Vorgeblättert

Maria Sonia Cristoff: Unbehaust. Was Menschen mit Tieren machen. Teil 2

06.02.2012.
Ich erwache auf einer Bank im Zoo. Im nächstgelegenen Zoo, dem von Buenos Aires. Hierher gehe ich immer, wenn ich merke, dass alles durcheinandergerät und nichts mehr auch nur im Geringsten verständlich scheint. Wenn die Menschen mir wie fremde, rätselhafte Wesen vorkommen. Dann kauere ich mich irgendwo zwischen den Käfigen zusammen wie eins der Tiere, und mein Gemüt beruhigt sich. Diese Methode praktiziere ich, seit ich - mehrere Jahre ist das jetzt schon her - einmal aus dem Theater kam. So gut das jeweils gegebene Stück auch sein mag, jedes Mal, wenn ich ins Theater gehe, fängt meine linke Gesichtshälfte zu jucken und zu brennen an. Zunächst gewissermaßen bloß innerlich; ich reagiere darauf, indem ich, um mich zu kratzen, meine Zunge und meine Rachenmuskeln höchst subtile Bewegungen ausführen lasse, eine Art minimalistischer Performance, auch wenn niemand das zu schätzen weiß. Im Gegenteil, meine Nachbarn stoßen mir dann jedesmal die Ellbogen in die Seite. Woraufhin ich mich gezwungen sehe, mich von außen, mit den Fingernägeln, zu kratzen, und zwar an der linken Backe, noch heftiger jedoch im linken Mundwinkel. Am Ende komme ich regelmäßig mit völlig verkratztem Gesicht aus der Vorstellung, und es dauert mindestens eine Woche, bis die Spuren meiner blutigen Tätigkeit, gemeinhin bekannt als Krusten, wieder verschwunden sind. Zu dem Jucken im Gesicht gesellt sich eine zunehmend gereizte Stimmung. Ich weiß allerdings bis heute nicht, was zuerst kommt, das Jucken oder die schlechte Laune. Sehr wohl weiß ich dafür, dass beides, wenn ich nach der Vorstellung auch noch irgendwelche Bekannten begrüßen muss, seinen Höhepunkt erreicht. An dem oben erwähnten Tag nun, an dem ich die heilsame Wirkung des Zoos entdeckte, begegnete ich beim Hinausgehen aus dem Theatersaal meinem damaligen Chef, in Begleitung eines selbsternannten Schriftstellers, mit dem ich wenige Tage zuvor eine heftige Auseinandersetzung gehabt hatte. Mein Chef flüsterte mir ins Ohr, wenn ich meinen Fehler wiedergutmachen wolle, solle ich jetzt wenigstens mit ihnen etwas trinken gehen. Wir begaben uns also in eine dieser Bars in der Avenida Corrientes, in denen ich immer Sehnsucht nach einer Avenida Corrientes empfinde, die ich nie kennengelernt habe, beziehungsweise Abneigung gegen die Avenida Corrientes, so wie ich sie kenne. In der Hoffnung, die sprudelnden Bläschen könnten die Arbeit fortführen, von der mich die Rippenstöße abgebracht hatten, bestellte ich ein Mineralwasser. Was meinem Chef überhaupt nicht gefiel, wie ich seinem Blick entnehmen konnte. Ob er erwartet hatte, ich würde einen Gin Tonic oder sonst einen handfesten Drink bestellen? Oder war ihm schon seit langem klar, dass ich immer dann Mineralwasser zu mir nehme, wenn ich mit etwas mir Unerträglichem zurechtzukommen versuche? Der Selbsternannte jedenfalls fing an, von dem Werk - wie er das, was wir gerade gesehen hatten, bezeichnete - wie auch von seinem Werk - wie er seine Bücher bezeichnete - zu sprechen. Mein Chef war daraufhin einmal mehr schlau genug, dem Mann genau das zu antworten, was dieser hören wollte; dabei warf er mir jedoch immer wieder wütende Seitenblicke zu, die mir offenkundig zu verstehen geben wollten, dass das einzige Mittel, ihn zu besänftigen, darin bestand, meinerseits ebenfalls etwas zu der Unterhaltung beizutragen. Weshalb ich mich bemühte, eine Reihe von Kommentaren anzubringen, die aber zu nichts führten. Nach Ablauf einer Stunde war ich jedenfalls außerstande, mich mit etwas anderem als meinem linken - brennenden - Mundwinkel und meinem rechten - immerzu zuckenden - Auge zu beschäftigen. Die Frauen meines Chefs beziehungsweise des Schriftstellers unterhielten sich währenddessen über ein anderes Theaterstück, weshalb auch in dieser Richtung keine Ausweichmöglichkeit für mich bestand. Ich spürte folglich, dass ich, wie immer, wenn mir alles um mich herum hoffnungslos banal und feindselig vorkommt, unaufhaltsam in einem bodenlosen Abgrund des Schweigens versank. Ich bestellte noch ein Mineralwasser. Und die anderen sprachen weiter - dass sie sich tatsächlich unterhalten hätten, konnte man nicht behaupten -, während ich immer tiefer in meinem Schweigen unterging. Meine linke Gesichtshälfte hatte derweil längst angefangen zu bluten - für eine Krustenbildung war es allerdings noch zu früh -, so dass ich mir irgendwann wie eine heimliche Schwester der heiligen Jungfrau vorkam, die in einer Bar in der Avenida Corrientes blutige Tränen weint.

