Vorgeblättert

Terezia Mora: Alle Tage. Teil 3

27.07.2004.
Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand der Welt. Alles mal die unbekannte Größe P.
Eigentlich war bis kurz vor Schluss alles normal. Das Wochenende vor seiner Scheidung verbrachte Abel wie meistens: im Wesentlichen zu Hause. Er fing gegen vier Uhr morgens an, loggte sich ein, durchkämmte die üblichen Quellen nach den üblichen Meldungen, kopierte und überschrieb sie direkt. Am Nachmittag schlief er einige Stunden, erwachte mit dem Sonnenuntergang, ging hinaus auf den Balkon, um ihn sich anzusehen.
      Wenn man in Abel Nemas Wohnung durch die schmale Tür im Dach in den Fußbreit Metallkäfig hinaussteigt, drückt einen der Wind an windigen Tagen bis an die Hauswand zurück. Als würde man fahren, mit einem Haus fahren, so ein Windgefühl ist es, aber natürlich bleibt alles an seinem Platz oder fährt mit, nur dass man es nach einer Weile eventuell wegen der Tränen nicht mehr sieht, die einem auf die Schläfen getrieben werden. Eine Sackgasse, am Rande eines schmalen und verwinkelten Streifens alter Industrieräume an der Ostseite der Bahn gelegen, gibt es in Abels Straße nur auf der einen Seite Häuser. Auf der anderen eine Ziegelsteinmauer, dahinter siebzehn Paar Schienen und dahinter: die Stadt, sich unendlich hinstreckend in einer unendlich flachen Landschaft, die im allgemeinen Dunst verschwindet, bevor sie den Himmel berührt hätte. Ein Land, offen für alles, was kommt: Mensch, Tier, Wetter. An dieser Stelle ist die Bahnschneise am breitesten, die die Stadt verschiedentlich durchschneidet, aber im Wesentlichen in zwei Hälften teilt: in einen eleganteren, reicheren, geordneteren Westen und in die über den Ostausgang des Bahnhofs erreichbare "Insel der Tapferen": ein ehemaliges Kleinindustriegebiet, in das man, nachdem alles eingegangen war, der Schlachthof, die Bierfabrik, die Mühle, zuerst Nervenkranke, schwer erziehbare Halbwaisen und Alte ansiedelte, dann, in einer kurzen, sogenannten goldenen Zeit versuchte man, sie zu einer exklusiven Wohngegend für junge Snobs auszubauen, bevor man die Gegend endgültig den Gestrandeten überließ, die nicht aufhörten, hierher zu strömen, als hätte ihnen jemand gesagt: nehmt den Ostausgang. Am Samstagabend, nach getanem Tageswerk, stand Abel also auf seinem Balkon. Unter ihm, hinter der Ziegelsteinmauer, zogen die Eisenbahnwaggons hin und her wie Kugeln auf einem Abakus. Später, es war schon dunkel, kamen immer mehr Autos in die Sackgasse gefahren, reihten sich dicht an der Mauer auf, bis kein Platz mehr war. Späterkommende wendeten mühselig: das Geräusch sich auf Pflastersteinen drehenden Hartgummis, dazwischen das Klackern der Absätze, die dicht vor den erschrocken aufblitzenden Scheinwerfern die Straße querten. Der Laden am geschlossenen Ende der Sackgasse heißt Klapsmühle, an fünf Tagen der Woche feiern sie dort mit einer scheinbar nie nachlassenden Vehemenz, Arbeit und Feste, Tag für Tag, die Wellen der Drums wie plötzliches Donnern durch die Straße, wenn die Tür auf- und zugeht. Dann wieder, abrupt: Stille.
      Nachdem er eine Weile auf dem dunklen Balkon gestanden war, ging Abel zurück ins einzige Zimmer, das sogenannte skurrile, obwohl es, ein nachträglich und vermutlich illegal ausgebautes Dachgeschoss, nur etwas zerklüftet geraten war. Wer auch immer hatte versucht, alles an Raum herauszuholen, was unter dem Himmel zu haben war, aber nur der tote Raum war mehr geworden: spitze Winkel, unnütze Buchten, in denen sich die Dunkelheit und der Staub sammeln, nicht mehr gebrauchte Dinge, beiseite gestoßen mit dem Fuß, oder die Zugluft weht sie dahin, sie bleiben liegen. Abel sammelte ein paar schwarze Kleidungsstücke aus den Ecken, steckte sie zusammen mit der ergrauten Bettwäsche in einen Rucksack, stieg fünf Etagen zur Straße hinunter, wo er als einziger nicht auf die Bar zu, sondern von ihr weg ging, nach einem kurzen Slalom zwischen aufgedonnerten halbnackten Fremden rechts abbog und dann noch einmal rechts: zu einer Vierundzwanzigstundenwäscherei. Dort saß er einige Stunden und starrte in ein Bullauge. Drinnen war alles schwarz. Eine Socke mit einer hellgrauen Applikation unter dem Bund fiel immer an dieselbe Stelle zurück. Abel saß ganz hinten im Raum, wo sich das Spülwasser in eine Betonwanne in der Ecke ergoss und durch ein rostiges Eisenrohr abfloss. Wenn er nicht in das sich drehende Schwarz schaute, schaute er sich den trudelnden weißen Schaum an. Später dämmerte es, und er ging nach Hause. In der Sackgasse schwamm er erneut gegen den Strom, diesmal als Einziger nicht von der Bar weg, sondern auf sie zu. Später ließ der Lärm draußen nach, er setzte sich vor den Computer. Später läuteten die Glocken zweier naher Kirchen, er zog die Rollos an den Fenstern herunter, damit das Licht den Bildschirm nicht ausblendete. Später - die vier Zahlen in der rechten unteren Ecke des Bildschirms zeigten einen mittleren Nachmittag an, neben einer (scheinbar) rotierenden kleinen Erdkugel stand: unbekannte Zone - klingelte das Telefon. Hallo, Mutter.

