Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2002. In der FAZ wenden sich Marc Höpfner und Stewart O'Nan gegen rhetorische Klischees über die Gewalt. Die taz denkt über Regeln für die Nahostdebatte nach. Die FR sieht "Gründe, Inhalte und Anlässe" für den Rechtspopulismus in Frankreich und anderswo. Die SZ entlarvt die Zufriedenheit über den Wahlausgang in Frankreich als "Lebenslüge". Die NZZ beobachtet den Triumph der reaktionären Greise im italienischen Theater unter Berlusconi.

FAZ, 07.05.2002

Marc Höpfner, Autor eines Romans mit dem visionären Titel "Pumpgun", schreibt über eine Generation, die Gewalt und Tod nur aus dem Fernsehen kennt: "Die Kontamination unserer Wahrnehmung erfolgt, wie der Besuch des Leichenbestatters, auf diskrete und verständnisvolle Weise. Die Bilderwelten der Medien, massenhaft wirksam in Fernsehen und Internet, durchdringen die Sphäre tatsächlicher Gegenstände und selbstgemachter Erfahrungen mit dem Versprechen, unsere schlimmsten Feinde zu besiegen: die Langeweile, die Einsamkeit und das Bewusstsein unserer Durchschnittlichkeit."

Auch der amerikanische Autor Stewart O'Nan ("Das Glück der anderen") befasst sich mit Erfurt und wendet sich gegen rhetorische Klischees, wie sie in solchen Fällen bemüht werden: "Das Tragische an der Tragödie ist nicht, wie Kanzler Schröder meinte, dass sie unvorstellbar ist, sondern dass sie vorstellungslos, viel zu platt ist. Der schwarzmaskierte Schütze, der todbringend von Zimmer zu Zimmer geht, ist ein bekannter Typus aus Videospielen - genau wie der Schüler, der wochenlang plant, dann sein Gewehr einpackt, zur Schule fährt, um seinen Frust loszuwerden, ein alter Topos ist, ein abgestandener Tagtraum, den frustrierte Teenager von Zeit zu Zeit haben." (Übrigens fällt uns hier eine Differenz zwischen Papier- und Internetausgabe der FAZ auf: Auf Papier ist von "altem Tropus" die Rede, im Internet von "altem Topos".)

Weiteres: Eduard Beaucamp berichtet neue Details über die Zeit, die Caravaggio auf Malta verbrachte - er war in Gewalttaten verstrickt, saß im Kerker, malte eines seiner gewalttätigsten Bilder und floh von der Insel. Eleonore Büning schreibt ein Profil des Washingtoner National Symphony Orchestras, das unter Leonard Slatkin auf Europatorunee geht. Michael Gassmann kommentiert die Wahl Dieter Salomons zum Freiburger Oberbürgermeister - der erste Grüne, der das in Deutschland je schaffte. Hannes Hintermeier gratuliert dem bayerischen Satiriker Gerhard Polt zum Sechzigsten. Niklas Maak stellt ein Wohnhaus des Architketen Michael Peter in der Berliner Cantianstraße vor. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Dirigenten Jewgenij Swetlanow. Walter Hinck schreibt zum Tod des Autors Manfred Bieler, und Gina Thomas gedenkt des ebenfalls verstorbenen Ökonomen Peter Bauer.

Auf der Medienseite erzählt Josef Oehrlein über das gespannte Verhältnis der venezolanischen Medien zu ihrem Operetten-Präsidenten Chavez. Und Michael Hanfeld klärt uns über erste Zweifel an den Erzählungen des Geschichtslehrers Heise aus Erfurt auf. Auf der Bücher-und-Themen-Seite liest Edo Reents einige klassische Bücher, die sich mit Gewaltverhältnissen an Schulen befassen (zum Beispiel Dickens' "David Copperfield"). Auf der letzten Seite meldet Siegfried Stadler, dass das Leipziger Reichsgerichtsgebäude nunmehr renoviert an das Bundesverwaltungsgericht übergeben wird. Henning Ritter schreibt ein kleines Profil des Berliner Philosophen Klaus Heinrich, der den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa erhält. Und Anja-Rosa Thömig berichtet von der traurigen Erfahrung eines Liederabends, in dem das Handy dreimal klingelte.