Doch genau in diesem Augenblick, als ich mich eigentlich nur einmal mehr in meiner Auffassung bestätigt sah, dass nichts irgendeinen Sinn hat, woraufhin ich mir verzweifelt ein paar Sätze zurechtzulegen versuchte, die es mir erlauben sollten, mich umgehend davonzustehlen, in eben diesem Augenblick also kam mir die Idee: Am nächsten Morgen würde ich gleich nach dem Aufstehen in den Zoo gehen! Keine Ahnung, wie so etwas funktioniert, für mich war es jedenfalls, als folgte ich dem Befehl einer inneren Stimme. Ich wohnte damals schon seit über zehn Jahren in Buenos Aires, und noch nie war mir der Gedanke gekommen, in den dortigen Zoo zu gehen. Am nächsten Tag erwachte ich mit einem mir schon von anderen Gelegenheiten bekannten existentiellen Kater: Vollkommen erschöpft, der Welt und aller dazugehörigen Dinge überdrüssig und in dem festen Glauben, nicht zu Hause in meinem Bett zu liegen, sondern auf einer eiskalten, frisch desinfizierten Krankenhausbahre, wo mir eine dieser Maschinen die Brust zusammenpresst, deren Bild mir automatisch in den Sinn kommt, wenn ich das Wort Röntgenplatte höre; ersatzweise sehe ich in diesem Fall Szenen aus einem billig gemachten Zweiten-Weltkriegs-Film vor mir. Ich kann mich jedenfalls nicht rühren, und sei es bloß, um Arme und Beine anzuziehen, im Gegenteil, ich habe das Gefühl, meine Gliedmaßen seien noch schwächer - und käsiger - als ohnehin schon: der Körper eines Gefangenen, unmittelbar vor dem Abtransport ins Lager. An dem infrage stehenden Morgen wurden meine trüben Gedanken jedoch schon nach kurzer Zeit von der Erinnerung an den am Vorabend gefassten Beschluss unterbrochen. Ich zog mir das Erstbeste über und machte mich auf den Weg in den Zoo, der nicht weit von meiner damaligen Wohnung entfernt war. Im Spiegel der Aufzugkabine konnte ich mich davon überzeugen, dass sich über Nacht die zu erwartenden Krusten gebildet hatten. Im Zoo angekommen, fing ich an, wahrscheinlich von derselben Stimme geleitet, die mich am Vorabend den Beschluss zu diesem Unternehmen hatte fassen lassen, von Gehege zu Gehege zu wandern, und während ich so inmitten all dieser eingesperrten und domestizierten Tiere umherspazierte, merkte ich, wie der Druck auf meiner Brust allmählich nachließ. Wofür weniger der Anblick der Tiere selbst sorgte als vielmehr das starke Verbundenheitsgefühl, das sich dabei in mir regte: Ich war nicht als Einzige fehl am Platz hier. Seither suche ich, sobald ich von dieser Stimmung erfasst werde, schleunigst den nächsten Zoo auf. Für Ismael, der auf einem Schiff anheuerte, wenn sein Unbehagen an der Welt wieder einmal unerträglich geworden war, war das Meer der letzte Ausweg, um sich nicht die Kugel zu geben. So sagt er wenigstens am Anfang von Moby Dick. Mein Allheilmittel gegen den existentiellen Kater ist der Zoo.
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Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages
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