Vorworte

Leseprobe zu Uri Jitzchak Katz: Aus dem Nichts kommt die Flut

Über Bücher, die kommen.

Zurück zu Angela Schaders "Vorwort".

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Im Blick auf die Aktualität haben wir einen Ausschnitt aus der im "Vorwort" erwähnten großen Debatte in Jaffa als Leseprobe gewählt. Um die Lektüre zu erleichtern, werden die auftretenden Personen - sofern sie nicht bereits im "Vorwort" erwähnt oder innerhalb der Leseprobe genügend identifiziert sind - hier in der Reihenfolge ihres Auftretens kurz vorgestellt.

Clayton: Mitarbeiter des britischen Criminal Investigation Department C.I.D.
Leila: Freundin und Lebensgefährtin von Jitzchaks arabischem Freund Khalil. Die hochgebildete Frau ist Tochter eines jüdischen Vaters und einer muslimischen Mutter und lebt in Jaffa.
Abed ar-Rauf: der arabisch-muslimische Bürgermeister von Jaffa.
Abd al-Qadir al-Husseini: der Vater von Khalils erster, verstorbener Ehefrau, aktiv im Widerstand gegen die israelischen Siedler.
Peter: Sohn eines mit Leila befreundeten arabisch-schweizerischen Ehepaars.
Lord Harold: wird von einem der Anwesenden wohl etwas schönrednerisch als "Journalist und Diplomat Ihrer königlichen Majestät" eingeführt.
Fahri und Hamudi: Die beiden Studenten sind Brüder und stammen aus einer christlichen libanesischen Familie.
Iskandar: ein maronitischer Christ, ebenfalls aus Libanon.


Der C. I. D.-Mann klopfte ihm jovial auf den Rücken. "Woher bist du?", fragte er, als Jitzchak wieder Luft bekam.

"Aus Kfar Etzion, das ist ein religiöser Kibbuz am Berg … "
 
" …  am Berg Hebron", sagte der Engländer zu Jitzchaks Überraschung.

"Was soll das heißen, ein religiöser Kibbuz?", fragte die Tochter des französischen Konsuls.

"Das ist ein Kibbuz, in dem alle Mitglieder gläubige Juden sind, Kippa tragen und die Gebote halten", erwiderte Jitzchak auf Französisch.

"Ich dachte, die Zionisten sind nicht religiös. Die, die ich im Konsulat sehe und in Tel Aviv, sind es kein bisschen. Auch du siehst überhaupt nicht aus wie diese Schwarzgekleideten in Jerusalem."

"Auch unter den Zionisten gibt es Religiöse", gab Jitzchak zurück und rückte instinktiv die Kippa auf seinem Kopf zurecht.

"Ein religiöser Kibbuz ist wirklich eine ziemlich kreative Erfindung der Juden, zwei widersprüchliche Strömungen zu vereinen", sagte Leila.

"Widersprüchlich?", wunderte sich Jitzchak leise.

"Es besteht doch ein Widerspruch zwischen den Zionisten, die das Land erlösen wollen, und den Strenggläubigen, die untätig dasitzen und auf die Erlösung warten. Ein religiöser Kibbuz ist eine Kreuzung zwischen Prädestination und Entscheidungsfreiheit des Menschen."

"Ist denen nicht heiß im Sommer, in ihren schwarzen Sachen?", fragte die Tochter des Konsuls, um zum Thema zurückzukehren, das sie offenbar mehr interessierte.

"Warum ausgerechnet am Berg Hebron?", fragte sich dagegen Abed ar-Ra'uf, der, obschon er sein Jackett abgelegt hatte, noch immer verschwitzt wirkte. "Warum errichtet man ein jüdisches Dorf inmitten einer rückständigen, dörflichen arabischen Bevölkerung? Die Araber in den Bergen Jerusalems sind nicht gebildet und aufgeklärt wie die in Jaffa. Sie sind primitiv. Und Khalil, mein Freund, verzeih mir, aber auch dein Schwager und all die Hadsch Amins sind nicht bereit, eine Meinung gelten zu lassen, die nicht ihre eigene ist. Viele der Araber, die sich ihnen widersetzt haben, sind auf jeden Fall nicht in ihren Betten gestorben." Er goss allen nach und presste dabei verächtlich hervor: "Abd al-Qadir ist ein tumber, kriegslüsterner Bauer, der im Leben noch kein Buch in der Hand gehabt hat."

