Erwin Mortier

Marcel

Roman
Cover: Marcel
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001
ISBN 9783518412305
Gebunden, 118 Seiten, 15,24 EUR

Klappentext

Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Wenn die Lehrerin in die Dorfschneiderei kommt, um sich von der Großmutter "was Neues" nähen zu lassen, sitzt deren Enkel im Stoffballenversteck und sieht gebannt zu. Es wäre sterbenslangweilig auf dieser Welt, gäbe es die Anproben nicht ? und nicht die Geburtstage und Besuche der Verwandtschaft, bei denen mit Leidenschaft Nachbarn, Müllers Kuh, Kartoffelernte und Familienmitglieder durchgenommen werden. Oder, nach drei Gläschen, Marcel. Marcel, der nie heimgekehrt ist nach Flandern in seiner schwarzen Uniform und im Silberrahmenfoto einmal die Woche sorgfältig abgestaubt wird, ruiniert die Feststimmung gründlich. Schnell werden Rechnungen aufgemacht, wer wen damals "an die Deutschen verkauft" hat und "deswegen heute Mercedes fährt"...

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.2001

Ein bisschen dünn findet Susanne Staerk die Handlung, die Erwin Mortier in seinem Roman entwickelt. Es geht um einen Jungen, der eben diesem verschollenen Marcel wie aus dem Gesicht geschnitten ist, und das, obwohl dieser Marcel aus der offiziellen Familiengeschichte völlig getilgt wurde. Das Geheimnis um Marcel wird nicht wirklich gelüftet und auch von dem Empfindungen des Jungen angesichts dieses Phantoms, der wie ein Geist durch sein Leben schleicht, erfährt man kaum etwas, bemängelt die Rezensentin. Das einzige, was gegen Ende des Romans passiert, ist, dass der Junge seine Erinnerung an Marcel begräbt. Aber das als einzigen wirklichen Entwicklungsstrang in diesem Roman findet Staerk "ein bisschen wenig".
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 03.07.2001

Fast ausschließlich beschreibend nähert sich Jürgen Berger dem Debütroman von Erwin Mortier, der belgische Kollaborationsgeschichte im Flandern der Nachkriegszeit stringent aus der Perspektive eines Jungen erzählt. Für Berger eine "untergründige Erzählform", die sich nicht mit den "großen Fragen nach Schuld und Verantwortung" beschäftigt, sondern die Fortsetzung von Geschichte im Alltag schildert. Denn natürlich hat auch diese Familie einen dunklen Fleck in der Familienchronik, gibt es da einen Schatten aus der Vergangenheit, den Berger gleichfalls im Dunkel seiner Rezension lässt, aus der man nicht ganz schlau wird, ob ihm der Roman nun wirklich gefallen hat oder nicht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 15.05.2001

Nach Hans-Peter Kunisch ist Mortier hier ein "Bildungsroman eines kleinen Jungen" geglückt. Doch zunächst werde der Leser im Unklaren darüber gelassen, um welches Thema es hier in erster Linie geht. Dies kristallisiert sich, so Kunisch, erst nach und nach heraus, was er jedoch als besondere "Erzähl-Raffinesse" Mortiers betrachtet. Denn der Kinderblick des Jungen Marcel registriert auf seine eigene Weise die Spätfolgen sowohl der Kollaboration wie des Widerstands im Zweiten Weltkrieg, von denen das belgische Dorf bis in die siebziger Jahre hinein geprägt war. Dass der kleine Marcel dabei eine "weitgehend wertungsfreie Offenheit" zeigt, gehört für Kunisch zu den ausgemachten Stärken dieses Buchs, weil der Leser dadurch die Möglichkeit hat, seinen Unsicherheiten zu folgen, bald darauf aber auch "ein paar klare Fronten verschwinden" zu sehen. Insgesamt sei es Mortier gelungen, die belgische Vergangenheit und auch die Kollaboration, die die Stimmung im Land noch lange belastet hat, "undogmatisch neu in den Blick" zu nehmen. "Man möchte weiter lesen", findet Kunisch.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 05.04.2001

Peter Henning hatte schon vor der Lektüre hohe Erwartungen an den Romanerstling von Erwin Mortier. Fünf Preise hat der 1965 in Flandern geborene Autor für "Marcel" eingeheimst und landete in Belgien und den Niederlanden auf den Bestsellerlisten, informiert der Rezensent. Und zum Teil kann er sich den Lobpreisungen für Mortiers Verdrängungsgeschichte auch anschließen. So denkt Henning, dass der Autor ein "hochfeines Gespür" für die Risse und Verwerfungen im Innenleben seiner Figuren hat. Als begabter Miniaturist habe Mortier eine kleine Weltbühne voller Einzelporträts geschaffen, die der Drang nach vorsätzlichem Vergessen eint. Doch genau diese Fülle an detailreichen Personenbeschreibungen hat dem Rezensenten auch missfallen. Denn die Porträts erscheinen ihm unverbunden. Mortier, meint Henning, hat vor lauter Konzentration auf die Feinheiten seiner Figuren die Dynamik der Geschichte aus den Augen verloren.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 10.03.2001

Ausgesprochen gelungen findet Roman Bucheli Erwin Mortiers mit vielen Auszeichnungen bedachten Debütroman. Mortier beschreibt aus Sicht eines Kindes einen trägen, aber trotzdem intensiven und ereignisreichen Sommer bei der Großmutter auf dem Land. Es entfalten sich Familienverwicklungen um einen jungen Mannes herum, der ein Bruder der Großmutter und flämischer Nazikollaborateur war, und dem der Junge sehr ähnlich sieht, von dessen Schatten er sich aber zum Schluss befreit. Bucheli ist begeistert davon, wie subtil sich Mortier im Ambiente einer "abgründigen Idylle" dieser komplexen und heiklen Thematik nähert und dem Stoff Leichtigkeit gibt, "im Wissen darum, dass die großen Dramen der Geschichte oft nur im Spiegel der Dramolette zu Literatur geformt werden können."

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