Vorgeblättert

Ulrich Johannes Schneider: Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Teil 2

29.10.2012.
(S. 196 ff; aus: Enzyklopädie als Medizin)


11. Die Nase in Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts

Heutige Leser der französischen Encyclopédie werden beim Artikel 'Nase' (frz. >nez<) überrascht feststellen, dass es zwei davon gibt: Zwei Artikel über 'Nase' - warum? Eine erste Antwort kann darauf verweisen, dass unter 'Nase' zwei verschiedene Dinge verstanden werden konnten, ein anatomisches Ding und ein literarisches. Nase ist zum einen das Körperteil im Gesicht und zum anderen ein aus der Antike und der Bibel überliefertes symbolisches Wesen.
     Ein Wort mit zwei Bedeutungen also, wie andere Körperteile auch, etwa der Fuß (der auch Längenmaß ist und Bezeichnung des unteren Teils vieler Gerätschaften), der Zeigefinger (lat. index, der auch Verweisungen aller Art meinen kann) oder die Zunge (die in der Mechanik vielfach das Teil benennt, das an einem Ende fest, am anderen beweglich ist).
     In diesen und vielen anderen Fällen liegen metaphorische Variationen des Sinns vor, die einem einzi gen Begriff mehrere Bedeutungen zuweisen, was in den Wörterbüchern entsprechend vermerkt wird. Entweder man findet mehrere Absätze, deren Erklärungen mit demselben Wort beginnen, oder man unterscheidet innerhalb des worterklärenden Absatzes mehrere Bedeutungen durch Gliederungszeichen wie Striche oder Zahlen. Sprache ist ein durch und durch metaphorisches Gewebe von Wörtern, von denen keines gefeit davor ist, auch in übertragenem Sinn gebraucht zu werden. Die Geschichte der Sprachen hat solche Mehrfachbedeutungen längst zur Tatsache werden lassen, und beim Sprechen nutzen wir metaphorische und metonymische Wendungen sehr oft, etwa wenn wir sagen, wir "würden den Teufel tun", etwas zu wagen, wir sähen - nach langer Beratung - "Licht am Ende des Tunnels", oder - in wirtschaftlichen Angelegenheiten - man dürfe "das Tafelsilber nicht verscherbeln". Jeder kennt Situationen, in denen solche Äußerungen problemlos verstanden werden, auch wenn sie nichts mit Teufeln, Tunneln oder Tafelsilber zu tun haben und daran auch niemand denkt.
     Mit dieser Erklärung allein aber hat man noch nicht viel verstanden, ja es besteht die Gefahr, dass einem die Nase vor lauter Unwahrheit wachsen würde - wie die Geschichte von Pinocchio lehrt -, bliebe man bei diesen Einsichten stehen. Sprache hin oder her - die Schwierigkeit des Lexikographen liegt nicht darin, mehrere Artikel zum selben Stichwort zu geben, sondern darin, dabei eine gewisse Ordnung zu wahren und die Verschiedenheit klar und deutlich zu artikulieren. Nase hin oder her - man wird auseinanderhalten müssen, was das anatomische Teil ausmacht und was eine literarische Verwendung darstellt.
