Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2002. Die SZ plädiert für und gegen ein neobarockes Stadschloss in Berlin, die FAZ nur dafür. Die taz untersucht die Folgen der Kirch-Pleite für das deutsche Kino. Die FR fragt, wie Frankreichs Intellektuelle den Aufstieg Jean-Marie Le Pens verkraften. Die NZZ erzählt die Geschichte der Schweizerischen Landesausstellungen.

SZ, 15.05.2002

Berliner Stadtschloss und kein Ende. Über Sinn und Unsinn einer rekonstruierten Schloss-Fassade streiten in der SZ Gottfried Knapp (Unsinn) und Jens Bisky (Sinn):

Die komplizierte historische Figur des Schlosses müsse im Fall einer Rekonstruktion für die möglichen Nutzer "schaurig zurechtmanipuliert" werden, meint Knapp in einer Kampfansage an die "wachsende Sekte der bekennenden Wilhelministen". Überhaupt lasse sich der Wunsch, wesentliche Teile der Innenausstattung wieder herzustellen, nicht mit den Raumbedürfnissen der herbeizitierten Museen, der Bibliothek oder des Humboldt- Forums versöhnen: "Wenn man einzelne historische Raumfolgen rekonstruieren will, muss man sich sklavisch an die äußere Form der Schlosstrakte halten, man kann also in den Stockwerken drüber oder drunter nicht plötzlich so weit ausholen, wie es für einen halbwegs funktionalen Museums-, Bibliotheks- oder Kongressbetrieb nötig wäre."

Die Mehrheit der Berliner wünsche das Schloss, hält Jens Bisky dagegen, und die Architektur sei die einzige Kunst, in der das Laienurteil den Ausschlag gebe. Nicht nur die in Berlin offenkundige Schwäche der zeitgenössischen Baukunst spreche für eine Rekonstruktion des Schlosses: "Nur diese überließe dem barbarischen Akt der Sprengung nicht das letzte Wort. Betrachtet man, wie die Expertenkommission, das Schloss nicht mehr als Solitär, verliert auch der Kitschvorwurf an Kraft. Nur eine Rekonstruktion ist in der Lage, das einzigartige städtebauliche Ensemble in der Mitte Berlins wiederherzustellen, verlorenen Stadtraum wiederzugewinnen."

Joachim Kaiser hat zugehört, als Bruno Gelber (mehr hier) in München Beethovens Klaviersonate Opus 2 Nr. 3 spielte, und dann: "Die 'Waldstein-Sonate'. Deren Mischung aus Schwung und Mystik scheint fast unbewältigbar. Es war klug, dass Gelber den Anfang ganz leise und nicht sehr rapide verstand.Was sonst donnert wie die Annährung einer Büffel-Herde, besaß nun immer noch jene Beethoven-Klassizität, die ein romantisch schweifendes Element in sich enthält." 

Weitere Artikel: Thomas Urban dokumentiert Polens Misstrauen gegenüber dem neuen Interesse Deutschlands an den Vertriebenen; man fürchtet den "ewigen deutschen Revanchismus". Adrienne Braun führt uns durch das Stuttgarter Wohnhaus von Theodor Heuss. Arno Orzessek war auf einem Berliner Symposion der Internationalen Peter-Weiss-Gesellschaft. Ijoma Mangold lässt wissen, wie sich die Literaturzeitschrift "edit" für den Hermann-Hesse-Förderpreis bedankt, und Fritz Göttler annonciert das Filmfestival von Cannes.

Besprochen werden die ziemlich schräge Ausstellung "Viva La Republique! Pagan images of the last Queen of the British Isles" mit Anti-Establishment-Art in der Londoner Galerie The Centre of Attention, eine Werkschau zu Lucas Cranach dem Älteren im Kopenhagener Statens Museum for Kunst, Abi Morgans "Palast" an der Berliner Schaubühne, Sarah Kanes "4.48 Psychose" am Frankfurter Schauspiel, Georg Anton Bendas Oper "Il buon marito" bei den Schwetzinger Festspielen, ein Beethoven-Konzert mit Bruno Leonardo Gelber im Münchner Herkulessaal sowie Gottfried Benns Briefe an Astrid Claes und Neues von der Psychoanalyse, mitgeteilt von Jacques Derrida (auch in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 15.05.2002

Viel Film in der taz-Kultur: Im Interview erklärt der Film- und Fernsehproduzent Nico Hofmann die beträchtlichen Auswirkungen der Kirch-Pleite auf den deutschen Filmmarkt. Nicht nur das Kerngeschäft mit TV-Lizenzen, sondern der ganze Markt, meint Hofmann, wird einer "völligen Neubewertung" unterworfen werden. Und das nicht zum Vorteil: "Es wird garantiert weniger gezahlt werden als in der Vergangenheit."