"Von einem Gläschen Cognac ganz zu schweigen." Khalil hob sein Glas und nahm einen Schluck.

"Abd al-Qadir al-Husseini ist Ihr Schwager?" fragte Clayton neugierig.

"Mein ehemaliger Schwager", gab Khalil zurück. "Seit ich verwitwet bin, bin ich an niemanden mehr gebunden."

"Ich weiß nicht, ob mich das kränken oder ärgern soll", sagte Leila mit halb gekränktem, halb verärgertem Blick.

"Wo würdet ihr denn meinem Freund Isak raten, sich niederzulassen?", fragte Khalil in die Runde, um der missgestimmten Frau und dem neugierigen C. I. D.-Mann das Wort abzuschneiden.

"Warum nicht hier in Jaffa?", schlug Peter mit typisch schweizerischer Neutralität vor. "Im Viertel Dschabalija gibt es reichlich freie Flächen, in der Nähe der Obstplantagen."
 
"In Dschabalija?" Der Bürgermeister schien überrascht.

"Ein religiöser Kibbuz im Herzen einer arabischen Stadt, so was hat es noch nicht gegeben", rief Leila und hob ihr Glas. "Auf den Kibbuz Dschabalija!"

"Auf den Kibbuz Dschabalija!", riefen alle und leerten ihre Gläser.

"Eigentlich ist es egal, welchen Ort ihr wählt", eröffnete der Bürgermeister Jitzchak vertraulich, als sich der Trubel ein wenig gelegt hatte. "Wo immer ihr euch entscheidet, in unserem Land zu siedeln, ihr seid herzlich willkommen."

"Denken Sie nicht, die Juden werden eine eigene Souveränität anstreben?", fragte Clayton.

"Ein jüdischer Staat könnte auf Dauer nicht inmitten dieses großen arabischen Meeres existieren und würde das Schicksal der Kreuzfahrerstaaten teilen", prophezeite der Bürgermeister. "Aber uns, den aufgeklärten Arabern, obliegt die Pflicht, diese jüdische Einwanderung exzellenter, talentierter Menschen willkommen zu heißen und sie im Schoß des großen Arabiens aufzunehmen. Das sind gebildete Leute des Buchs, vielsprachig und professionell. Die Juden haben die Länder des Islams, in denen sie ansässig waren, immer vorangebracht, von Spanien bis Bagdad. Die Juden müssen sich im arabischen Nahen Osten assimilieren, so wie sie es in den arabischen Staaten tun, wo ihnen von Königen königliche Ehren zuteilwerden. Ja, die Juden müssen arabische Musik und Speisen übernehmen und nicht das fade, gräuliche europäische Essen, das nichts in dieser Weltregion zu suchen hat. Anderenfalls werden sie hier immer ein Fremdkörper bleiben." Womit er sich und Jitzchak einen weiteren Arak eingoss.

Lord Harold erwachte derweil aus einem kleinen, berauschten Nickerchen. "Hätten die Juden nicht unter anderen Völkern gelebt, hätten sie niemals so lange überdauert. Ohne äußeren Feind bringt ihr euch doch gegenseitig um", belehrte er Jitzchak.

"Ich denke, Sie unterschätzen die Zionisten ein wenig", meinte Clayton zu dem Bürgermeister, wobei er den leicht antisemitischen Kommentar des Lords einfach ignorierte und stattdessen eine Analyse der nahen Zukunft lieferte. "Der Zionismus hat drei Stoßrichtungen: eine politische, eine militärische und eine extremistische. Und alle drei haben ein Ziel - das gesamte biblische Land Israel zu kontrollieren, einschließlich Transjordaniens und des südlichen Teils von Syrien, vielleicht sogar auch den Südlibanon. Uneins sind sie nur hinsichtlich der Umsetzung und Erreichung dieses Ziels."

"Libanon?" Fahri, der libanesische Student, schien konsterniert.

"Die politische Führung wird versuchen, palästinensisches Land zu erwerben und vollendete Tatsachen zu schaffen, um irgendwann ein Komitee der Vereinten Nationen zu beeinflussen, das über eine Teilung des Landes zu entscheiden hat", fuhr Clayton fort. "Die Militärs, sprich die Hagana und vielleicht auch Teile des Etzel, wollen dasselbe - nur schneller. Sie werden versuchen, die Araber in Angst und Schrecken zu versetzen, und sie so lange terrorisieren, bis sie aus ihren Häusern flüchten."

Der Bürgermeister schnaubte verächtlich, er werde sein Haus niemals verlassen.

