Vorgeblättert

Martina Hefter: Zurück auf Los. Teil 2

25.02.2005.
Ich sollte Raimund jetzt sofort anrufen. Erstens will ich wissen, was ich nun mit diesem Computer in meinem Schlafzimmer anfangen soll, zweitens, ob Raimund sich an jene Stunde erinnert (oder sind es bloß ein paar Minuten gewesen?), zu der er das Gerät angeschlossen hat. Eine idiotische Idee; Raimund wird glauben, ich suchte nur einen Vorwand, um dann über etwas anderes zu sprechen, etwas, das hinter den Worten 'Computer' und 'Kabelverhau' zurückgetreten ist, etwas, das wir nur nach außen hin als selbstverständlich hingenommen haben, wie das Wetter oder die Tiefsttemperatur des Tages. Trotzdem kann man sagen, der Tag ist bisher in Ordnung gewesen. Der Tag hat unter dem Motto eines Ordnungsversuchs, eines Ordnungsvorgangs gestanden, vom Frühstück bis jetzt, wie auf einer Baustelle ist den ganzen Tag lang eine Ordnung aufgeschichtet worden. Die Qualität der Tage scheint abgenommen zu haben. Raimunds und meine Äußerungen jedenfalls, die Beschaffenheit, die Brauchbarkeit eines Tages betreffend, haben sich verändert. Ich muß an unsere erste Begegnung denken, die in einer Nacht von Samstag auf Sonntag im Blauhaus stattgefunden hat, einer der Johannisbacher Diskotheken, in der ich damals als Aushilfskellnerin gearbeitet habe. Raimund hielt mein Handgelenk fest, nachdem ich ihm ein Bierglas hingestellt hatte, und er sagte, daß heute ein guter Tag sei, der beste Tag seit langem. Er, Raimund, habe bereits beim Aufstehen gewußt, daß es ein guter Tag werde, denn heute, an diesem besten aller Tage, habe er mich getroffen. Es war aber schon der nächste Morgen angebrochen, bereits ein oder zwei Uhr früh, als Raimund, mein Handgelenk festhaltend, von seinem guten und besten Tag gesprochen hat, und ich überlegte, welchen Tag er gemeint haben mochte, ob der neue, gerade angebrochene Tag auch gut, vielleicht sogar noch besser werden würde, bereits bestens war, oder ob Raimund gestern gemeint, sich auf gestern bezogen und womöglich beschränkt hatte.
Zu dieser Zeit hatte ich viele Datumsangaben im Kopf und noch viel mehr Datumsangaben zu Hause in meiner Küche auf Zetteln notiert. Die Zettel waren mit Tesafilm auf die Wand über dem Telefon geklebt oder lagen lose herum, auf der Ablage des Küchenbüfetts lagen Zettel mit Zeitangaben, Erinnerungen an dieses und jenes Datum: die Unterrichtszeiten in der Skischule, die Unterrichtszeiten der Volkshochschule, die Arbeitszeiten im Blauhaus, alles mit Kugelschreiber auf Post-it-Zettel gekritzelt, viele unterschiedliche Arbeitszeiten in schlampiger Handschrift, aber kein Beruf und keine Ausbildung, die hätten auf einem Extra-Zettel stehen können, einem übergeordneten Zettel, der über den anderen Zetteln hätte­ hängen und eine Begründung, einen guten Grund für die Uhrzeiten hätte abgeben können. Ich arbeitete an den Terminen entlang, riß jeden Morgen einen Zettel vom Büfett oder vom Tisch, schaute drauf, klebte einen neuen an, weswegen ich an jenem Abend im Blauhaus eigent­lich schon in ganz anderen Tagen, besser: Abenden gewesen bin. Ich war im Monat ein gutes Stück voraus, als Raimund die Äußerung über seinen guten Tag gemacht hat, und ich verstand sie erst mit einiger Verzögerung, eigentlich­ erst, nachdem ich mich schon wieder umgedreht hatte, und ich bin auf der Stelle stehengeblieben und hätte beinahe die Gläser fallengelassen, die ich auf einem Tablett zwischen den Tanzenden allein des­wegen herumtrug, damit Datum und Uhrzeit nicht vergeudet sind.