Passend dazu diskutiert Tobias Hering die anstehende Novelle des Filmförderungsgesetzes und erklärt, "dass Filme, die es nicht auf möglichst breite Publikumsakzeptanz abgesehen haben, durch die derzeitige Vergabepraxis benachteiligt werden ...Was die Verleiher als nicht Multiplex-tauglich einstufen, wird mit dem Label 'Arthouse-Film' versehen und in die kleinen Säle verwiesen. So entsteht ein ganzes Segment von Filmen, die nur ein begrenztes Publikum erreichen können und demzufolge bei der Referenzmittel-Ausschüttung schlecht dastehen." Da sich gerade in diesem Segment die interessanteren deutschen Filme finden, meint Hering, böte eine Referenzmittelvergabe nach qualitativen Kriterien "eine Entzerrung des Bildes, das die deutsche Filmlandschaft unter dem Druck des Marktes abgibt".

Cristina Nord sagt, was es auf den heut eröffneten Filmfestspielen in Cannes auf jeden Fall nicht zu sehen gibt: deutsche Filme im offiziellen Programm, Silke Lode liefert die Kritik zur Uraufführung des Oratoriums "Bombsong" von Thea Dorn in Hannover, und Gisa Funck entdeckt die optimale Projektionsfläche für ein neues Identitätsgefühl im Fußball ausgerechnet bei Bayer 04 Leverkusen.

Schließlich TOM.

FR, 15.05.2002

Die verheerenden Folgen der US-Politik für das Leben im Irak, erläutert Michael Lüders in einem Beitrag: "Nach unabhängigen Schätzungen sind bislang mindestens eine Million Iraker an den Folgen der Sanktionen gestorben - an Unterernährung oder wegen fehlender medizinischer Versorgung. Unter den Embargototen sind etwa 400 000 Kinder unter fünf Jahren. Die Zahl der unterernährten Menschen im Irak wird auf zwei bis fünf Millionen geschätzt, bei einer Gesamtbevölkerung von 18 Millionen." Eine Bilanz, warnt Lüders, die sich potenzieren könnte, sollten die USA auf ihrem "Zweckargument" vom Weltfeind Saddam bestehen und eine Invasion starten. "Die Folge wären Anarchie, Stammesfehden, herrschaftsfreie Gebiete, die Implosion staatlicher Strukturen. Mit gravierenden Auswirkungen für die Nachbarstaaten, einer langfristigen Destabilisierung des Nahen Ostens." Lange lebe Saddam!

Wie Frankreichs Intellektuelle nach Wegen aus dem Le-Pen-Trauma suchen, weiß Roman Luckscheiter zu berichten. Demnach trägt ein "Paradigmenwechsel in der öffentlichen Künstlerfigur" Mitschuld und soll nun relativiert werden, indem der Kunst eine dezidiert gesellschaftspolitische Rolle zugewiesen wird: "Der künstlerische Anspruch solle sich mit den Ansprüchen der Ethik und denen der Mehrheit treffen und messen, aber sich ihnen nicht unterordnen. Dann erst könnte der grassierenden Unkultur, die bis in die Eliten hineinreiche, Einhalt geboten werden."

Weiteres: Daniel Kothenschulte stimmt ein auf Cannes 2002, wo man ausnahmsweise die Retroschiene fährt, "Times mager" erklärt die Unentbehrlichkeit der Presseagenten am Broadway, Robert Kaltenbrunner besucht den Dietsch & Ranter-Bau für das Deutsche Rote Kreuz in Berlin-Lichterfelde, Michael Braun konnte auf den 24. Solothurner Literaturtagen kein produktives Verhältnis von Literatur und Politik entdecken, und Martin Altmeyer berichtet von einer Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung in Leipzig.

Eine einsame Besprechung schließlich widmet sich einer Richard-Prince-Retrospektive im Kunstmuseum Wolfsburg.

NZZ, 15.05.2002

Anlässlich der heute eröffneten Expo 02 lässt Martin Meyer die Schweizerischen Landesausstellungen von 1939 und 1964 Revue passieren. Erstere bediente "die kollektive Seele - zwar auch mit einem Stil, der nun nicht nur aus der einsamen Originalität alles Schweizerischen gezogen war, sondern im monumentalen Pathos den totalisierenden Zugriff erkennen machte. Aber schließlich war man bei ähnlicher Rhetorik doch anders, nämlich ungebeugt und frei und bereit, dafür zu kämpfen." Letztere dagegen zeigte "den Austausch in der Öffnung, den jovialen Handschlag mit der Welt ... Dass eine Landesausstellung nur zu suchen weiß, was der Zeitgeist schon gefunden hat; oder anders: dass die Expo nichts grundsätzlich Neues herbeibringen konnte, sondern das vorherrschende Neue mit Charme und Großzügigkeit präsentieren musste, ahnten allerdings selbst die jugendlichen Besucher in der Euphorie des Vorwärtsdrängens. Wir hatten uns nicht in eine verwunschene Utopie verirrt. Hier dominierte die Zukunft als Realpräsenz. Und so wird es vernünftigerweise immer sein, wo im nationalen Rahmen ausgestellt, akzentuiert, geworben und unterrichtet wird."