"Und die Extremisten?", fragte Leila.

"Die werden wahrscheinlich etwas Extremes anstellen", sagte Clayton ohne auch nur die Andeutung eines Lächelns. "Alle wissen, was es sein wird, aber keiner weiß, wann." Dieser letzte Satz war an Jitzchak gerichtet, als appellierte der Engländer an ihn, keine extremistischen Taten zu begehen oder zumindest der politischen Führung eine entsprechende Botschaft zu übermitteln.

"Aber sind Sie nicht der Ansicht, die Juden haben ein Anrecht auf einen eigenen Staat?", fragte Peter den Bürgermeister ar-Ra'uf, doch noch ehe dieser dazu kam zu antworten, mischte sich Fahri ein, der von Idealen durchdrungene Student: "Der Zionismus ist eine kolonialistische Invasion, genau wie die spanische Invasion nach Südamerika oder das Vordringen der Belgier nach Afrika oder von euch Engländern nach Asien." Er warf Clayton einen Blick zu und wandte sich dann wieder an Jitzchak, sah ihm in die Augen. "Der Zionismus ist Kolonialismus unter dem Deckmantel eines biblischen Anspruchs, der längst nicht mehr besteht. Die Zionisten versuchen, sich als so eine Art amerikanische Pioniere auszugeben, die loszogen, den Westen zu besiedeln, friedliebende Cowboys. Aber nicht, dass wir uns täuschen: Frieden brachten die Siedler dem Westen keinen. Es war der Goldrausch, der sie anlockte."

"Man kann wohl schwerlich behaupten, die Jagd nach dem Gold habe die Zionisten hergebracht", verteidigte Peter die ins Land gekommenen jüdischen Einwanderer.

Der Lord hielt abermals eine ganze eigene Erklärung parat: "Sie sind hergekommen, damit niemand ihnen das Gold abnimmt, das sie so viele Jahre den Europäern gestohlen haben. Auf dem Rücken der Einheimischen haben sie sich dort bereichert."

"Warum können nicht alle hier zusammenleben?", fragte die Tochter des französischen Konsuls und sah ihren Schweizer Freund mit weit aufgerissenen Augen an, der, auch wenn er eine Antwort darauf gehabt hätte, diese beim Anblick ihrer Augen gewiss wieder vergessen hatte. "Schaut doch nur, wie wir hier alle miteinander auskommen - Juden, Christen, Muslime aus Europa, Afrika und Asien, die trinken und ägyptische, jordanische und französische Gerichte genießen und dazu in einem Sprachengemisch reden wie im Turm von Babel", fuhr sie fort, und Jitzchak fragte sich, ob er ihr erzählen sollte, wie die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel geendet hatte.

"Die Juden haben Angst, die arabische Mehrheit könnte Gesetze erlassen, die sie unterdrücken, während die Araber Angst haben, die Juden könnten ihre politischen Kontakte in alle Welt nutzen, um sie um ihr Land zu bringen", lieferte Clayton eine wenig Hoffnung machende Erklärung.

"Die Juden wären ja mit einer Teilung des Landes einverstanden, doch die Araber sind es, die eine solche ablehnen", sagte Peter.

"Und warum sollten wir dem zustimmen?", insistierte Fahri. "Das ist ja wie beim salomonischen Urteil … Die Juden sagen: Teilt das Land in der Mitte durch. Aber wir sind die echte Mutter des Säuglings, wir würden eher sterben, als darauf zu verzichten."

"Was ist das, das salomonische Urteil?", fragte die Tochter des französischen Konsuls, die noch immer auf Peters Schoß saß.

Fahri wollte schon antworten, doch Khalil kam ihm zuvor: "Lass meinen Jungen das erklären", sagte er und wies auf Hamdha, der in recht gutem Französisch begann, die Geschichte von König Salomons Urteil zu erzählen. Als er geendet hatte, applaudierten alle, und Khalil strich seinem Sohn liebevoll über den Kopf, umarmte und küsste ihn. Bemerkenswert war, dass anders als Kinder seines Alters sonst sich der Junge nicht gegen die Zärtlichkeitsbekundungen wehrte oder deshalb beschämt gewirkt hätte.

"Also wer einverstanden ist, das Land zu teilen, liebt es nicht wirklich?", fragte die Tochter des Konsuls und sah dabei Jitzchak an.
 
"Um einen Krieg zu verhindern", murmelte Jitzchak.

