Vorgeblättert

Uwe Timm: Der Freund und der Fremde. Teil 3

22.08.2005.
Bemüht und ziemlich kühn und selbstgewiß klingt das. Der Schreiber ist eben zwanzig geworden, und mich überrascht aus heutiger Sicht, wie weit er sich damals hinausgewagt hat, in einer doppelten Bedeutung, wie frei er von seinem Bildungsplan spricht, ohne sich bei einem möglichen Scheitern einen Rückzug offenzulassen, und dann das andere Hinauswagen - er war weit gereist. Reisen ins Ausland waren in der Zeit keineswegs selbstverständlich. Erstaunlich auch, wie er auf dieser Reise das sich selbst auferlegte Bildungsprogramm verfolgt hat. Es schloß vor allem auch dies ein, sich der fremden Sprache auszusetzen, ein Jahr in Frankreich zu leben, zu malen, zu lesen und sich mit Gelegenheitsarbeiten den Lebensunterhalt zu verdienen, in viele Schichten der Gesellschaft einzudringen, auch sprachlich.

Ich hatte das Kürschnergeschäft vom 1958 verstorbenen Vater übernommen und leitete es, bis es entschuldet war, bis zum 30. April 1961. Das war der Tag, an dem ich mit zwei Koffern und einem Karton Geschirr nach Braunschweig fuhr, in meinem Auto, einem VW-Kabriolett, das ich schon verkauft hatte. Ein letztes Mal fuhr ich den Wagen, und ein Freund, der mich begleitete, würde ihn nach Hamburg zurückfahren.

Warum dieser Umweg? Warum hatten diese Jungen nicht den gewöhnlichen Weg, der von der Schule zum Gymnasium bis zur Hochschulreife und dann zum Studium führt, genommen? Warum war der eine auf der Mittelschule, der andere, ich, auf der Volksschule geblieben?

Sein älterer Bruder Willibald erzählt, als die Mutter starb, der Vater mit den drei Söhnen zurückblieb, ­fehlte es nicht nur an Geld, sondern auch an Zeit für die Kinder. Später heiratete der Vater nochmals, und aus dieser Ehe stammt noch ein weiterer Sohn, der wesentlich jüngere Halbbruder der drei anderen. Die älteren Kinder sollten möglichst schnell mit der Schule fertig werden, damit sie Geld verdienen konnten. Danach würde man weitersehen. Vor allem dieses: Ein Beruf ist wichtig. Tatsächlich haben die drei älteren Brüder ihre Hochschulreife nachgeholt und studiert, der Älteste Mathematik und Physik, er wurde Lehrer, der Jüngere Theologie, er wurde Pastor. Und er, der Mittlere, hatte, bis zu seinem Tod, Romanistik und Germanistik studiert.

Und der andere Junge, der ich einmal war? Er war auf der Volksschule zurückgeblieben, nicht allein, weil seine Leistungen in Mathematik und Deutsch zu wünschen übrigließen, wie es hieß. Der Vater hatte bestimmt, er solle auf der Volksschule bleiben. Vielleicht, weil er ihm ein Probejahr ersparen wollte, denn für einen sofortigen Wechsel war seine Deutschnote zu schlecht. Der Junge zeigte einen störrischen Widerwillen beim Erlernen der Orthographie. Warum schrieb sich der Schwan, der doch zwei Flügel hatte, nur mit einem a. Ein Stutzen, Überraschtsein. Und doch schrieb er inbrünstige Aufsätze, ausufernd und in seiner Rechtschreibung. Vielleicht hatte der Vater ihn darum nicht für den Übergang zum Gymnasium angemeldet, vielleicht wollte er, der so viel auf Ehre hielt, ihn vor der Schmach einer Rückversetzung schützen. Gewiß aber war diese Überlegung des Vaters: Die Nachfolge für das Geschäft mußte gesichert werden. Das Kürschnergeschäft, das der Vater aufgebaut hatte und das ihm die so hochbewertete Selbständigkeit gewährte. Der Junge sollte das Geschäft später nicht nur übernehmen und weiterführen, sondern ausbauen und möglichst zum größten in Hamburg machen.
     Jahre später, als der Achtzehnjährige das Geschäft nach dem Tod des Vaters übernahm, war die Selbständigkeit nur noch eine von den Banken geborgte.