     Was ist nicht alles über die Nase gesagt worden! Welch bedeutenden Part spielt die Nase für Dichter und Schriftsteller! Man ahnt kaum die Fülle der Referenzen, und schon Pierre Richelet (1631-1698) war 1680 in seinem Genfer Dictionnaire françois contenant les mots et les choses nicht verlegen um einige Wendungen: jemanden an der Nase herumführen (d. h. nach Belieben befehligen), jemandem etwas aus der Nase ziehen (d. h. mühevoll Informationen einholen), jemandem etwas unter die Nase halten (d. h. mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren) - das sind Sprüche der alltäglichen Sprache und literarische Wendungen. Richelet verweist bei den meisten seiner Stellen auf den Dichter Molière (1622-1673) und sichert so seine Sprachfundstellen als autorisierte Redeformen ab.(418) Antoine Furetière (1619-1688) geht zehn Jahre später anders vor und listet in seinem Dictionnaire universel, contenant generalement tous les mots françois (1690) nicht die Redewendungen, sondern die Definitionen auf, die bei Richelet nur kurz erwähnt wurden. Nase, so liest man bei Furetière, ist das Sinnesorgan des Geruchs. Und wo Richelet eine Spalte mit Zitaten füllt, beschreibt Furetière das menschliche Sinnesorgan ausführlich auf zwei Spalten, mit häufigem Rückgriff auf die medizinische Terminologie und auf lateinische Fachausdrücke. Wenn es hier alltagssprachliche Wendungen gibt, dann etwa "einen guten Riecher haben" oder "die Nase läuft", also Wendungen, die mit der Hauptfunktion des Geruchssinns direkt zusammenhängen oder im weitesten Sinne medizinisch sind. Unter den zitierten Autoritäten findet man beispielsweise Ambroise Paré (1510-1590), einen berühmten Chirurgen und medizinischen Schriftsteller.(419)
     Im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts war die freie Produktion von Lexika der französischen Sprache nur vorübergehend, denn immerhin gab es seit 1635 eine Akademie der Sprache (Académie Française) und seit 1666 eine Akademie der Wissenschaften (Académie Royale des Sciences), die es bald als ihr eigenes Anliegen ansahen, die Dinge und die Wörter zusammenzubringen. Als sie das 1694 taten, operierten sie allerdings gemeinsam und zugleich unabhängig voneinander. Denn als Ergebnis akademischer Anstrengungen erschien ein in sich geteiltes Lexikon (4 Bände), das in zwei Alphabeten (je zwei Bände) die Dinge einmal literarisch und einmal naturwissenschaftlich behandelt.(420) Der doppelte Weg, der durch Richelet und Furetière gewissermaßen vorgezeichnet war, wurde also akademisch institutionalisiert. Sprache wurde professionalisiert und war darum in doppelter Gestalt vorhanden, als literarische und als wissenschaftliche Ausdrucksweise. Im ersten Alphabet wird die 'Nase' (frz. >nez<) zwischen 'Neutralität' (frz. >neutralité<) und 'Nest' (frz. >nid<) eingeordnet, im zweiten Alphabet zwischen 'Nervenkranken' (frz. >nevritiques<) und einer Vogelart (>niais<).
     Beide Alphabete, das literarische und das wissenschaftliche, existierten im 18. Jahrhundert noch lange fort - bis zum doppelten Artikeleintrag der Encyclopédie. Vielleicht lässt sich sogar behaupten, dass die ganze Epoche in diesen beiden Vokabularien las und schrieb bzw. in zwei Registern dachte. Für die Nase jedoch war diese Arbeitsteilung des Wissens noch nicht genug, sie war mehr als Sinnbild einerseits und Körperorgan andererseits und überforderte Literatur wie Wissenschaft. Während man in der Tierwelt die "fleissige Biene" vom "Insekt Biene" absetzen und beide nebeneinander bestehen lassen konnte, war die Nase zu sehr mit dem menschlichen Dasein überhaupt verquickt, als dass man sie gegenständlich abhandeln konnte, wie differenziert auch immer. Bildung und Wissenschaft wirkten im Diskurs des 18. Jahrhunderts über die Nase nicht nur physiologisch und literarisch zusammen, sondern produzierten auch eine Soziologie und eine Anthropologie der Nase. Das jedenfalls spricht aus den Lexika und manch anderen Schriften, denen im Folgenden nachgegangen werden soll.(421) Was war die Nase im 18. Jahrhundert? Wie sah die "Nasologie" des Zeitalters aus, die der Hannoveraner Arzt Johann Georg Zimmermann (1728-1795) als neue Wissenschaft konzipieren wollte?(422)
     Für die Académie Française, deren Alphabet der französischen Sprache 1694 pflichtschuldig dem König gewidmet war, steht die Nase für das ganze Gesicht oder für die ganze Person ("se dit [...] mesme pour toute la personne"). Das ändert sich in späteren Auflagen nicht, wie eine Stichprobe der Bände von 1718, 1740 und 1762 zeigt.(423) Die gesellschaftliche Position hängt an der Nase. Sagt man beispielsweise, dass eine Frau immerzu eine Maske auf der Nase trägt, verdächtigt man sie der Geheimniskrämerei. Und wenn man jemanden sehr kritisch betrachtet, dann sieht man ihm genau auf die Nase. Das Erscheinen in einer Gesellschaft wird als "seine Nase zeigen" bezeichnet, und man kommentiert dann etwa, es sei gut gewesen, dass der und der seine Nase gezeigt habe, oder man erstaunt, dass jemand es gewagt habe, seine Nase zu zeigen. Wenn der Auftritt misslingt, dann wohl, weil jemandem die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde.
