Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2002. In der SZ macht sich Naomi Klein ("No Logo") Gedanken über die Marke USA und Matthias Politycki sieht Bayer Leverkusen als "reinkarniertes Mönchengladbach". Die NZZ weist nach, dass die Benesch-Dekrete in der Tschechoslowakei nach dem Krieg auch auf Juden angewandt wurden. Die FAZ betrachtet die Dialektik der Gewaltdarstellung in den Medien. Die FR beschreibt die amerikanische Freude über die Erfolge Jean-Marie Le Pens.

SZ, 06.05.2002

Markenspezialistin und Globalisierungskritikern Naomi Klein ("No Logo", hier eine Website zur No-Logo-Bewegung) macht sich Gedanken über die Marke USA und ihren mangelnden internationalen Erfolg. Man hat fürs besser Image im Ausland eine Werbefachfrau engagiert, Colin Powell verteidigt das Vorgehen so: "Es ist nicht falsch, sich jemanden zu holen, der etwas verkaufen kann. Wir verkaufen ein Produkt. Wir brauchen jemanden, der die amerikanische Außenpolitik, die amerikanische Diplomatie neu als Marke lanciert." Das Problem ist jedoch, meint Klein, dass das Produkt nicht mehr der Werbung entspricht: "Auch wenn Präsident Bush darauf beharrt, die Feinde Amerikas ärgerten sich über dessen Freiheitsrechte, haben die meisten Kritiker der USA keine Einwände gegen die erklärten Werte der USA. Stattdessen verweisen sie auf den amerikanischen Unilateralismus in Bezug auf internationale Rechtsnormen, ein wachsendes Wohlstandsgefälle, schikanöse Razzien gegen Immigranten und Menschenrechtsverletzungen - wie in der Guantanomo-Bucht."

Der Schriftsteller Matthias Politycki hat zum Bundesliga-Saisonausklang Bayer Leverkusen als "reinkarniertes Mönchengladbach" erlebt und trauert mit Rainer Calmund: "Wer wird in 10 Jahren noch von Ewerthon reden, der 49 Sekunden nach seiner Einwechslung das entscheidende Tor für Dortmund erzielte? Aber eines Reiner Calmund im Leverkusener Anstoßkreis, das ist sicher, werden wir gedenken."

Weitere Artikel: Benjamin Henrichs beschäftigt sich in seiner Theaterwahn-Kolumne mit Sauriern und Robert Wilson. Fritz Göttler hat eine Erinnerung an Max Ophüls verfasst, zu dessen 100. Geburtstag. Außerdem berichtet er von der Angst der amerikanischen Wirtschaft, dass zum Start von "Star Wars: Episode 2" am 16. Mai das halbe Volk blau macht (und auf der Website können auch Sie schon mal den Vormittag mit Trailern und Videoclips vertrödeln). Volker Breidecker berichtet von einer Tagung in Frankfurt zum Thema "Ereignis". Lothar Müller war in Turin, weil dort die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung tagte. Referiert wird ein Spiegel-Bericht über den einstigen SS-Funktionär, mit dem es Hannah Arendt nach dem Krieg beim Piper-Verlag zu tun hatte. Außerdem gibt es einen Nachruf auf den russischen Dirigenten Jewgenij Swetlanow.

Kritiken: Reinhard Schulz zeigt sich angetan von Gerhard Winklers auf der Münchner Musiktheater-Biennale (das Programm im PDF-Format) aufgeführtem "Heptameron", während Wolfgang Schreiber ebendort "Differenztonschatten" in Manfred Stahnkes "Orpheus Kristall" gehört hat. Das Publikum schien sehr gespalten - C. Bernd Sucher aber ist ganz und gar fasziniert von Michael Thalheimers Hamburger "Kabale und Liebe"-Inszenierung. Mehr Nebeneinander als sinnvolle Bezüge hat Tom Holert auf der Ausstellung "Iconoclash" im ZKM Karlsruhe zu Gesicht bekommen und Alexander Menden stellt fest, dass Tom Waits (mehr hier) auf gleich zwei neuen Platten die letzten Dinge besingt.