Das Gymnasium lag nicht weit von der elterlichen Wohnung entfernt, ein großer Backsteinbau aus den zwanziger Jahren. Aus Furcht, einem der früheren Freunde zu begegnen, die nach dem Schulwechsel von der Grundschule auf das Gymnasium gegangen waren und immer seltener und schließlich nicht mehr zu ihm zum Spielen nach Hause kamen, wählte der ­Junge komplizierte Umwege, wenn er zum Handballtraining in die hinter dem Gymnasium gelegene Turnhalle ging. Er wollte keine gutgemeinten Ratschläge hören, vor allem wollte er kein Mitleid. Der Stolz setzt ja die ­eigene Verantwortung voraus, die Entschiedenheit, ­alles Versagen, aber auch alles Gelingen in sich selbst zu suchen.

Der Erinnerungsraum, der die Schulzeit umfaßt, ist voller Düsternis.
     Das Kind hatte Angst vor körperlicher Gewalt, raufte nicht gern, ging jeder körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg, wurde gerade dadurch das Opfer des Schlägers in der Klasse, Bodo A., ein kleiner, aber kräftiger Schüler, stärker als alle anderen und etwas älter. Er wartete auf dem Nachhauseweg, und ein Weglaufen war hoffnungslos, denn Bodo A. hatte seine Handlanger, zwei eher schmächtige schadenfrohe Kinder aus der Klasse, die sich seinen Prügeln entzogen, indem sie ihm den Ranzen trugen.

Auch wenn ich Umwege auf dem Nachhauseweg machte, lange, verwinkelte, kam er mir unerwartet wie in einem Schreckenstraum an einer fernen Straßenecke entgegen. Um ihm zu entgehen, wünschte sich das Kind sehnlichst, erwachsen zu sein. Bis zu dem Tag, als in der Schule die Weihnachtsgeschichte aufgeführt wurde und das Kind, ich, den Engel der Verkündigung spielte, eingehüllt in ein Bettlaken. Unten in der Aula saß Bodo A., der keine Rolle bekommen hatte, wie gebannt saß er da, erzählte später meine Mutter - und da ich in seine Richtung den Menschen ein Wohlgefallen und Frieden auf Erden verkündete, muß er sein Damaskuserlebnis gehabt haben, prügelte mich von da an nicht mehr, sondern schützte mich vor anderen Schlägern. Blieb er sitzen? Ich weiß es nicht, jedenfalls verschwand er aus der Klasse und von der Schule.
     Mehr als fünfzig Jahre später sah ich ihn in einer Hamburger Zeitung abgebildet - ein pensionierter Kriminalkommissar, der für eine rechte Partei als Abgeordneter in die Bürgerschaft eingezogen war.

Der Versuch, sich die Angst wie den Schmerz abzutrainieren. Schmerzproben. Laufen bis zum Schwindeligwerden, sich in die Wange stechen.

Im zweiten Lehrjahr kam ich eines Abends spät aus der Firma. Es mußte ständig etwas nachgearbeitet oder vorbereitet werden, so daß der festgeschriebene Achtstundentag tatsächlich ein Neunstundentag und in der Saison sogar ein Zehnstundentag war. Ich traf einen - meinen ehemals besten - Freund, der zum Gymnasium gewechselt war, wieder, er trug einen kleinen schwarzen Koffer. Ein Kornett.
     Der ehemalige Freund war auf dem Weg in einen Jazzkeller, wo er in einer Schülercombo spielte.

Ich ging nach Hause, legte die Schallplatte von Sidney Bechet auf und hörte mich, der nicht ich und doch auch ich war, Klarinette spielen, versunken und zugleich doch ganz außer mir, spielte ich ein langes wunderbares Solo.
     Ähnlich waren meine Versuche zu schreiben, ein Schreiben, das mich in mich hinein- und zugleich aus mir herausführte.