Besprochen werden Alexander Ostrowskijs Stück "Wald", inszeniert von Tas Ascher, in Wien, das Dokumentarfilmfestival von Nyon und ein Konzert des auf Deutschland-Tournee befindlichen HipHop-Interpreten Busta Rhymes.

TAZ, 07.05.2002

Stefan Reinecke diagnostiziert angesichts der laufenden Nahost-Debatten ein "Deja-vu-Erlebnis": "1982, 1991, 2002, same procedure as every decade. Die identitätspolitische Aufladung scheint ungebrochen, die Argumente werden so forsch vorgetragen, als wäre es das erste Mal. Die deutsche Israel-Debatte ist eine Diskussion um Historie, die erstaunlich blind für ihre eigene Geschichtlichkeit ist." Reinecke diskutiert seine Thesen vom beharrlichen "Tunnelblick" und "Bekenntniszwang" anhand aktueller und historischer (Politiker)-Zitate, und schlägt am Ende seines Textes vor, "drei Diskursregeln einzuhalten, die schon vor zwanzig Jahren gefordert wurden: 1. Deutsche, die Israel kritisieren, müssen Naziassoziationen weiträumig umfahren. Nazivergleiche sind in aller Regel rhetorische Aufrüstungen ohne analytischen Wert ... 2. Es ist nicht erlaubt, andere als Antisemiten zu verdächtigen, wenn dies nicht präzise belegt werden kann. 3. Wer mitredet, sollte überprüfen, ob er nicht selbst Opfer projektiven Denkens ist. Er sollte sich vergegenwärtigen, dass es in Nahost um einen tragischen Kampf zweier Gesellschaften geht, die beide legitime Ansprüche erheben. Unsere Empathie sollte beiden Seiten gelten."

Weitere Artikel: Cornelius Tittel porträtiert den Hip-Hopper Mike Skinner alias The Streets, der in England als Popsensation des Jahres gilt. Thomas Girst stellt die "weltweit erste Retrospektive" der Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven (1874-1927) vor, einer "Performancekünstlerin avant la lettre". Und Esther Kochte berichtet von ihrem Besuch bei den Kinderbuchillustratoren vom Atelier gute gründe in Berlin. Und auf der Meinungsseite kommentieren Daniel Cohn-Bendit und Martin Altmeyer die französischen Präsidentschaftswahlen.

Rezensiert werden "richtig fiese Kinderbücher", zwei Kanzlerbiografien und ein Porträt der afghanischen Frauenorganisation Rawa (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

FR, 07.05.2002

Auch die FR kommentiert noch einmal die französischen Präsidentschaftswahlen. Autor Karl Grobe sieht im grassierenden Populismus eine Antwort auf die Gesellschaftskrise. Und dieser "Populismus hat Gründe, Inhalte und Anlässe. Der erste Grund ist benannt: die Abkoppelung der Prozesse, die sich innerhalb der Machtelite abspielen, von jenen, welche in der Gesellschaft vor sich gehen. Die regierenden Parteien werden einander zum Verwechseln ähnlich. Die Konkurrenz realer und potenzieller Machteliten, die auf unterschiedliche Weise und mit unterscheidbaren Programmen um die politische Gestaltungsmacht kämpfen, ist außer Kraft gesetzt; Programme verschleißen sich bis zum Grenzwert null, Inhalte (und deren Unterschiede) sind mit unbewaffnetem Auge kaum mehr wahrnehmbar. Es geht dann noch um Personen."

Claus Leggewie empfiehlt ein Modell kommunaler Bürgerbeteiligung in der südbrasilianischen Stadt Porto Allegre als ein "Exempel zivilgesellschaftlicher Mitwirkung". Schon "1989 führte dort die regierende Arbeiterpartei PT einen 'Beteiligungshaushalt' ein. ... Die Initiative bleibt weiter bei den Dezernaten der Stadtverwaltung, die letzte Entscheidung beim gewählten Stadtrat. Aber auf mehreren Stufen beteiligen sich Delegierte aus 16 Stadtbezirken maßgeblich an der Aushandlung der Schwerpunkte, die in fünf Themenforen diskutiert und ermittelt werden. ... Dieses Schema, zwischen bloßer Konsultation und imperativem Mandat angesiedelt, ist weit mehr als eine Spielwiese für Freizeit-Politiker und Querulanten, auch kein Selbstbedienungsladen für mächtige Interessengruppen: Über 20 000 Bürger beteiligen sich Jahr für Jahr."