Im Literaturteil: Andrian Kreye verbindet seine Kritik zu Jonathan Safran Foers (bisher nur auf Englisch erschienenem) Roman "Everything is Illuminated" mit einem Besuch beim Autor im New Yorker Stadtteil Queens. Besprochen werden "Mitgift", der neue Roman von Ulrike Draesner, eine sehr klassische Geschichte des alten Ägypten, ein Anglerbuch des Kunstkritikers Robert Hughes und eine Reihe von politischen Jugendbüchern (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.05.2002

Auf ein ziemlich empörendes Detail der Benesch-Dekrete und ihrer Durchsetzung in der Tschechoslowakei nach dem Krieg macht Stephan Templ aufmerksam: Sie wurden auch auf Juden angewandt, die sich vor 1939 den Deutschen zurechneten: "Als etwa die Teplitzer jüdische Gemeinde gegen diese Praxis tschechoslowakischer Beamter protestierte, antwortete am 13. Oktober 1945 die zuständige Sekretärin des Nationalausschusses, Maria Vobecka, die Juden kämen nicht 'der Treue der demokratisch-republikanischen Staatsidee der Tschechoslowakischen Republik' nach, und: 'dem Ausschuss ist das Benehmen vieler jüdischer Angehöriger bekannt, die oft nicht nur nazistische Umtriebe in ihren Unternehmen duldeten, sondern diese auch häufig unterstützten, obwohl sie um ihr Eigentum besorgt waren. Zu Antinazis wurden sie nicht aus Treue zur Republik und ihrer republikanisch-demokratischen Form, sondern wegen der Verfolgung der Juden....'."

Samuel Moser porträtiert die Landschaft am Jurasüdfluss, Schauplatz der "Expo 02": "Die Durchmischung zweier Sprachen produziert in der Kleinheit zudem eine derartige Vielfalt, dass auch hier der Zusammenhalt eine ständige Aufgabe bleibt. Biel und Neuenburg, Yverdon und Murten liegen, bedingt durch ihre historische und wirtschaftliche Entwicklung, oft so weit auseinander wie Rorschach und Genf. Aber der Stein, aus dem sie gebaut sind, gelb wie Honig, bindet sie ewig aneinander."

Weiteres: Jörg Fisch setzt sich in einer Glosse mit der Metapher der "Aufarbeitung" von Geschichte auseinander. Hubertus Adam stellt ein Projekt von Valerio Olgiati für ein Restaurant am Caumasee vor. Und von Wolfgang Lange erfahren wir, dass das von Ernst Jandl mit begründete Colloquium Neue Poesie in Bielefeld trotz großen Erfolgs beim Publikum eingestellt wird, weil Sponsoren fehlen.

Besprochen wird die Ausstellung "Griechische Klassik - Idee oder Wirklichkeit" im Berliner Gropius-Bau.

TAZ, 06.05.2002

Uwe Rada war in der Niederlausitz unterwegs, anlässlich der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land. Er beschreibt, wie die Funktionäre die Lage gerne sähen: "Es war einmal Naturlandschaft. Dann kam die Industrie mit ihren Baggern und Abraumförderbrücken und begann mit ihrem Werk der Zerstörung. Doch nun, am Ende der Industrialisierung, wird alles wieder so schön wie vorher. Zumindest in der Lausitz." Nämlich in Gestalt einer renaturalisierten Seenlandschaft. Es sind jedoch eher unbequeme Fragen, die sich ihm auf seiner Reise stellen: "Was aber, wenn das utopische Bild eines Sees inmitten der Marslandschaft nicht hält, was es verspricht? Wenn es in Großräschen weder eine Zukunft als Industrielandschaft noch als Arkadien gibt? Wenn der Lausitz ein ähnliches Schicksal droht wie dem Potsdamer Platz, der nach Fertigstellung alle Bilder von der Zukunft der Stadt vergessen ließ?"

Unterm Strich erfahren wir von britannischem Ärger für John Malkovich und einer neuen Lindenberg-Revue.

Sonst nur Tom.

FAZ, 06.05.2002

Michael Althen denkt noch mal über Erfurt nach: "Es hat .. seinen guten Grund, wenn jetzt die Waffengesetze verschärft werden sollen und über Gewaltdarstellung in den Medien geredet wird. Aber Zweifel sind angebracht, ob all die runden Tische irgend etwas bewirken werden. Allein die Aufmerksamkeit, mit der diese Tat bedacht wird, birgt ein Potenzial für weitere Täter. Es heißt, der Todesschütze habe umfangreiche Informationen über das Massaker in Littleton auf seinem Computer gespeichert gehabt - er gilt deshalb als 'Nachahmungstäter'. Hat er also nachgeahmt, was er im Kino gesehen oder am Computer erlebt hat, oder ging er doch nur den Weg, den die Medien ihm zwangsläufig vorgezeichnet haben...? Die Diskussionen werden niemanden abschrecken, sondern dem nächsten Verrückten den Weg weisen. Und dennoch muss man sie führen."