Wo hast du bloß deine Gedanken, wurde ich vom Werkmeister gefragt.

Der Junge, der ich einmal war, wurde erwachsen, kaum sind mir Einzelheiten dieses Übergangs in Erinnerung geblieben. Ein Staunen über die ersten Haare am Geschlecht. Flaum am Kinn. Das Betrachten eines Zeitschriftenfotos, das die nackte Hildegard Knef in Die Sünderin zeigte. Die beunruhigende Nähe einer Frau in der Straßenbahn, im Bus, im Sommer, der Rock, Parfumduft, ähnlich dem heutigen Tempore, erregend, die Hüften, das kurze zufälligzarte Streifen des Busens beim Aussteigen. Der Lehrling vergaß die einfachsten Aufträge. Die Eindrücke waren wie in Watte verpackt. Die Erinnerung: Schatten hinter Milchglasfenstern. Ich sollte einen Mantel in einer etwas entfernten Werkstatt abholen, kam dort an und wußte nicht mehr, was ich holen sollte. Ich stolperte oft. Auf den Fotos sehe ich aus, als sei ich eben geweckt worden. Was nicht so falsch war, denn ich war woanders, schreckte auf, wenn man mich ansprach, wie auf dieser Fotografie, als man mir gesagt hatte, ich solle die Hände aus den Taschen nehmen. Ich war eben fünfzehn geworden. Ich hörte vom Hafen das Dröhnen der Niethämmer, die Schiffssirenen, wenn sich unten - die Werkstatt lag im fünften Stock - der Nebel in der Straße drängte.

Von den drei Lehrjahren waren zwei Monate die glücklichen. In dieser Zeit war ich mit mir allein und mußte nicht auf Akkord arbeiten. Der Ausbildungsvertrag verbot zwar Akkord für Lehrlinge, dennoch mußten sie, wenn sie einem Gesellen zuarbeiteten, ihre Arbeitszeit abstempeln, die Zeit wurde dem Gesellen abgezogen, also vom Lohn. Zeit war - und das nicht nur sprichwörtlich - Geld. Das Sortieren von Persianerstücken hingegen war fast zeitlos.
     Die Fellstücke waren bei der Herstellung der Mäntel abgefallen und in Säcken gesammelt worden. Sie wurden nach der Form der Locke und nach ihrem Glanz in verschiedene Kästen sortiert, aus denen sie später entnommen, in Bahnen zusammengenäht und zu minderwertigen Mänteln verarbeitet wurden. Eine Arbeit, die keine Konzentration erforderte, eher jene Langeweile erzeugte, von der Walter Benjamin sagt, sie sei der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. So konnte ich in diesem ruhigen Tun meinen Tagträumen nachhängen.
     Der Raum lag von der Werkstatt ausgegliedert in einem Bürogebäude. Die beiden Fenster führten auf einen Innenhof. Gegenüber, keine sechzig Meter entfernt, lagen die Büros einer Versicherungsgesellschaft. Dort saßen die Angestellten an den Schreibtischen, Männer und Frauen, telefonierten, schrieben, redeten, gut ausgeleuchtet von den Neonröhren und Schreibtischlampen, die, jetzt im November schon am frühen Nachmittag, wenn die Dunkelheit sich im Innenhof sammelte, angeschaltet waren. Am Abend, gegen sechs, verlöschten fast alle Lichter wie auf Kommando. Nur in dem einen oder anderen Büro blieb es noch ein wenig länger hell. Einmal standen in einem Büro zwei Männer einander gegenüber, redeten, gestikulierten, unbeherrscht, als könnte jeden Moment der eine den anderen schlagen. Ein andermal saß eine Frau am Schreibtisch, drehte die Lampe zu sich, auf ihr Gesicht gerichtet, zog die Lippen vor dem Taschenspiegel nach, spitzte prüfend den Mund, steckte den Spiegel in die Handtasche, stand auf, schob den Rock hoch und strapste die Seidenstrümpfe fest. Sie nahm die Handtasche, ging zur Tür und löschte das Licht.
     Wie verheißungsvoll die plötzliche Dunkelheit war.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch

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