"Eine Mitzwa, die mit einer Übertretung einhergeht*", sagte Leila auf Hebräisch zu Jitzchak und lächelte.

"Die Zionisten haben dieses Land entwickelt wie noch niemand zuvor. Sie haben Städte errichtet, Kibbuzim, haben Sümpfe trockengelegt. Jahrhunderte haben die Araber hier gesessen und so gut wie nichts getan", stellte Peter fest und ließ dabei alle Neutralität fahren, zu der ihn seine Herkunft eigentlich verpflichtete.

"Die Araber sind faul", polterte der Lord, als wollte er zeigen, dass seine antisemitischen Ressentiments zu gleichen Teilen auf alle verteilt waren, die keine Briten waren.

"Nicht faul - geruhsam", korrigierte Hamudi. "Oder habt ihr schon mal versucht, einen Sumpf trockenzulegen, nachdem ihr Lamm gegessen habt? Shwaje, shwaje**."

Alle lachten.

"Aber von Lamm versteht ihr was", gestand der Lord zu und hielt nach dem Braten Ausschau. Als er ihn auf dem Tisch nirgends entdecken konnte, streckte er Leila sein Glas hin mit der Bitte, einen weiteren Whiskey eingeschenkt zu bekommen.

"Tut mir leid", sagte Leila. "Das ist meine faule Seite." Doch Jitzchak nahm ihr die Flasche aus der Hand und goss dem Engländer ein.

"Die Kurzsichtigkeit und der fehlende Realismus der Juden wie der Araber gleichermaßen erstaunen mich", meinte der Lord versöhnlich, als er einen neuen Drink in der Hand hielt. "Beide haben noch nie auf die Logik gehört, und jetzt, im Angesicht der Resultate ihres Irrsinns, können sie diese noch immer nicht sehen." Alle am Tisch blickten ihn erstaunt an ob der bestechenden Logik seiner Worte, vor allem aber, da diese zur Abwechslung mal keinerlei rassistisches oder beleidigendes Beiwerk hatten. "Ich nehme daher an, die Geschichte wird sich wiederholen: Die Juden werden für den eigenen Untergang sorgen und die Araber zurück in ein rückständiges feudales Regime versinken", fuhr der Lord fort und versetzte so dem Zuber Respekt, den er soeben erworben hatte, einen Fußtritt.

"Und warum bist du hergekommen, Isak?", fragte Iskandar, um die Diskussion von der nationalen auf die persönliche Ebene zu befördern.
 
Jitzchak drehte sich der Kopf. "Um der Einberufung durch die Armee des Kaisers zu entgehen", sagte er auf Hebräisch, vom Alkohol zu entwaffnender Ehrlichkeit verleitet.

"Na, das hast du ja gut hinbekommen!" Khalil lachte herzlich. "Er ist vor den europäischen Kriegen geflüchtet und in die hiesigen geraten", übersetzte er auf Arabisch für die Runde, die das mit lautem Lachen quittierte. Selbst der britische C. I. D.- Agent lächelte.
 
"Inta madjnun!***" Hamudi schenkte Jitzchak ein Lächeln.
 
"Und du, meine Schöne", wandte sich Iskandar an Leila. "Als Repräsentantin beider Völker - für wen bist du?"

Leila holte tief Luft und sagte mit ihrer tiefen und gelassenen Stimme: "Was ist so beängstigend an einem binationalen Staat? Wozu brauchen wir überhaupt eine Nationalität? Wir alle haben doch gesehen, wohin der Nationalismus in Europa geführt hat - zu zwei Weltkriegen. Vielleicht ist es an der Zeit, den Nationalismus mal beim Rezept für den Kuchen wegzulassen?" Sie legte eine Pause ein, in dem Wissen, dass niemand sie unterbrechen würde. "Ich bin aufseiten der Hellenisten. Und ich bin gegen die Zeloten, gegen die Makkabäer, die Sikarier mit ihrem 'Soll meine Seele mit den Philistern sterben', bin gegen die, die in Massada den Freitod wählten, bin gegen Bar Kochbas Aufständische. Ich bin aufseiten derjenigen, die sich integrieren wollen, die Teil dieses Landes sein wollen und nicht Teil irgendeiner Nation."

