Heute in den Feuilletons

Eine Teilmenge dieser Tatsachen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2008. Die Berliner Zeitung zitiert die China-Expertin der Deutschen Welle, Danhong Zhang, die sich fragt, was gegen Internetzensur einzuwenden ist: "Hier in Deutschland kann man auch nicht jede Seite aufrufen, zum Beispiel Kinderpornografie." In der FR schreibt Sven Hanuschek zu den Vorwürfen gegen Alfred Andersch: "Dass Andersch den Krieg überleben wollte, ist ja wohl keine moralische Schandtat." In der SZ entfaltet Ernst-Wilhelm Händler Thesen zur Überlegenheit des Romans. Im Tagesspiegel erklärt Ray Bradbury, warum Frauen keine Science fiction lesen.

Berliner Zeitung, 20.08.2008

Sabine Pamperrien und Jan-Philipp Hein zitieren die chinesische Redakteurin der Deutschen Welle Danhong Zhang, die sich in einer Rundfunkdiskussion im Prinzip gegen Internetzensur aussprach: "Aber 'Free Tibet' oder die Seite von Falun Gong: Ich denke, hier in Deutschland kann man auch nicht jede Seite aufrufen, zum Beispiel Kinderpornografie." Und die Reaktion der Deutschen Welle: "Bei der Deutschen Welle wird die Angelegenheit heruntergespielt. Nicht immer sei es Zhang gelungen, die Differenziertheit ihrer Argumente deutlich zu machen."

Christoph Hein erinnert sich im Gespräch mit Birgit Walter an die Wahrnehmung des Prager Frühlings in der DDR. Noch schlimmer als die Niederschlagung war die Zeit danach: "Keine Frage, nach '68 wurden freie Diskussionen schwierig, ich glaube, ab September war es vorbei. Jede Debatte über einen anderen Sozialismus galt dann schon als konterrevolutionär. Die Niederschlagung hatte Wirkung gezeigt, es trat sogar eine Verängstigung ein."

NZZ, 20.08.2008

Hoo Nam Seelmann erinnert an die Olympischen Spiele von Seoul 1988, die ein Meilenstein in der Geschichte der "Selbstbefreiung und Selbstfindung" des damals diktatorisch regierten Landes waren. Zwei gravierende Unterschiede macht sie aber im Vergleich zu China aus: "Innenpolitisch standen in Korea Studenten, Intellektuelle und Bürger der Militärdiktatur ablehnend gegenüber und kämpften für deren Abschaffung. In China existieren kaum solche Gruppierungen, die von Bürgern gestützt werden." Und: "Das Unbehagen, das vor allem der Westen bei dieser Wendung der Weltgeschichte zu empfinden scheint, beruht auf der Ungewissheit, die der Aufstieg eines solch mächtigen Landes wie China für die Zukunft bringen wird. Der Westen erblickt in China die kommende Konkurrenz. Gegenüber Korea, dem politischen Zwerg, konnte man nachsichtig und aufmunternd sein."

Weitere Artikel: Glück ist machbar, konstatiert Susanne Ostwald im Aufmacher, davon hat sie Mike Leighs Komödie "Happy-Go-Lucky" überzeugt. Ulrich Teusch stellt zwei Studien zu Leben und Werk des Staatsrechtlers Carl Schmitt vor. Ludger Lütkehaus freut sich über eine neue Publikationsreihe des Stuttgarter Alfred-Kröner-Verlages in Großdruck, die dem Trend einer wachsenden älteren Leserzielgruppe Rechnung trage.

Besprochen werden der Bergeller Kunstparcours "Arte Bregaglia" sowie Bücher, darunter eine "vorzüglich edierte" Ausgabe von Franz Overbecks Briefen, Sebastian Schinnerls Roman "In hellen Nächten" und Uwe Kolbes neuer Gedichtband "Heimliche Feste" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 20.08.2008

Denis Scheck interviewt den inzwischen uralten Science-Fiction-Autor Ray Bradbury. Auf die Frage, warum Frauen so wenig Science Fiction lesen, antwortet er: "Das war schon immer so. Wir Männer sind nun mal eher die mechanischen Schöpfer: Frauen erschaffen das Fleisch, wir Männer erschaffen die Welt. Manchmal ist das, was wir erschaffen, etwas Böses, das Auto zum Beispiel, und manchmal ist es das Raumschiff, mit dem wir zum Mond geflogen sind. Wir Jungs sind ganz vernarrt in unsere Spielzeuge, wir sind Tüftler und Schrauber und lieben nichts mehr, als eine Zündschnur anzuzünden und eine Rakete in den Himmel steigen zu lassen."
Stichwörter: Scheck, Denis, Spielzeug, Raketen

Welt, 20.08.2008

Matthias Heine gratuliert der von Fetischisten stets noch bevorzugten Langspielplatte aus Vinyl zum Sechzigsten. Uta Baier unterhält sich mit dem Chef des Internationalen Krisenstabs für Museen in Not, Thomas Schuler über die Lage in Georgien und Südossetien, und er macht sich unter anderem Sorgen um das Stalin-Museum in Gori. Hendrik Werner beschwert sich in der Glosse über die Praxis von Verlagen, Kritikerzitate für ihre "Blurbs" in Klappentexten glatt in ihr Gegenteil zu verkehren. Eckhard Fuhr liest zwei neue Zeitschriften (mehr hier) über die Vorteile des Landlebens.