     Wer sich in entferntere Dinge einmischt, über den heißt es nicht etwa, er habe seine Hände in fremden Taschen oder lasse seine Augen wandern, sondern, er stecke seine Nase in die Geschäfte anderer Leute. Im selben Sinn wird eine Frau bewundert, die ihre Nase in die eigenen Angelegenheiten ver senkt, wie auch ein Gelehrter Achtung erfährt, der die Nase ins Buch steckt. So steht die Nase für den ganzen Einsatz der Person, für das engagierte Handeln. Wenn man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, dann kann das auf Französisch heißen, sich "von Nase zu Nase" zu begegnen ("se rencontrer nez à nez"), und jemand hat einen guten Riecher, wenn man ihm Planung und Voraussicht zutraut.
     Mit diesen positiven Redewendungen sind die negativen eng verwandt, die eine Ablenkung vom wichtigen Tun auch mit der Nase assoziieren, wie etwa: an der Nase herumgeführt werden. Man kann sich auch eine blutige Nase holen (frz. "saigner au nez"), wenn man verliert. Ungewollte Einmischungen lassen sich abwehren mit den Worten, das sei nichts für fremde Nasen. Und ironisch kann es heißen, das sei wirklich etwas für seine Nase - meinend, dass das eben nicht so ist.
     In der höfischen und frühbürgerlichen Gesellschaft ist die Nase ganz offenbar das hervortretende Merkmal des sozialen Status. Man erkennt die Menschen an der Nase, sie geben sich selbst damit zu erkennen und werden daran gepackt. Nicht anders als das Lexikon der Akademie solcherart die Höflichkeitspolitik der französischen Gesellschaft expliziert, schildert die vermehrte Neuauflage des Lexikons von Richelet 1732 in Amsterdam - 50 Jahre nach der Erstausgabe - die soziale Wirklichkeit einer Selbstdarstellungs- und Wahrnehmungskultur, die der Nase großes symbolisches Gewicht gibt. Es wird der Abbé Regnier (1632-1713) zitiert, der dem Maler seiner Mätresse befohlen haben soll, die Nase mit einem Weiß wie Dickmilch zu malen ("qu'elle ait le nez d'un blanc de lait épais"), um ihre Schönheit zu betonen. Der Autor des Lexikoneintrags zweifelt allerdings offen, ob solche Verzierung dem Gesicht wirklich gut tue ("Je doute qu'un tel nez fait l'ornement d'un beau visage").(424)
     Welche Rücksichten die Maler und Stecher nahmen, die den dänischen Astronomen Tycho Brahe (1546-1601) porträtierten, weiß man nicht, es ist allerdings offensichtlich, dass nicht alle es wagten, dasjenige abzubilden, was ihn stigmatisierte: seine Nasenprothese. Brahe war adeliger Abstammung und als junger Mann von 20 Jahren in ein Duell verwickelt, das ihm den hauptsächlichen Teil seiner Nase kostete. Er ersetzte das fehlende Glied durch eine Kappe aus Silber und Gold, die er mit einer Spezialsalbe im Gesicht befestigte. Die Nachricht von diesem Unfall aus dem Jahr 1566 findet sich noch im deutschen Conversationslexikon von 1809, das ungerührt die Nachricht folgen lässt, Brahe habe 1567 eine Sonnenfinsternis beschrieben. Der Eifer für die Astronomie scheint durch den Verlust der Nase gewissermaßen unterstrichen (auch war wohl das Duell durch einen wissenschaftlichen Streit ausgelöst): Die Leidenschaft für die Sache wird dem jungen Mann durch sein Nasenopfer attestiert. So gewinnt die Prothese für ihren Träger das Recht auf gesellschaftliche Zugehörigkeit, welche durch den Verlust des prominenten Organs eigentlich gefährdet ist: In der Ausnahme beweist sich die Regel.(425) Ohne Nase kein Mensch.