*    Diese Formulierung erscheint wiederholt im Roman und wird an einer voraufgehenden Stelle erklärt. Mitzwot sind religiöse Gebote, welche die Pflichten der Gläubigen formulieren; ein streng religiöser Mitbewohner des Kibbuz erklärt Jitzchak, es könne aber vorkommen, dass eine Mitzwa einen eine Übertretung begehen lasse: "Nicht selten wird Gebrauch von dieser Argumentation gemacht, um Sünden für rechtsgültig zu erklären. So im Sinne von 'das Ziel heiligt die Mittel'. Etwas stehlen, um Almosen zu verteilen, zum Beispiel."
**     Arabisch: "Langsam, langsam"
***    Arabisch: "Du bist verrückt"

Alternative Leseprobe

Jitzchaks Geschichte

Unsere Leseprobe setzt Ende 1947 ein, nach dem Entscheid der Uno über die Teilung Palästinas nehmen die Spannungen zwischen jüdischen Siedlern und der arabischen Bevölkerung zu. Die beiden Männer, mit denen Jitzchak im ersten Teil der Leseprobe unterwegs ist, sind Dov, der Sekretär des Kibbuz Kfar Etzion, und Avraham, der Vorsteher des Kibbuz.

Schon am Anfang des Winters wusste Jitzchak, er würde sterben. Blieb nur noch herauszufinden, wie und durch wen. In einem Augenblick, den man vielleicht als Offenbarung bezeichnen könnte, sah er, oder spürte vielmehr, den eigenen Tod. Das war, als er und seine Frau Zippora in der Abenddämmerung, kurz vor Ausgang des Schabbats, über die unbefestigte Straße ihrer Siedlung spazierten. Die Reifen der Fahrzeuge hatten in der Mitte der Piste eine Erhebung entstehen lassen, und nur dort erlaubte sich das Unkraut, ein wenig die Köpfe zu heben. Es schien, als hüllte sich die ganze Siedlung, ja vielleicht der gesamte Berg Hebron, in diese letzten Augenblicke friedvoller Stille, bevor neue Tage harte Arbeit und viel Mühsal brächten. Mit ausgreifenden Schritten kam ihnen Dov entgegen. "Auf zum Abendgebet, Reb Jitzchak", sagte er mit der ihm eigenen Schroffheit, versehen stets mit einem halben Lächeln, als er an ihnen vorbeihastete. Jitzchak nickte nur. Gerade eben erst war ihm sein Tod erschienen, und jetzt hatte er das Gefühl, ein solcher Moment, in dem er mit seiner Frau dahinspazierte, würde nicht wiederkommen. Um der Wahrheit Genüge zu tun, es war nicht das erste Mal, dass er seinen eigenen Tod vorhersah, sondern schon das dritte. Das erste Mal war noch zu Hause in Tschechien gewesen, in Karlovy Vary, in den Sommerferien des letzten Schuljahres am Lyzeum, als er mit seinen Freunden am Flussufer gesessen und plötzlich das Gefühl gehabt hatte, sie nie wiederzusehen. Er hatte das sofort als hasenfüßigen Pessimismus abgetan, war jedoch gegen die physische Dimension dieses Wissens nicht angekommen. Es war so etwas wie ein vorweggreifendes Déjà-vu, ein Gefühl, etwas werde sich ereignen, das du schon immer gewusst hast. Das zweite Mal aber war noch greifbarer gewesen. Drei Jahre vor diesem Wintertag war das. Er hatte seinen Sohn zum ersten Mal die Augen aufschlagen sehen und gewusst, der Junge würde eines Tages ohne Vater aufwachsen. Seinen eigenen Tod sah er in den Augen seines Sohnes sich spiegeln, doch das ängstigte ihn nicht, denn der Blick des Kleinen bestärkte ihn. Die Tatsache, dass Amos in jenem Moment nicht geweint hatte (so wenig wie in vielen anderen auch nicht), gab Jitzchak das Gefühl, so sei nun mal der Lauf der Welt, den alle zu akzeptieren hatten. Von dem Tag an nannte er seinen Sohn bei sich "mein Waisenkind" oder "Motl", nach dem Waisenknaben in der Erzählung von Scholem Alejchem. Er gab acht, dass seine Frau und sein Vater die Prophezeiung nicht hörten, und nur, wenn er den schwarzäugigen Kleinen auf den Arm hob und mit ihm im Zimmer auf und ab ging, sang er ihm etwas vor von einem "glücklichen Waisenjungen", zu einer Melodie, die er in seiner Kindheit gehört hatte. Und manchmal sprach er ihm auch das Kaddisch für Waisen vor, das der Junge wahrscheinlich irgendwann benötigen würde.