Besprochen wird eine Ausstellung in New York über die Kluften von Superhelden.

FR, 20.08.2008

Der Canetti-Biograf Sven Hanuschek verteidigt Alfred Andersch gegen die erstmals 1993 von W.G. Sebald und gestern in der FAZ von Jörg Döring und Rolf Seubert erneut erhobenen Vorwürfe, der Schriftsteller habe die Ehe mit seiner jüdischen Frau und die Scheidung von ihr mehrfach für seinen Vorteil genutzt. Dies sei ein Moralismus, der "30 Jahre jüngeren" Germanisten oder Schriftstellern nicht zustehe: "Dass Andersch den Krieg überleben wollte, ist ja wohl keine moralische Schandtat; dass eine Ehe zerrüttet ist, bei Andersch schon 1940, soll vorkommen. Er hat diese Ehe noch drei Jahre aufrecht erhalten; nach Döring/Seubert: weil er von ihr noch profitieren konnte. Wusste er, ob er durch sie nicht auch bedroht war? Warum ist die Möglichkeit so abwegig, dass er die Ehe aufrecht erhalten hat, um seine Frau und seine Tochter zu schützen?"

Im Aufmacher preist Daniel Kothenschulte den bereits sehr gehypten Batman-Film "The Dark Knight" an, schränkt aber ein: "Es ist nicht das makellose Meisterwerk, das viele in ihm sehen, es gibt schleppende Passagen und Figuren die weit weniger gut ausgeführt sind, etwa eine hölzerne Kinderrolle. Die Höhepunkte aber sind beispiellos und unvergesslich. Seit 'Blade Runner' ist Architektur nicht mehr so klug und visionär inszeniert worden."

Weiteres: Peter Michalzik unterhält sich mit der Leiterin der Frankfurter Schauspielschule Marion Tiedtke über die Ausbildung angehender Schauspieler. In der Times mager prangert Christian Schlüter den Narzissmus "kritischer" Olympia-Fans an. Ulf Erdmann Ziegler erinnert sich an seine Begegnungen mit dem am 12. August verstorbenen Kunsthistoriker Michael Baxandall.

Besprochen werden zwei Ausstellungen chinesischer Tuschezeichnungen in Dresden und Berlin, ein Gastspiel des japanischen Regisseurs Toshiki Okada in Salzburg und Peter Dexters Roman "Paris Trout".

TAZ, 20.08.2008

Cristina Nord verteidigt die Filmkritik im Internet, die vergangene Woche der Kölner Filmkritiker Josef Schnelle in der Berliner Zeitung als oberflächlich und amateurhaft gegeißelt hatte. Nord meint: "Unabhängig von gelungenen Einzelbeispielen sticht positiv hervor, dass im Netz andere Schreibweisen möglich sind als auf den Seiten der Zeitungen. Es gibt längere Texte oder radikal kurze, manchmal akademischere, manchmal persönlichere. Oft sind die Neugier und die Entdeckerfreude viel größer als im etablierten Filmfeuilleton, allein schon deshalb, weil sich die Autoren um den Terminkalender der Neustarts nicht scheren und von einer Cinephilie getrieben werden, die man im seriösen Feuilleton lange suchen muss. Klar, vieles ist schlecht geschriebenener Unsinn, aber in welchem Medium gibt es keinen schlecht gemachten Blödsinn? Diskreditiert der Blödsinn das Medium? Eben nicht."
(Hier die Polemik von Schnelle und hier die Replik von Ekkehard Knörer im Perlentaucher.)

Weiteres: Barbara Schweizerhof staunt in ihrer Filmkritik von "The Dark Knight" über die alles überragende Präsenz des verstorbenen Heath Ledger, der mit seiner Nebenfigur "Unwucht" in den Handlungsverlauf bringt. Besprochen wird außerdem eine Retrospektive des Fotografen Timm Rautert im Regensburger Kunstforum Ostdeutsche Galerie, die Aufnahmen aus vier Jahrzehnten Bundesrepublik zeigt.

