Abdulrazak Gurnah

Die Abtrünnigen

Roman
Cover: Die Abtrünnigen
Berlin Verlag, Hamburg 2006
ISBN 9783827005786
Gebunden, 350 Seiten, 22,90 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries. Afrika, frühe fünfziger Jahre: Der ganze Kontinent wird von Aufständen gegen die koloniale Fremdherrschaft erschüttert. Inmitten dieser politischen Umwälzungen wachsen in Sansibar die Geschwister Amin, Rashid und Farida auf. Amin verliebt sich in die einige Jahre ältere Jamila, und es beginnt, zunächst heimlich, eine große, leidenschaftliche Liebesbeziehung, die aber schon bald am Widerstand seiner Familie und an den gesellschaftlichen Zwängen zu zerbrechen droht. Denn um die geheimnisvolle Jamila ranken sich allerlei Gerüchte: schon einmal sei sie verheiratet gewesen, ihr Mann habe sie verstoßen, ein Fluch liege auf ihrer Familie. Im Strudel der Revolution müssen die drei Geschwister voneinander Abschied nehmen. Rashid geht nach Europa, es werden Jahrzehnte vergehen, bis er seine Familie wiedersieht. Doch das tragische Schicksal seines älteren Bruders lässt Rashid auch im fernen Europa nicht los, und er begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn tief in die afrikanische Kolonialgeschichte führt - und schließlich das Geheimnis um Jamilas Familie lüften lässt: Auch ihre Großmutter hatte einst für eine verbotene Liebe alles riskiert...

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 15.05.2023

Ein wenig verhalten wirkt die Begeisterung von Rezensentin Sylvia Staude für diesen Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, der im englischen Original bereits 2006 erschien. Als einen Roman, der britischen Imperialismus und Kolonialismus in Sansibar zum Thema hat, findet sie ihn für Europäer "heilsam", aber sie erkennt auch seine konventionelle Erzählform, die Vielzahl an Personen und Geschichten, die mitunter etwas oberflächlich bleiben. Tiefgründiger wird es Staude zufolge im dritten Teil des Romans, wenn Gurnah mit dem nach England geschickten Studenten Rashid die eigene Erfahrung des Exils verarbeitet.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 12.05.2023

Stark findet Rezensent Cornelius Wüllenkemper den Roman des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah aus dem Jahr 2006. Anhand von zwei Familien und drei Generationen erzählt Gurnah laut Rezensent von den sozialen, kulturellen und emotionalen Verwerfungen im britischen Protektorat Kenia um 1900. Das Kolorit und die verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen arrangiert der Autor dabei behutsam und stimmig, versichert Wüllenkemper. Der alltägliche Rassismus und das Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern werden für den Rezensenten ebenso deutlich wie ihr Nachwirken auf spätere Generationen. Dass es Gurnah außerdem gelingt, vor diesem Hintergrund die unmögliche Liebesgeschichte zwischen einem Briten und einer Inderin zu erzählen, scheint Wüllenkemper bemerkenswert.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 22.04.2023

Kritiker Marko Martin regt sich auf über diejenigen, die zu eindimensional über Fragen (post-)kolonialer Literatur nachdenken und kennt zum Glück ein Gegenmittel: Einen Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, der nach siebzehn Jahren auf Deutsch neu aufgelegt wird. Es geht, verrät Martin, um die Insel Sansibar, die ebenso kolonialisiert ist wie kolonialisierend, im Fokus steht ein Geschwisterpaar, bei dem die Schwester, Rehana, der ostafrikanischen Insel entflieht, weil sie all die komplexen Widersprüche zwischen Fortschrittlichkeit und Unterdrückung nicht mehr aushalten kann. Diesen Handlungsfaden nimmt Gurnah ein halbes Jahrhundert später mit einem weiteren Auswanderer wieder auf, der auf die Enkelin von Rehana trifft und sich zur schwierigen Historie sowohl seiner Heimatinsel als auch dem britischen Empire Gedanken macht, erzählt der Rezensent. Für ihn zeigt der Nobelpreisträger in diesem Buch einmal mehr seine Fähigkeit zum soghaften Schreiben und den unbedingten Willen zum "(Wieder)Geben von Namen", der der Arroganz jener, die abschätzig vom "globalen Süden" sprechen, die Stirn bietet, schließt der überzeugte Kritiker.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 24.02.2007

Großen Eindruck hat der sechste Roman Abdulrazak Gurnahs bei Rezensent Tobias Rapp hinterlassen. Der britische Literaturprofessor und "brillante Erzähler" vermittele darin "kunstvoll" und, wie sich Identitäten in unseren postkolonialen Zeiten herstellen. Der Roman erzählt Rapp zufolge "eine doppelte Liebesgeschichte". Die eine spiele um 1900 zwischen einem britischen Orientalisten und einer Kenianerin namens Rehana und scheitere am Ende, trotz eines gemeinsamen Kindes. Protagonisten der zweiten, ebenfalls scheiternden Liebengeschichte fünfzig Jahre später seien der Erzähler und die Enkelin der unglücklichen Rehana. Im Spannungsverhältnis dieser beiden Liebessgeschichten macht der Autor offensichtlich sehr eindringlich nachvollziehbar, wie sich der Kolonalismus in die Seelen der Menschen gegraben hat und jenseits ihres Willens ihr Handeln und Fühlen steuert. In seine Kernerzählung flechte Gurnah auch viele weitere Geschichten ein, die für Rapp die postkoloniale Tragödie insgesamt ausgesprochen ergreifend nachvollziehbar machen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 20.01.2007

Als "großes Werk" feiert Rezensent Heinz Hug diesen Roman des aus Sansibar stammenden Schriftstellers. In seinem "komplex" komponierten Roman verhandele Abdulrazak Gumah das Thema Identität, und zwar unter dem Blickwinkel seiner Konstituierung unter den Bedingungen des Kolonialismus. Die Handlung setzt Hug zufolge im Jahr 1899 mit einem kolonialismuskritischen englischen Orientalisten ein, der sich in die Schwester seines kenianischen Gastgebers verliebt. An einer weiteren "unmöglichen Liebe" viele Jahrzehnte später spiele Gumah ein zweites Mal seine Reflexionen und Gedanken über Identitätskonzepte und ihr kolonialistisches Wertegefälle durch. Hier erhält der Rezensent - neben einem offensichtlich sehr intensiven Leseerlebnis - spannende und erhellende Einblicke in verschiedene soziale Sphären, besonders der Kisuaheli- und Muslimkultur in Ostafrika. Und zwingende, hautnahe Beschreibungen der Ursprünge von Konflikten, die bis heute das Zusammenleben der Kulturen trüben. Auch die deutsche Übersetzung erfährt als "trefflich" ihre Würdigung.