Es war ein sonniger Tag, auch wenn bereits ein kalter Wind durch die noch jungen Bäume fegte. Zippora trug einen Schal, und den kleinen Amos hatten sie in einen Wollpullover mit Kapuze gesteckt, den die Großmutter zu stricken begonnen und Zippora vollendet hatte. Der Junge sprang über die Erdhaufen, zu beiden Seiten gehalten von der Hand seiner Eltern, und krakeelte bei jedem Satz fröhlich "Hops". Am Ende des Fahrwegs wartete die Todesprophezeiung auf Jitzchak. Diesmal reagierte er überrascht und hätte beinah die Hand des Jungen losgelassen, der gerade durch die Luft schwang. Vielleicht, weil er sich inzwischen an das Leben und den Jungen gewöhnt hatte und ihm die ganze Sache mit dem Tod als Hirngespinst erschien. Zippora spürte, dass etwas nicht stimmte, sagte aber nichts. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, es machte keinen Sinn, ihren Mann nach seinen Gefühlen oder Befindlichkeiten zu fragen, es sei denn, man wollte eine lakonische, ausweichende Antwort zu hören bekommen. Ironischerweise sollte sie es sein, die sich nach seinem Tod diese emotionale Deformation zu eigen machen und sie sogar an ihre Nachfahren vererben würde, als, wie die moderne Psychologie es bezeichnet, "genetische Variation". Zippora hatte gelernt, die winzigen Schwankungen in Jitzchaks Stimmung zu registrieren. Der Seismograf, der sich zwischen Eheleuten herausbildet, schlug jedes Mal an bei ihr, wenn sich eine Wolke der Bedrückung auf ihren Mann legte.

Wortlos kehrten sie zurück zum Kibbuz und betraten mit den letzten Nachzüglern die Synagoge. Jitzchak hüllte sich in seinen Tallit und nahm neben Dov Aufstellung. Als die Gebete fast vorüber waren, machte Dov ihm ein Zeichen, ihm nach draußen zu folgen, wo Avraham bereits auf sie wartete. Zu dritt marschierten sie schweigend zu einer einsamen Eiche auf einem Hügel, ein paar Kilometer entfernt. Jitzchak fragte nicht, warum sie dorthin wollten, denn aus Erfahrung wusste er, Avraham gab nicht gerne Einzelheiten preis, hegte allerdings den Verdacht, Avraham genoss auch das Drama. Als er Dov gegenüber dies einmal äußerte, hatte der gelacht, die Vermutung aber weder bestätigt noch entkräftet. Und tatsächlich ergriff Avraham nach einigen Minuten stillen Ausschreitens das Wort. Er sprach leise, jedoch ohne seine Schritte zu verhalten und die feindliche Umgebung aus den Augen zu verlieren. "Gestern war ich in Beit Ummar zu einem Treffen", sagte er, ohne ein Wort über die Natur des Treffens zu verlieren oder warum dieses ausgerechnet am Schabbat stattgefunden hatte. Plötzlich blieb er stehen, bedeutete Jitzchak und Dov, es ihm gleichzutun, und fixierte in einiger Entfernung eine Silhouette. "Wahrscheinlich ein Schakal", meinte Dov. Wortlos ging Avraham weiter. Unter den Arabern der umliegenden Dörfer galt er als der "Muchtar von Kfar Etzion", war derjenige, der in Friedenszeiten Kontakt zu den arabischen Nachbarn hielt. Doch seit dem Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen und der Anerkennung des Rechts des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat waren alle Kommunikationskanäle verödet, zumindest offiziell. Avraham aber hatte noch immer seine Kontakte, durch die er an Informationen kam. Einmal hatte Jitzchak ihn mit einer Kufija auf dem Kopf sich durch das hintere Tor davonstehlen sehen. Doch auch da hatte er sich des Gefühls nicht erwehren können, die Maskerade und der klandestine Abgang seien vor allem für die Augen eines Beobachters bestimmt.