Doris Liebermann informiert über den Kampf slowakischer Juden um Rückerstattung ihrer beschlagnahmten Vermögen: "Für 57 837 Juden ergab sich eine Summe von 28 918 500 Reichsmark, das entspricht heute 76 610 330 Euro. Zwei Drittel des Geldes flossen 1943 über ein Konto bei der Nationalbank der Slowakei an das Deutsche Reich. Testamente oder Vollmachten wurden vor der Abfahrt in die Vernichtungslager nicht geschrieben. Deshalb hat der Zentralverband der Jüdischen Gemeinden der Slowakei nach Auffassung des Berliner Landgerichts heute keine Legitimation, um die 'Deportationsgebühren' von der Bundesrepublik zurückzufordern."

Weitere Artikel: Berichtet wird über Music-Videos auf den Oberhausener Kurzfilmtagen und über die erste Feier zum 75. Geburtstag von Günter Grass - die in Brasilien stattfand.

Besprochen werden eine Ausstellung des irischen Konzeptkünstlers James Coleman im Münchner Lenbachhaus, ein preisgekrönter "Fidelio" in Wiesbaden (mehr hier), die Uraufführung von Kristo Sagors "Unbeleckt" in Heidelberg (mehr hier) und der Beitrag der amerikanischen Choreografin Meg Stuart zum Berliner Theatertreffen.

NZZ, 07.05.2002

Gianfranco Capitta berichtet von dramatischen Szenen an italienischen Theatern unter Berlusconi. Finanziell unterstützt werden soll nur noch das populäre Boulevardtheater, wichtige Theaterregisseure wie Mario Martone und Massimo Castro würden durch Event-Programm-Manager oder reaktionäre Greise wie Franco Zeffirelli, Giorgio Albertazzi oder Giuseppe Patroni Griffi ersetzt. In Gefahr sind, so Capitta, vor allem "jene von den institutionellen Obrigkeiten abhängigen Spielstätten, die bislang in hohem Maß der theatralischen Recherche - dem Ausprobieren neuer Formen und Inhalte - zur Verfügung standen."

In ihrer Reihe "Russland, persönlich" porträtiert Maja Turowskaja Jegor Jakowlew, ein Mann der ersten Perestroika-Stunde und ehemaliger Chefredakteur der Zeitung "Moskowskije Nowosti" ("Moscow News"): "Wie Twardowskis 'Nowy Mir' zu Chruschtschews Tauwetterzeit war auch Jakowlews 'MN' nicht die Summe einzelner Spalten, sondern eine einheitlich gestaltete Zeitung, ein nicht nur journalistisches, sondern auch soziales Phänomen, für künftige Historiker ein Leckerbissen. Die Sehnsüchte, Experimente und Illusionen jener Zeit hinterließen deutliche Spuren. Der Chefredaktor braucht nicht zu bedauern, dass er sich später gezwungen sah, 'MN' einem Freund und Gesinnungsgenossen zu überlassen: Die Zeit der 'MN' war mit jener Ära abgelaufen, und es war wohl besser, dass Jakowlew das Ende nicht selbst erlebte." Heute gibt Jakowlew die Wochenzeitschrift "Obschtschaja Gaseta" heraus.

Weitere Artikel: Samuel Herzog stellt einen neuen Kunstraum in Paris vor: "Le Plateau" im Osten der Stadt hat sich wie das Palais de Tokyo im Westen der zeitgenössischen Kunst verschrieben. Abgedruckt ist der Anfang der Erzählung "Le roi du bois" von Pierre Michon.

