Vorgeblättert

Uta Ruge: Windland, Teil 3

01.09.2003.
Ich bin an jenem Tag, als ich Mandelkow besuchte, auch nach Belno gefahren. Ich wollte sehen, was geblieben ist von dem Ort der uniformierten jungen Frauen, an dem sie mit gleichgemachten Gesichtern um die Fahnenstange standen und das Hakenkreuz gegrüßt hatten.
Lange ging es auf der Fernstraße von Stettin nach Danzig gen Norden. Nach der Abfahrt bei Nowogard, damals Naugard, durchfuhr ich stille Ortschaften, die Häuser umstanden von Holunderbüschen und frischen Brennnesseln. Alte Kastanien und Eichen zählten das Alter der Landschaft vor, deuteten auf Herrensitze, die es nicht mehr gab. Oft sah ich Menschen an den Straßenrändern stehen und miteinander reden, manche fuhren auf einsamen Strecken mit dem Fahrrad, viele Frauen und alte Männer hatten Taschen und Eimer dabei - vielleicht sammelten sie Holunderblüten für eine Suppe, wie unsere Mutter sie uns früher gekocht hatte. 
In der kleinen Stadt Resko, ehemals Regenwalde, überquerte ich die Brücke über das Flüsschen Rega und sah, dass nur noch eine der schmiedeeisernen Lampen ihr Geländer schmückte, die ich aus dem Album meiner Mutter kannte. Da stand sie im dicken Arbeitsdienstmantel mit einer Freundin auf der beschneiten Brücke; auf der Rückseite des Bildes steht "Ausflug von Boltenhagen nach Regenwalde". 
Kurz vor Belno ein Ortsschild ohne Ort: Molstowo. Von der Straße aus sichtbar unter großen Eichen das Skelett eines Herrenhauses, das Dach abgedeckt vom Wind, das Mauerwerk geschwärzt von Regen und Schnee. Aus den tür- und fensterlosen Nebengebäuden wuchsen offenbar seit Jahrzehnten ungestört Birken. Die Sonne vergoldete mir die letzten Kilometer des Weges, eine schön geschwungene Straße führte in lang gestreckter Kurve auf die kleine Anhöhe zu, wo hohe Bäume wieder ein Herrenhaus ankündigten. Unter ihnen aber war nichts als ein verschlammter Teich, in dem sich Enten und Gänse vergnügten. Belno besagte das Ortsschild. Ich bog in eine kleine Straße und fand, wie in Mandelkow, die nutzbar gemachten kleineren Gebäude, auf Balkonen und aus Fenstern heraus Satellitenantennen. Davor standen blanke Autos. Kleine Kinder spielten an der Erde, ein altes Paar holte Kartoffeln aus der Miete im Hof. 
Hier hoben selbst Kühe, die unter Obstbäumen und Holunder weideten, noch den Kopf und schauten einem vorbeifahrenden Auto nach. Auf meinem Spaziergang sprach mich ein alter Mann an. Auch er kam aus Lemberg. Das alte Herrenhaus? Das war zu kalt, ist schließlich kaputtgegangen, weil keiner drin wohnen wollte. Die Steine konnte man gebrauchen. 
Trotz meiner Kopfschmerzen von der einsamen Fahrt dieses langen Tages war ich, an diesem verschlammten Teich stehend, plötzlich sehr erleichtert. Als hätte ich ein geheimnisvolles Tor geöffnet, hinter dem sich, statt der Ungeheuerlichkeiten der Geschichte, dem Spuk uniformierter Mädchen beim Fahnehissen, ein schöner wilder Garten verbarg.

Mein Vater und meine Tante haben ihren freien Tag genossen; sie haben Verwandte in Breege besucht, sind auf Türme geklettert für Blicke über die Insel und am Strand von Juliusruh spazieren gegangen. Sie haben sich auch mit der Wittower Fähre übersetzen lassen, na Rügen, und mein Vater muss jetzt noch schnell die Geschichte von Onkel Otto loswerden, also Waldemars Bruder, der sich als Wandsbeker Husar mit seiner schneidigen Paradeuniform zu Weihnachten 1910 auf den Weg nach Hause machte. Trotz Eisgangs fuhr das Fährschiff zwar noch los, blieb dann jedoch viele Stunden im Eis stecken. Onkel Otto zitterte in seinem engen Uniförmchen auf dem eingefrorenen Schiff vor Kälte so gottserbärmlich, dass eine alte Frau ihn mit den Worten "Kümm her, min lütt Jung" auf ihren breiten Schoß einlud, um ihn zu wärmen. 
"Un hei hett sich würklich op ern Schoß sett!", schmunzelt mein Vater. Diese Geschichte kenne ich seit meiner Kindheit, aber wo und was die Wittower Fähre war, habe ich lange nicht gewusst. Jetzt kenne ich auch sie.