     Die hohe Bedeutung der Nase für den Menschen, für sein Auftreten und sein "Gesicht" in sozialer Hinsicht kommt indirekt auch in den zahlreichen medizinischen Traktaten zum Ausdruck, die sich mit Verletzungen der Nase beschäftigen. Die Nase nämlich ist ein beinahe unersetzbares Organ: "Dass die Nase, wenn sie entweder gantz oder gar hinweg gehauen oder geschnitten, oder auch eines Theiles und Stückes beraubet worden, nicht wieder angeheilet werden könne, ist eine bekannte Sache." So handelte das größte Lexikon des 18. Jahrhunderts, das Zedlersche Universal-Lexicon, im 23. Band ausführlich über die Nase, und thematisierte an der zitierten Stelle insbesondere das "Nasen ansetzen". Wir lernen, dass die Nase für den sozialen Status auch deswegen so wichtig war, da sie chirurgisch kaum kopiert werden konnte. Die Nase, die in der gesamten Welt der Säugetiere nur beim Menschen eine körperlich exzentrische Position einnimmt, wie man vielfach bemerkt, ist herausragend schon in ihrer physischen Eigenschaft, unablösbar zu dem Gesicht zu gehören, aus dem sie herauswächst.
     Das Wissen über die Nase, wie es in den medizinischen Traktaten überliefert und im Universal-Lexicon zusammengefasst ist, stellt im 18. Jahrhundert die umfassende Kenntnis über die Empfindlichkeit des Menschen dar. Es wird im Universal-Lexicon auf über hundert Spalten ausgebreitet - ein kleines Buch (UL 23: 699-815). Dabei wird dasjenige marginalisiert, was man literarisch über die Nase sagt, welche Rolle die Nase in der Bibel spielt (Gott bläst Adam den Atem durch die Nase ein) oder was es für physiognomische Thesen über die Nase gibt (die Form der Nase bestimme den Charakter). Vielmehr wird ausführlich die Nase als Organ erläutert, sowohl von innen wie von außen, mit einer Schilderung aller Bestandteile (Knochen, Knorpel, Haut, Drüsen), wobei ganz offensichtlich auf Abbildungen aus medizinischen und chirurgischen Handbüchern Bezug genommen wird. Und die Perspektive dieser Bücher bestimmt dann auch das ganze Themenfeld der Nasenreparatur.
     Schon unter dem Stichwort >Binden der Nase< wird mit Detailfreude und Sachkunde erläutert, wie eine gebrochene Nase verbunden werden kann, etwa durch eine "Zirckel-Umwicklung":

     "diese nimmt in dem Nacken ihren Anfang, und steiget schreg an der einen Seite der Nase herunter, welche (Nase nemlich) sie umwickelt, und nachdem sie die erste Umwicklung auf dem Rücken der Nase creutzweiß durchschnitten, kommt sie zu dem Wirbel, alldar zerschneidet sie sich wieder, und gehet unter dem Ohre wieder zur Nasen-Kuppe, von dar zu dem Nacken, und über den Schlaff zu dem Rücken der Nase, alsdenn gehet sie über den andern Schlaff wieder zu dem Nacken, da sie denn unter gegenüber gelegenen Ohre vorläuffet, den Schlaff hinauf steiget, und über den Wirbel und den andern Schlaff, unter dem Ohre wieder zu dem Nacken kommt, da sie sich endlich durch eine Zirckel-Umwicklung endiget." (UL 3: 1873)

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