Weiteres: Andreas Platthaus beschreibt die Stimmung in der Fußballmeisterstadt Dortmund, und Andreas Rossmann stellt fest, dass "Samstags um sechzig der Himmel über Leverkusen weint". Jörg Magenau resümiert eine Autorentreffen auf Schloss Elmau, wo die Autoren auf Geheiß Matthias Polityckis ihre Gedanken in Fünfminuten-Statements improvisieren mussten. Christian Welzbacher stellt eine Wohngebäude der Architektentruppe MVRDV (mit ihrer genialen Homepage) in Amsterdam vor. Walter Haubrich gratuliert dem chilenischen Autor Ariel Dorfman zum Siebzigsten. Eberhard Rathgeb war zu einer Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Turin eingeladen. Andreas Rossmann gratuliert dem Schauspieler Fritz Lichtenhahn zum Siebzigsten. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften.

Auf der Medienseite erzählt Michael Hanfeld, wie er den letzten Tag der Fußballmeisterschaft bei Premiere betrachtete. Jordan Mejias berichtet über zähe Gerüchte, dass Bill Clinton eine Talkshow im amerikanischen Fernsehen angeboten werden könnte. Und von Michael Hanfeld erfahren wir, dass die moralische Instanz Harald Schmidt einen Medienpreis nicht von seinem Konkurrenten Johannes B. Kerner in Empfang nehmen will - weil dieser am Abend nach dem Massaker von Erfurt auf Sendung ging. Auf der letzten Seite schildert Roland Kany einen Streit um die Ausstellung "Feinkost Adam" der Künstlerin Anna Adam im Jüdischen Museum Fürth. Jürgen Kaube zeichnet ein Porträt des einst aus Berlin vertriebenen Stephen M. Kellen, der heute als New Yorker Bankier die American Academy in Berlin unterstützt. Und Michael Gassmann berichtet von Wandgemälden deutscher Gefangener, die man in ehemaligen Lagergebäuden in Großbritannien wiederentdeckte.

Besprechungen gelten Musiktheaterstücken von Manfred Stahnke und Gerhard E. Winkler bei der Münchner Biennale, dem Dokumentarfilm "Im toten Winkel", in dem Andre Heller die ehemalige Hitlersekretärin Traudl Junge porträtiert, eine Kirchner-Retrospektive in der Fondazione Mazotta in Mailand, dem Film "Blade 2" und Schillers Stück "Kabale und Liebe" im Hamburger Thalia Theater.

FR, 06.05.2002

Marcia Pally berichtet in der neuesten Ausgabe ihrer Flatiron Letters, wie gut die kleinen und großen europäischen Katastrophen fürs amerikanische Ego sind: "Le Pens Wahlerfolg fanden wir toll. Endlich ein Land mit einer Rechten, die noch rechter ist als unsere Rechte - schließlich würden nicht einmal die Republikaner erklären, man müsse die Geburtenraten der 'Amerikaner' (also der 'Weißen') erhöhen oder alle Schulkinder zu patriotischen Veranstaltungen abordnen. Wenigstens würden sie es nicht laut sagen." Auch die große Aufmerksamkeit, die das Massaker von Erfurt in den USA gefunden hat, begründet sich durch mehr als nur klammheimliche Freude, meint Pally: "Doch während Le Pen unser Ego nur ein bisschen gefüttert hat, zaubert Robert uns ein großes Grinsen auf die Lippen. Endlich sind wir und unsere Kinder nicht mehr die gewalttätigsten Brutalos der Welt."

Wie sensibel in Deutschland derzeit reagiert wird, demonstriert eine Meldung eher am Rande. Die Ausstellung des norwegischen Aktionskünstlers Bjarne Melgaard (mehr zum Künstler hier) in Herford wurde wegen zu expliziter Gewaltdarstellung abgesagt: "Bjarne Melgaard setzt für seine Installationen Bilder aus dem Internet ein; Themen sind Selbstmord, Satanismus und andere Formen von Gewalt. Zur Ausstellungseröffnung wollte der Künstler unter anderem eine Ziege in einen Latexanzug zwängen." Letzteres hatte allerdings zuvor schon das Veterinäramt aus Tierschutzerwägungen verboten.

Außerdem: Hans-Klaus Jungheinrich hat auf der Münchner Musiktheater-Biennale - bisher, jedenfalls - die gut erzählte Avantgarde vermisst, und für Peter Idens Geschmack ist Michael Thalheimers Hamburger "Kabale-und-Liebe"-Inszenierung allzu kurz, ja verkürzt geraten. Der Times-Mager-Kolumnist hat zwei junge Frauen beim U-Bahn-Gespräch über 80er-Jahre-Musik belauscht.

Besprochen werden zwei Bücher zur Situation deutscher Sinti und Roma nach 1945, Ian Burumas Studie zur Anglomanie und der letzte Band von Michael Manns "Geschichte der Macht" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).