Vielleicht liegt darin Raimunds und meine ganze Geschichte: daß wir nicht einmal mehr genaue Angaben für einen immerhin gut bis besser verlaufenen Tag machen können. Das, was festzulegen gewagt werden kann, bleibt in bescheideneren Mitteilungen ausgedrückt, in den ohne Gefahr zu äußernden Wörtchen, im Vorübergehen oder über der Morgenzeitung/vor dem Computer ausgesprochen: Ist schon in Ordnung. Der Tag war okay. Der Tag war so lala.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein (sehr langer) Satz ein, den ich einmal irgendwo gelesen habe, der das Verstreichen der Tage betrifft. Man könne nie wissen, wohin der nächste Tag einen bringen werde, so ungefähr heißt es in dem Satz, und diese Ungewißheit mache den Tag erst lebenswert. Je ungewisser das Ende des nächsten Tages, desto größer die Freude, mit der wir dem Abend entgegensähen. Ich weiß nicht mehr, in welchem Buch er steht, ob überhaupt in einem Buch, vielleicht habe ich ihn auch in einer Zeitschrift im Wartezimmer meines Zahnarztes gelesen, jedenfalls ist es der Zwang zum Abenteurertum in diesem Satz, der mich immer noch ­sofort vom Stuhl oder vom Sessel aufspringen und im Raum hin- und hergehen läßt, und es ist das vermeintlich Universelle an diesem Satz, weswegen ich jedesmal ­lachen muß. Der Satz tut so, als ließe er sich von jedermann überzeugend aussprechen, als ließe er sich über den Namen eines jeden stülpen, als hätte dieser Satz tatsächlich seine Wendung in das wirkliche Leben genommen und stünde längst in den Poesiealben, würde täglich an die Ränder der Schulhefte gekritzelt, hinge als Leuchtschrift an den Fassaden in der Innenstadt, wäre als Lied vertont, in unzählige Grabsteine als Inschrift graviert, müßte schon in der Schule auswendig gelernt werden, zu jeder Zeit im Gedächtnis präsent, würde in Gesprächen als Sentenz dazwischengeworfen, und wehe dem, der sich mit diesem Satz nicht anfreunden könnte, ihn nicht verstünde, sich bloß zum Schein, anstandshalber, mit ihm einverstanden zeigte.

Mein Vater zum Beispiel könnte so einer sein. Auch er könnte den Satz gelesen und für gut und richtig befunden haben, könnte vor Jahren im Hotelbüro, während der Mittagspause in einer Zeitung oder einem mitgebrachten Buch auf diesen Satz gestoßen und von ihm so aufgewühlt gewesen sein, daß er von einem Tag auf den anderen aus dem Hotel ausgezogen ist, um Bergführer und Alphüttenwirt in Oberstdorf zu werden. Mein Vater könnte sich den Satz einverleibt haben, aus lauter Zweifel über den Satz. Er könnte vollständig in ihm aufgegangen sein, ihn wahr gemacht haben, um ihn verschwinden zu lassen, um sich mit diesem hartnäckigen Satz nicht mehr auseinandersetzen zu müssen, ihn nicht mehr lesen zu müssen, um den Satz aus der Mitte der anderen Sätze zu tilgen. In seinem ersten Brief von der Hütte herunter schrieb er, daß er einen Großteil des Jahres auf sich allein gestellt sei, im Winter oft für Tage eingeschneit; auf den Fensterbrettern liege ein halber Meter Schnee, dann wisse er nicht, ob der Weg zur Seilbahnstation passierbar sei und er hinunter ins Tal käme, um für die kommende Woche Verpflegung in die Hütte zu holen. Aber es wird wieder Frühling, schrieb er, dann sehe er den Enzianen beim Knospen und Verblühen zu, die Kronblätter gingen mit einem Schlag auf, fast über Nacht, darüber schrieb er zwei Seiten, um den Satz vom ungewissen nächsten Tag zu vergessen, einen Satz, der in übergroßer Geste aus­ge­sprochen und aus lauter Selbstüberschätzung gleich niedergeschrieben worden ist, und der jetzt um die Welt geht, ohne daß man ihn zum Ursprung zurückverfolgen könnte.

Bald werden Paul und seine Freundin kommen. Paul wird seiner Freundin das Hotel zeigen, das ganze Ausmaß des Hotels, das fünfundzwanzig Zimmer hat und lange Flure, eine Fotografie des Vaters hängt in einem der Flure, wie er mit verspiegelter Schneebrille von einem Gipfel im Hochgebirge winkt, das ist also das Hotel, wird Paul sagen.

Die Weggehenden gehen in den Sätzen weg und nehmen ihre Sätze mit sich, ziehen ihre Sätze hinter sich her, an Stricken, an Fallschirmseide, je nachdem, wie sehr sie sich ins Licht rücken wollen, das auch die Stricke und die Seide beleuchtet, die Mittel und Wege des Transports.

Teil 3