Sie erreichten den Baum, und Avraham ging einmal darum herum, um sicherzustellen, dass niemand in der Nähe war. Dov setzte sich auf die Erde, streifte einen Schuh ab und schüttelte ein peinigendes Steinchen heraus. Nachdem er die Umgebung sondiert hatte, wandte sich Avraham an Jitzchak. "Unser Verbindungsmann hat einen Weg gefunden, die arabischen Milizen zu infiltrieren, mithilfe eines arabischen Jungen. Aber der Junge sagt, er ist erst bereit, das zu tun, nachdem er Jitzchak aus Kfar Etzion getroffen hat. Hast du eine Ahnung, warum?" Hatte Jitzchak nicht. "Ich kenne keine Kinder. Vielleicht meint er ja Jitzchak Reich. Oder Jitzchak Posner oder … "

"Er hat gesagt: 'Isak aus Kfar Etzion' ", unterbrach ihn Avraham. " 'Isak mit der Geschichte über den krummen Mann.' "

Jitzchak wirkte verwirrt. Doch Dov kam ihm zu Hilfe: "Die Geschichte über den Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte."

Jitzchak lächelte. "Hamdha? Der Sohn von Khalil? Ein netter Junge … "

"Ein junger Mann", korrigierte Avraham. "Kann man ihm trauen?"

Jitzchak war nicht sicher, was er sagen sollte. Er hatte Khalil und Hamdha schon drei Jahre nicht mehr gesehen.

"Woher kennst du ihn überhaupt? Er spricht fließend Hebräisch."

Jitzchak wollte schon antworten, als plötzlich hinter ihnen im Buschwerk etwas raschelte. Die drei Männer verstummten. Avraham spannte seine Pistole. "Min hadha?"*, rief er in die Dunkelheit. Doch es kam keine Antwort.

Mehr als vier Jahre zuvor, an einem Freitagabend im Frühjahr 1943, hatte eines der Neugeborenen hohes Fieber bekommen. Zippora, Jitzchaks Frau, die als Krankenschwester des frisch gegründeten Kibbuz fungierte, wich nicht vom Bett des Säuglings, doch da es an allem fehlte, konnte sie nicht mehr tun, als feuchte Kompressen aufzulegen, um den fiebernden kleinen Körper zu kühlen. Als sie jedoch einsah, dass es ihr nicht gegeben war, ihn so zu behandeln wie erforderlich, ging sie zu Dov, dem Sekretär des Kibbuz, und bat, er solle sie nach Jerusalem fahren. Rabbi Nerije, der Oberrabbiner aller religiösen Kibbuzim, der zufällig gerade im Sekretariat weilte, sagte, sie würden es wohl nicht bis zum Anbruch des Schabbats nach Jerusalem schaffen, ganz sicher aber nicht wieder zurück, und Dov wandte ein, der Fiat sei in keiner guten Verfassung, und auch, dass sie, führen sie nach Jerusalem und blieben dort über Nacht, den ganzen Kibbuz ohne ein Fahrzeug sich selbst überlassen würden. Rabbi Nerije riet ihr, auf Gott zu vertrauen. Zippora hörte sich alles an und nahm dann die Schlüssel des Pritschenwagens vom Brett. "Es kommt nicht alles vom Himmel", sagte sie und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sonst hätte sie gesehen, wie Dov den aufgebrachten Rabbiner daran hinderte, sie aufzuhalten. Von der Sekretariatsbaracke ging Zippora mit dem in eine Decke gewickelten Säugling zu ihrem Mann, und gemeinsam fuhren sie nach Jerusalem. Den ganzen Weg über wechselten sie nicht ein Wort. Jitzchak schwankte zwischen Stolz auf seine Frau und Fassungslosigkeit über ihre Unverfrorenheit, ja musste sich eingestehen, dass er den dazu erforderlichen Mut nicht gehabt hätte. Als sie beim Hadassah Hospital angelangt waren, stieg Zippora aus und befahl ihrem Mann, zum Kibbuz zurückzufahren. Auf dem Rückweg von Jerusalem aber blieb der Fiat liegen. Jitzchak wartete stundenlang am Straßenrand, doch nicht ein Fahrzeug kam vorbei. Kurz vor Anbruch der Dunkelheit ächzte quietschend ein von einem Esel gezogener Karren die Straßen entlang. Auf dem Rücken des Esels ritt ein älterer Araber im braunen Hemdgewand und mit einer schwarz-weiß gewürfelten Kufija auf dem Kopf. Auf dem Karren lagen bunt gemischt Dinge, die auf den ersten Blick aussahen wie Schrott - und auf den zweiten auch noch. Auf etwas, das aussah wie eine umgedrehte, rissige und verbeulte Emaillebadewanne, hockte ein etwa zehnjähriger Knabe, der ein verblichenes gelbes Nachthemd trug und in den Himmel schaute. Der Esel blieb neben Jitzchaks Pritschenwagen stehen, und der Araber sagte: "Sholem alejchem." Überrascht von diesem das Exil und die zurückgelassene Heimat wachrufenden Gruß antwortete Jitzchak beinahe unweigerlich: "Alejchem haSholem." Er sah den Jungen an, der seinen Blick ernst erwiderte, aus bemerkenswert hellen, graublauen Augen. Der Araber, der sich als Khalil vorstellte, aus dem Dorf Beit Ummar, erzählte, er sei ein Geschichtenhändler, auch wenn er in Wirklichkeit sein Brot als Schrotthändler verdiene. Er sagte, am Morgen werde er Hilfe holen, doch die Nacht über würden sie ihm Gesellschaft leisten und ihn vor Räuberbanden schützen, die zuweilen die Gegend unsicher machten. Khalil versicherte, sobald sie ihn sähen, würde ihm kein Haar gekrümmt werden, da er Witwer sei und seine verstorbene Frau die Schwester keines Geringeren als Abd alQadir al-Husseinis, des Bruders von Haddsch Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem. Die Dunkelheit senkte sich herab, und sie entzündeten ein Lagerfeuer.