Und Tom.
Stichwörter: Rautert, Timm, Cinephilie

FAZ, 20.08.2008

In seinen Olympia-Notizen zeigt sich der Schriftsteller Yu Hua ein wenig genervt von seinen Landsleuten: "Überhaupt schreien in Peking die Leute ununterbrochen 'China, gib Gas', selbst bei Wettkämpfen, bei denen China gar nicht dabei ist." Aus Italien berichtet Dirk Schümer über einen neuen Minister für "öffentliches Funktionieren", der nun einen "Feldzug ... für mehr staatliche Effizienz" gestartet hat. Matthias Grünzig schildert die Baumisere in Halle an der Saale. In der Glosse kommentiert Fridtjof Küchemann die originelle Idee eines Graz-Stipendiums, das nicht fürs Schreiben über die Stadt, sondern nur fürs Lesen genutzt werden soll (mehr beim Auslober, dem Feuilletonmagazin schreibkraft). Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis, Jahrgang 1972, fragt nach dem Vermächtnis des Prager Frühlings für seine Generation. Patrick Bahners porträtiert den für die Monroe-Doktrin, die die US-Hegemonie über die westliche Hemispäre vorsieht, bekannt gewordenen Präsidenten James Monroe. Gerhard Stadelmaier schreibt kurz zum Tod der "Theaterfrau" Elisabeth Justin-Heydenreich. Auf der DVD-Seite werden unter anderem Editionen von Paul Schraders "Mishima" und Mishima Yukios Kurzfilm "Yukoku" und Olivier Assayas' Film "Boarding Gate" empfohlen. Der Regisseur Guillermo del Toro ("Hellboy", "Pans Labyrinth") stellt seine Lieblings-DVDs vor.

Besprochen werden eine Doppelausstellung "'Was für ein Kerl!' Heinrich von Kleist im 'Dritten Reich'" in Neuhardenberg und Frankfurt an der Oder, eine Ausstellung über den französischen Künstler und Kunsthandwerker Victor Prouve in Nancy, Christopher Nolans jetzt schon rekordverdächtiger Batman-Film "The Dark Knight" und Bücher, darunter Martin von Koppenfels' Studie "Immune Erzähler" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.08.2008

Der Roman kann Dinge, die kein Film vermag, behauptet der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler und belegt seine These mit einem geradezu wissenschaftlich anmutendem Essay. "Der Roman ermöglicht einen Überblick über ein bestimmtes Lebensfeld. Man braucht nicht alle Phänomene eines bestimmten Weltausschnitts zu protokollieren, man muss nicht alle mathematischen Tatsachen eines bestimmten Gebiets einzeln aufführen, wenn die Phänomene einem Gesetz gehorchen, wenn sich die mathematischen Tatsachen aus einem Axiomensystem ableiten lassen. Man kann dann sagen, das Gesetz beschreibt den Weltausschnitt und das Axiomensystem das mathematische Gebiet. Der Roman erfüllt eine vergleichbare Funktion: Er stellt ein Lebensfeld dar, indem er die Gesamtheit der einschlägigen Tatsachen durch etwas beschreibt, was eine Teilmenge dieser Tatsachen ist."

Evelyn Hecht-Galinski, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, führt einen Rechtsstreit gegen den Publizisten Henryk M. Broder, der ihr Antisemitismus vorgeworfen hat (korrigiert am 21.8.08, wir hatten gestern versehentlich behauptet, Broder habe Hecht-Galinsky verklagt. Es ist aber umgekehrt, die Red.). Der amerikanische Historiker Rafael Medoff fragt sich nun, wo Antisemitismus eigentlich beginnt, und hält am Ende fest: "Auch die Politik ist es, die den Ton in der öffentlichen Debatte vorgibt, und die Bürger in Deutschland und den USA sollten wissen, dass ihre gewählten Vertreter Vergleiche zwischen Israel und Nazi-Deutschland energisch zurückweisen, unabhängig von den damit verbundenen juristischen Fragen."

Weitere Artikel: Mit Blick auf den neuen Batman-Film sammelt Lars Weisbrod Fragmente zu einer Geschichte des Lachens, die ihren Anfang mit Victor Hugo nimmt: "Als die Batman-Zeichner 1940 den Joker erfanden, die Nemesis des dunklen Ritters, diente ihnen Conrad Veidt in 'Der Mann, der lachte' als Vorbild, einem Stummfilm, der auf Victor Hugos gleichnamigem Roman basiert." Richard Swartz erzählt vom zweiten Teil seiner albanischen Reise. Tobias Lehmkuhl geht mit dem Reiseschriftsteller Wolfgang Büscher spazieren: vom Berliner Ludwigkirchplatz nach Potsdam. Franziska Augstein überlegt, was die Franzosen wirklich von Sarkozy halten. Volker Breidecker gratuliert dem italienischen Autor Luciano de Crescenzo zum Achtzigsten. Kai Vahland schreibt zum Tod des britischen Kunsthistorikers Michael Baxandall. Auf der Medienseite beschreibt Claudia Tieschky die fatale Situation der deutschen Vanity Fair, die Nikolaus Albrecht retten soll.

Besprochen werden der Batman-Film "The Dark Knight" (für Andrian Kreye eine "perfekte Allegorie auf eine Welt, in der die eindeutigen Deutungen einer zweigeteilten Welt nicht mehr gelten. Es geht nicht mehr um Leben oder Tod, Gut oder Böse, denn jede Handlung führt zu Leben und Tod und ist somit gut und böse zugleich."), die Ausstellung der Tempelschätze des heiligen Berges Daigo-ji in der Kunsthalle Bonn, einige CDs, die Uraufführung von Peter Eötvös' Oper "Love and Other Demons" beim Glyndebourne-Festival und Bücher, darunter Ketil Bjornstads Roman "Olga" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).