Ihr Name ist Mira. Das letzte Mal haben sie sich vor dreizehn Jahren gesehen, kurz bevor sie ihm die Flucht vor der Einberufung ermöglichte. Seitdem telefoniert man einmal im Monat, meistens Sonntagnachmittags.
Ich rufe dich zurück.
Gut.
Sie legt auf. Er ruft zurück. Fragt, wie es ihr gehe.
      Sie sagt, ihr gehe es gut.
Sie schweigen ein wenig. In der Leitung klackt und piept es, das macht es die ganze Zeit, Klacken und Piepen, eine öffentliche Zelle. Er fragt, ob sie auf die Zelle habe warten müssen.
      Sie sagt ja, aber nun würde es besser. Die Nachrichten haben angefangen. Sie hat den Blick auf drei Fernseher hinter Vorhängen. Ob es schon dunkel bei ihnen sei.
Noch nicht ganz.
Klack, Piep, Klack.
Hör mal, sagt Mira. Sie müsse ihm etwas sagen. Genauer: etwas korrigieren, das sie ihm früher einmal gesagt habe. 
Neuerdings ruft sie an und korrigiert Sachen. Meine Mutter ist eine Lügnerin. Nicht notorisch. Nur aus Fantasie oder Solidarität. Sie drückt ihr Mitgefühl in Form von Lügen aus. Ja, ich weiß, wovon Sie reden, auch wir hatten Juden in der Familie. Wir hatten nie Juden in der Familie. Ich weiß, sagt Abel. Auch keinen Flugpionier. Keinen Partisanen. Sie selbst wurde nie von einem bösen Professor in eine radioaktive Kammer eingesperrt und war auch nie Zeugin einer Haifischattacke. Ich weiß, sagt Abel, ich weiß.
      Diesmal, sagt sie, ginge es um was anderes. Sie sagt, sie habe Ilia gesehen.
Wen?
Deinen Freund Ilia.
Schweigen.
Anfangs sagte sie, die Stadt sei im Wesentlichen dieselbe geblieben. Abgesehen davon, was kaputt sei - das Hotel, die Bibliothek, die Post, einige Geschäfte -, sei alles noch, wie es war. Außer den Menschen. Man habe den Eindruck, es gäbe noch mehr von ihnen als vorher, aber als hätte man, ein Wunder oder ein schlechter Scherz, über Nacht die gesamte Bevölkerung ausgetauscht. Überall nur fremde junge Männer. Kommen von den Dörfern. Oder wer weiß woher. Werden neu geboren. 
Es war Krieg, sagt Abel.
Ja, ich weiß.
Später fing sie an zu erzählen, sie sehe nun öfter auch Bekannte. Von einigen heiße es zwar, sie seien tot oder in Deutschland, aber sie habe sie gesehen. Ging auf der Straße, trug eine Papiertüte, ich bin mir sicher, das war er, er wohnt bloß nicht mehr da, wo er früher gewohnt hat.
Ilia, sagt sie, habe sie sogar gesprochen. Leibhaftig. Er sei zu ihr gekommen, er musste eine Weile suchen, weil auch sie nicht mehr dort wohne, wo sie vorher gewohnt habe. Er habe einen Bart gehabt wie ein Mönch.
Hm, sagt Abel und setzt sich im Stuhl zurecht. Er sagt seiner Mutter, dass Ilia vor einem Jahr für tot erklärt worden sei. 
Ich weiß, sagt Mira. Das war ein Irrtum.
Pause.
Und, hat er auch was gesagt?
Er hat gefragt, wie es mir geht. Dann hat er nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, wo du jetzt lebst. Da hat er gelacht und hat gesagt: Na, wenn das kein Zufall ist. Er fliege genau dahin, schon morgen. Hörst du? Er könnte morgen schon da sein.
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Hallo?
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Freust du dich gar nicht? Wir dachten, er sei tot, und jetzt stellt sich heraus, er ist lebendig. Ist das nicht wunderbar?

Mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand-Literaturverlages

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