Durs Grünbein

Vom Schnee

oder Descartes in Deutschland
Cover: Vom Schnee
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
ISBN 9783518414552
Gebunden, 144 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

"In welchem schneebedeckten Jahrhundert, mit Fingern / Steif auf bereifte Scheiben gemalt, erschien dieser Plan / Zur Berechnung der Seelen?" schrieb Durs Grünbein vor Jahren in einem Gedicht mit dem Titel "Meditation nach Descartes". Der Held und das Leitmotiv des Gedichts sind nun zurückgekehrt in Form einer langen Eloge auf den Philosophen. Mehrere Winter lang hat der Autor an einem Poem gearbeitet, das jetzt vollständig vorliegt mit seinen 42 Cantos, die den Kapiteln eines Romans entsprechen. Vom Schnee umkreist jenen Moment im Leben des Rene Descartes, da dieser im Winter des Jahres 1619 in einem süddeutschen Städtchen, einer Vision gehorchend, zu philosophieren beginnt. Das Erzählgedicht endet mit dem plötzlichen Tod des Philosophen in einem anderen Winter, dreißig Jahre später.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 26.11.2003

"Es ist, als könne man Descartes neu entdecken, ja, sogar verstehen." Für Jürgen Verdofsky ist dies das Besondere an Durs Grünbeins Erzählgedicht. Descartes Zeit in Deutschland bildet den Rahmen für eine "Gelehrtengeschichte in ihren Auf- und Abschwüngen, ohne dass etwas stockt", erklärt der Rezensent. Vor einem epischen Hintergrund gleite Grünbein einige Male ins Szenische ab, der Blankvers aber trage die Form über die ganzen dreitausend Verse hinweg. Der Dichter wechsele fließend zwischen abstraktem Denken und dem prallem Leben in der Vorphase des Dreißigjährigen Krieges, alles vorgetragen in einer "klarschönen, auch sinnlichen" Sprache. Respekt und Anerkennung also von Verdofsky, der Grünbein sogar zutraut, mit diesem Versepos eine Renaissance der Gattung einzuleiten.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 08.11.2003

Als präventive Verteidigungsschrift gegen die Grünbein-Verächter unter den Gebildeten legt Thomas Steinfeld seine Rezension dieses Gedichts in 42 Cantos an. Entsprechend überschwänglich fällt sie aus: Als "Virtuose der lyrischen Form" wird Grünbein gepriesen, gewählt habe er einen "großartigen, hinreißend schönen und erstaunlich lebendigen Stoff" - nämlich nicht weniger als Leben und Denken Rene Descartes. Zwischen Leib und Verstand, zwischen sinnlicher Konkretion und nicht beendbarem Gegrübel werde der Philosoph hier verortet, in "mitreißenden Bildern", in einem ohne formale Pedanterie ausgeführten Alexandriner-Rhythmus, der den Text in einen "sehr melodisch plätschernden Bach" verwandele. Gänzlich überzeugend findet Steinfeld auch die "kühne, aber überaus treffende Metapher" vom Schnee, der die im grundlegenden Zweifel angestrebte Schärfe des Denkens in grundlose Ununterscheidbarkeiten verwandele. Nur eins muss Steinfeld, nach der Hymne, die er gesungen hat, am Ende doch anmerken: Der formale Klassizismus des ganzen Unternehmens bleibe ein nicht wegzudiskutierendes, ja nachgerade problematisches Faktum. Ungestraft fällt ein Dichter in dieser Manier denn doch nicht aus der Zeit. Dieser große Gesang bewegt sich für Steinfeld deshalb in bezaubernder Weise mitunter in "beklemmender Nachbarschaft zum Kitsch".
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.10.2003

Andreas Nentwich widmet dieser langen Verserzählung, in der dichterisch nacherzählt werde, wie Descartes im Winter 1619 in Deutschland zu der Überzeugung des "Zweifels als Ursprung der Erkenntnis" gelangte, eine eingehende Besprechung. Grünbein hat Descartes in den 42 Versen, die nur zum Teil gereimt sind und mitunter "fröhlich" unreinen Versmaßen folgen, einen fiktiven Diener zur Seite gestellt, der mit dem Philosophen disputiert und den "gemeinen Menschenverstand" vertritt, der nur glaubt, was er sieht, fasst Nentwich zusammen. Er gesteht zwar freimütig ein, dass der Autor als "ewiger Klassenprimus des erkenntnistheoretischen Zweifels" und im minutiösen Festhalten jeder "Sorgenfalte seines 'babylonischen Hirns'", wie er spöttisch formuliert, mitunter durchaus etwas "enervierend" sein kann. Trotzdem muss Nentwich eingestehen, dass die enorme "Assoziationskraft" Grünbeins einfach "atemberaubend" ist, und das findet er in diesem Langgedicht wieder einmal unter Beweis gestellt. Wunderbar gefallen hat ihm auch die "Situationskomik in Hülle und Fülle". Er betont, dass es für Grünbein keinen Gedanken gibt, der bei ihm nicht "ins Bild schlägt". Grünbein feiert in diesem Erzählgedicht "orgiastisch" die Erkenntnistheorie von Descartes, gleichzeitig aber "unterläuft, konterkariert" er sie durch die sinnliche Erfahrung, die in der "Flut von Bildern" zum Ausdruck kommt, so Nentwich beeindruckt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 07.10.2003

Angelika Overath überlässt das endgültige Urteil über Durs Grünbeins Poem zu Descartes vorsichtig den Enkeln. Gewichtig erscheint ihr das "unbescheidene, formstrenge" Werk allerdings allein durch seinen Umfang: 42 Gesänge zu je sieben Strophen mit je zehn Zeilen. Overath hat Grünbeins "kühl inszenierten, postbarocken Flirt mit dem Alexandriner" offensichtlich genossen. Einigen Passagen der Kritik merkt man dann auch deutlich die Beeinflussung und Anregung durch den gerade konsumierten Reichtum an Wörtern und Szenerien an, die die Rezensentin als "melancholisch-heiter wie eine holländische Winterlandschaft, grundsätzlich wie ein flämisches Stilleben, irritierend wie ein Trompe l'Oeil" charakterisiert. Auf die Dauer aber kann man in dem "intellektuellen Schneesturm" leicht die Orientierung verlieren, gibt Overath zu. Denn Grünbein vernachlässige bei aller Üppigkeit den erzählerischen Rahmen, wodurch die Gesänge gegen Ende hin eine "dahinrollenden Beliebigkeit" erhalten, so die Rezensentin. Sie vermisst den für eine Erzählung notwendigen Spannungsbogen.