Weitere Artikel: Thomas Ribi informiert über den Skulpturenfund im ehemaligen Töpferviertel Kerameikos in Athen, wo deutsche Archäologen einen Kuros des Dipylon-Meisters ausgegraben haben. Und Christoph Egger stellt das Programm des Filmfestivals in Cannes vor, das heute abend mit Woody Allens "Hollywood Ending" eröffnet wird.

Besprochen werden die Video-Oper "The Cave" von Steve Reich und Beryl Korot bei den Wiener FestwochenFazil Says Zürcher Klavierabend, die Ausstellung "Nach der Natur" der Architekturfotografin Margherita Spiluttini im Technischen Museum Wien, Mozartaufnahmen von Alfred Brendel, eine CD mit Cecile Chaminades "Melodies", gesungen von Anne Sofie von Otter, und Bücher, darunter eine Studie zur Identität stalinistischer Parteikader und Lucas Cejpeks traurig-komischer Roman "Keine Namen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 15.05.2002

Heute beraten Bund und Berlin über das Berliner Stadtschloss, während die für morgen anberaumte Bundestagsdebatte zum Thema überraschend abgesagt wurde. Nun bangt Florian Illies um die so herbeigesehnte neobarocke Stadtkommode: "Das gesamte ästhetische Fass sollte jetzt nicht noch einmal aufgemacht werden: Es ist Herausforderung für die Moderne genug, die vierte Seite des Schlosses zur Spree hin angemessen zu gestalten." Der Bundeskulturbeauftragte Julian Nida-Rümelin äußert sich im Interview zur Frage: "Die Empfehlung der Schlossplatzkommission heißt nicht, das Schloss wiederherzustellen, wie es einmal war. Sie heißt: Die Kubatur, drei historische Barockfassaden und einige Innenräume sollen rekonstruiert werden."

Der neue "Star Wars"-Film (mehr hier) kommt bei Andreas Kilb besser weg als "Episode I": "Dieser Film ist das Gegenteil seines Vorgängers, eine Übung in verschärfter Bilderbeschleunigung bei gleichzeitig gesteigerter geschichtsphilosophischer Bitternis, ein Fantasy-Gebräu zum Aufwachen." In einem zweiten Artikel zum Film erkennt Andreas Platthaus im Jedi-Ritter Yoda eine Replik Winstin Churchills: "Allerdings ist der bullige Politiker .. nur noch einen halben Meter groß, grün im Gesicht und nicht ganz so gekleidet, wie man es von einem Gentleman erwarten würde. Doch wie dieser kleine, grüne, bescheidene Mann namens Yoda, seines Zeichens Altmeister der Jedi-Ritter, in diesem Film seinen Truppen voranschreitet, das ist Churchill vom Scheitel bis zur Sohle - selbst der unvermeidliche Gehstock ist permanent zur Hand."

Weiteres: Der spanische Autor Javier Marias (mehr hier) betet um einen Sieg seiner Mannschaft Real Madrid beim heutigen Europapokalfinale, denn "wenn Real Madrid nicht gegen Bayer Leverkusen gewinnt, den äußersten Außenseiter, dann werden wir am Boden". (Und die armen Leverkusener, sollten die nicht auch mal was gewinnen?) Dirk Schümer untersucht die komplizierten Beziehungen der Niederländer zu Deutschen, Israelis und Moslems. Auf der Medienseite geht's um einen Comedy-Boxkampf zwischen Wachsfiguren von Schröder und Stoiber bei RTL. Auf der letzten Seite profiliert Markus Reiter den Achtziger-Jahre-Popstar Boy George, der wieder auftritt. Und Renate Schostak meldet, dass sich ganz München auf seine Pinakothek der Moderne freut, die in vier Monaten eröffnet wird.

Besprochen werden Gerhard Hauptmanns Stück "Winterballade" in Bonn, Georg Bendas Buffo-Oper "Il buon marito" in Schwetzingen, eine Ausstellung mit politischer Kunst aus Israel im Museum für Kunst und Kunstgeschichte von Goch, Abi Morgans Stück "Splendor" an der Berliner Schaubühne, ein Konzert des Schlagzeugers Billy Cobham und seiner Gruppe und Fotografien von Maurice Tabard (Bilder) im Musee de la photographie von Charleroi.