Besprochen werden Herbert Wernickes letzte Inszenierung, Händels "Israel in Egypt" im Theater Basel, eine Ausstellung mit architektonischen Arbeiten von Vito Acconci im Aspen Art Museum, Colorado und Bücher, darunter ein neuer Erzählband von Matthias Zschokke (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 07.05.2002

Johannes Willms analysiert den Ausgang des zweiten Wahlgangs in Frankreich als "große Lebenslüge", die die "Sinnkrise der Republik noch weiter verschärfen" werde: "Der eindeutige Wahlsieg Chiracs über Le Pen schafft alles andere als Klarheit. Dieser Sieg, der einhellig als Plebiszit für die Republik gewertet wird, ist nüchtern betrachtet nichts anderes als das Ergebnis einer Erpressung. Der französische Wähler ... musste die Kröte Chirac schlucken, wollte er nicht vom Krokodil Le Pen verspeist werden. Für diese Zwangslage wird sich der Wähler bei den Parlamentswahlen (im Juni) zu rächen suchen."

Auf Seite 3 wird großräumig gewürdigt: Hermann Unterstöger gratuliert Gerhard Polt zum Sechzigsten. "An Deutern der Poltschen Kunst hat es nie gefehlt. Fast denkt man, sie wären gerade dadurch angelockt worden, dass es bei Polt so wenig Deutenswertes zu geben scheint: keine gesellschaftskritische Theorie, kein politisches Programm, kein philosophisches System, kein Überbau. Nur Unterholz gewissermaßen, ein Gestrüpp von banalen Verhältnissen und banalen Personen. ... Wer je sich in die Gefahr begibt, ihn zu fragen, was er denn ... eigentlich habe sagen wollen, der kommt darin um, indem Polt ihn unweigerlich mit der hiesigen Allerweltsfloskel 'Ja mei' abspeist, also verhungern lässt. "

Weitere Themen: Stefan Koldehoff erzählt Neues vom wieder aufgetauchten teuersten Gemälde der Welt, van Goghs "Porträt des Dr. Gachet". Alexander Kissler berichtet über Pläne von Saddam Hussein, die Bibliothek des Assurbanipal neu zu gründen. Henning Klüver hat einer kunsthistorischen Diskussion über Leonardos Frühwerk "Anbetung der Weisen" in den Uffizien zugehört. Marcus Krämer schreibt über eine Tagung der Katholische Akademie in Bayern, wo es um den "Gott Geld" ging, und Thomas Meyer war auf einer Tagung der Universität München über die "Rolle der Juden im Sport zwischen 1900 und 1950".

Zu lesen ist außerdem ein Zeitschriftenstreifzug zum Thema "Sabbatical", die fünfte Folge von Benjamin Henrichs "Tagebuch Theaterwahn", eine kleine Gratulation zum Siebzigsten an Nuria Nono-Schoenberg und eine kurzer Nachruf auf den MGM-Regisseur George Sidney (u.a. "Kiss me Kate"). Dip. berichtet über einen Zensurfall in Herford , wo dem Museumsprojekt "Marta" staatsanwaltlich "die Menschenwürde verletzende Gewaltdarstellungen" bescheinigt wurden. Und cjos. gibt einen Hinweis auf den Schlagabtausch zwischen Alexander Kluge und Oskar Negt über das Thema Krieg, der im Sommer auch in Kluges TV-Kulturmagazin "10 vor 11" ausgestrahlt werden soll.

Besprochen werden der neue US-Kinokassenhit "Spider Man", Jan Sveraks Kriegsfilm "Dark Blue World", Andre Hellers Dokumentarfilm "Im toten Winkel" über Hitlers letzte Sekretärin, eine Uraufführung nach 329 Jahren auf den Ruhrfestspielen in der Eisenlagerhalle Marl: Hansgünther Heyme inszenierte Daniel Caspar von Lohensteins Tyrannendrama "Ibrahim Sultan", Alexander Ostrowskis Stück "Der Wald" am Wiener Akademietheater, eine Aufführung des Händel-Oratoriums "Israel in Egyp" in Basel (mehr hier), ein Konzertabend der Münchner Philharmoniker mit Musik von Widmann, Staude und Höller und Bücher, darunter ein Band über Schweizer Architektur und Romane von Margit Schreiner und Jim Crace (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).