In den darauffolgenden Wochen wurde die zufällige Begegnung zur festen Gewohnheit. Auf einem der Bergrücken rings um den Kibbuz schichteten sie Holz für ein Feuer auf, kochten starken, süßen Kaffee und erzählten einander die ganze Nacht hindurch Geschichten, während der hellhäutige, ernste Junge ihnen lauschte und sie aus klaren, ernsten Augen beobachtete. Am Morgen dann marschierten sie in eines der Dörfer, um Maschinen und Werkzeug für die Schlosserei zu kaufen, die Jitzchak im Kibbuz einrichtete, dieselbe Schlosserei, in der er später Minen fertigen würde, die er in ebenjenen Bergen rund um den Kibbuz vergrub. Khalils Geschichten waren meistenteils fantastische arabische Märchen, Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, aber auch chinesische Parabeln, kaukasische Sagen und romantische Ghaselen, bei denen Jitzchak errötete und sich fragte, wie Khalil den Jungen derart erotischen Inhalten aussetzen konnte. Jitzchak seinerseits steuerte Geschichten aus dem Schtetl bei, von Agnon, Scholem Alejchem und Mendele Moicher Sforim. Und Geschichten, die er von seinem Vater und denjenigen gehört hatte, die in sein Haus kamen, aber auch von Jules Verne, Maupassant, Gogol, Kafka und Tschechow. Und einmal improvisierte er sogar eine geraffte Fassung der Geschichte von dem "Mann, dem das Gesicht in Grimm erstarrte". Khalil hörte mit großem Vergnügen zu und kommentierte gelegentlich, zu dieser oder jener Geschichte gebe es ein arabisches Pendant. Er fragte Hamdha, ob er sich noch an die Geschichte über den-und-den erinnere, der sich genau wie der-und-der aufgeführt habe, nur dass er dabei nicht wie eine Kuh muhte, sondern wie ein Hahn krähte, und der Junge nickte stumm. Niemals sprachen sie über Politik oder persönliche Belange. Mit der Zeit lernte Jitzchak, dass sich Khalil seiner Geschäfte wegen offenbar viel in Jaffa aufhielt und dass Hamdha sein einziger Sohn war. Seine Frau, wie gesagt, ein Mitglied der angesehenen Familie al-Husseini, war im Kindbett gestorben. Doch Khalil pflegte kaum Kontakt zu seinem Schwager und vermied es generell, über Politik zu reden. Das einzige Mal, dass Khalil auf die Lage im Land zu sprechen kam, war kurz nach der Invasion der Alliierten in der Normandie. Sie saßen und tranken Tee. Der Frühling stand schon in voller Blüte, doch die Nachtluft in den Bergen war noch kühl. Khalil wirkte ungewohnt still. Er nahm einen Schluck von seinem Tee und berichtete Jitzchak dann, er habe die Absicht, nach Jaffa zu ziehen, zu einer Frau, mit der er schon eine Weile zusammen sei. "Der Junge braucht eine Mutter", sagte er. Und, nachdem er länger geschwiegen hatte: "Jetzt, da ihr bald fertig seid mit den Nazis, werdet ihr gegen uns kämpfen."
"Und wer wird siegen?", fragte Jitzchak mit angedeutetem Lächeln.
"Der, der nichts zu verlieren hat", erwiderte Khalil, ebenfalls lächelnd.

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* Arabisch: "Wer da?"


Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hoffmann und Campe