spät war es, so spät" an die Story: Ein Kleinkrimineller wird nach einem Vollrausch von zwei Polizisten eingebuchtet und misshandelt. Als er aus seiner Ohnmacht wieder zu sich kommt, ist er blind. Warum? Man weiß es nicht. Es folgt ein Passionsweg des Nichtverstandenwerdens. Seine Freundin ist auf und davon, auch das Sozialamt will nichts von ihm wissen, die Polizei hält ihn für einen politischen Verschwörer. Doch geht es nicht um das Was der Erzählung, sondern um das Wie, meint Gebauer: "Was in der Zusammenfassung wie eine sozialkritische Milieustudie erscheint, ist in Wahrheit eine zersplitterte Innenschau." Einer versucht verzweifelt, sein Leben zu ordnen. Ob das immer so lohnenswert ist? Die Rezension lässt diese Frage, findet aber zu dem Satz: "Die Sprache beschreibt Außenwelt, übt sich in Parlando und Blabla, um das Eigentliche zu verdecken. Sprachbewegung eben, rein mechanisch." Dass die Zuerkennung des Booker Prize vor zehn Jahren umstritten war, teilt die Rezensentin noch mit. Jedoch sei die Übersetzung von Silvia Morawetz sehr gelungen. Und dann findet Gebauer noch zu diesem Satz über den Romanhelden, der Hoffnung weckt: "Er ist der Letzte der Letzten, zu einem kriechenden Wurm geschrumpft, eingestampft von einer obskuren Gewaltmaschinerie."
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