"Zurück zum Ausbau", sage ich, "Kriegsanfang."
Es fällt ihnen schwer, den Faden wieder aufzunehmen, sich wieder in diese Zeit hineinzudenken, die sie als Anfang vom Ende auf Rügen empfinden. Lange kramen sie in der Erinnerung, sprechen mal hiervon und mal davon. 
"Jedenfalls", sagt meine Tante, "habe ich im Winter 1939 geheiratet und bin nach Bobbin gezogen, um mit meinem Mann den dortigen Pfarrhof zu übernehmen. Aber erst musste er ja, wie unsere beiden älteren Brüder auch, in den Krieg." 
"Wie hat man auf dem Ausbau auf den Beginn des Krieges reagiert?", hake ich vorsichtig nach. 
"Na, es war natürlich Ehrensache, dass man sein Land verteidigen muss", sagt sie. "Und es ging ja nicht, dass der Verkehr durch den polnischen Korridor, also nach Ostpreußen und Danzig, nur in plombierten Wagen erlaubt war." Die damals vorgeschobenen Kriegsgründe sind bis heute parat. Aber wir haben alle drei wenig Lust auf die ebenso häufig wie fruchtlos geführten Auseinandersetzungen. 
"Wir wussten es nicht besser", sagt mein Vater schließlich und erzählt von dem kranken Zahn, den er sich als Schuljunge in Wiek hatte ziehen lassen. "Das machte Dr. Post in Wiek, der später SS-Mann und auf dem Obersalzberg Zahnarzt war. Mi wiern de Tranen de Backen dallopen. Und stell dir vor, ich hab ihn gefragt, ob ich denn nun, trotz des fehlenden Zahns, noch Soldat werden könnte! So war das damals." 
"Soldat zu sein war also das Höchste?" 
"Natürlich." 
"Aber Mudding war doch sehr schockiert", sagt meine Tante jetzt, "als es hieß: 'Wir schießen zurück.' Denn so wurde es ja dargestellt. Wir Jungen hatten das noch nicht erlebt, die Alten wussten, was Krieg ist."
Heute droht unser Gespräch schon am Anfang zu versiegen. 
"Wurde denn mal darüber gesprochen, dass dieser Krieg ..."
"Nein, kaum ..."
"... oder dass die Nationalsozialisten ..."
"... auch nicht."
"Gab es im Dorf keine Gerüchte über Leute, die sich bereicherten oder vor dem Kriegsdienst drückten?" 
"Vielleicht, aber darüber wurde nicht gesprochen, höchstens geflüstert."
"Zweifelte man nicht ...?"
"Nein, erst ganz zum Schluss."
"Aber was haben Waldemar und Friede gesagt?"
"Die hatten Angst um ihre Söhne, nicht mehr und nicht weniger."
"Ist man denn nicht irgendwann erschrocken, wo das hinführen ...?"
"Natürlich, aber da war es längst zu spät. Als das Wort vom totalen Krieg aufkam ..."
"Nach der Schlacht von Stalingrad?"
"Ja", sagt mein Vater, "damit war der Krieg verloren, nur hat es keiner zugegeben."
"Wie war das für dich als Soldat?", frage ich ihn.
Er hebt die buschigen Augenbrauen und schweigt ungewöhnlich lange. 
"Ich bin Mitte April 1940 eingezogen worden", sagt er dann, "zur Grundausbildung nach Pasewalk. Nach der Kapitulation von Frankreich und Polen hieß es, Bauernsöhne werden entlassen. Dor hebb ick mi empört! Ick wier nu endlich eis rut un kunn wat beläben. Und musste wieder nach Hause." 
"So war das damals", setzt er noch einmal hinzu, als könne er seine Empörung von damals selbst kaum glauben.
"Aber beim Angriff auf Russland warst du wieder dabei."
"Ja", sagt er. "Wir dachten ja erst, dass mit dem Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Russland der Friede gesichert wäre. Die Klügeren wussten es besser. Und dann ging es doch los, im Juni."

Mit freundlicher Genehmigung des Kindler Verlages

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