Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Hilary Spurling: La Grande Therese. Teil 1

05.03.2007.
III


Die Avenue de la Grande Armee verläuft als westliche Fortsetzung der Champs-Elysees jenseits des Arc de Triomphe durch die Schluchten monolithischer Wohnblöcke, in denen seinerzeit die neuen, maßgeblichen Architekten des modernen Paris residierten: Bankiers, Unternehmer, Spekulanten. Im Zuge der städtebaulichen Erneuerung, wie Baron Haussmann sie geplant hatte, wurden ganze Bezirke der Hauptstadt dem Erdboden gleichgemacht, um Platz zu schaffen für weiträumige Perspektiven entlang breiter Avenuen, die von imposanten, futuristisch anmutenden Bauten gesäumt wurden. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlebte Paris eine wahre Aufbruchstimmung, die in gewisser Weise der Situation in den Vereinigten Staaten während der zwanziger Jahre vergleichbar war. Mit dem Bau von Eisenbahnlinien, der Mechanisierung der Produktion und der Eröffnung der ersten Kaufhäuser sorgten Industrielle dafür, daß die alten sozialen, finanziellen und kulturellen Gewißheiten auf einmal nichts mehr galten. Innovation und Experiment waren fortan das Gebot der Stunde. Mit neuem Geld wurden neue Ideen verwirklicht, sei es, daß man Gasbeleuchtung einführte, die Passanten mit der neuesten Eisen-Glas-Architektur verblüffte oder impressionistische Gemälde kaufte, von denen sich weniger weitsichtige Zeitgenossen schockiert fühlten. Der reformatorische Elan der Dritten Republik ging Hand in Hand mit Kapitalexpansion, profitablen Gewinnen aus übereilten Investitionen und einer Sucht nach ständig Neuem, die Paris zum Zentrum aller von der ganzen Welt beneideten Moden machte.

Niemand verkörperte das doppelte Ziel dieser neuen Welt - demokratischer Fortschritt und verschwenderischer Protz - hemmungsloser als die junge Madame Humbert. Sie war noch nicht einmal dreißig Jahre alt, als sie 1885 mit ihrer Familie das Schloß ihrer Träume bezog. Ihre Naivität spielte für die reibungslose Durchführung des schwiegerväterlichen Plans eine ebenso entscheidende Rolle wie ihre Überzeugungskunst. Das Vertrauen von Investoren in diese spezielle Illusion ließ sich nur dadurch gewinnen, daß Therese all ihre Sehnsüchte voll auslebte, die durch ihre armselige Vergangenheit unterdrückt, aber keineswegs verdrängt waren. Sie verkörperte nicht nur ihre eigenen Träume, sondern auch diejenigen anderer. Wie ein Hollywood-Star der zwanziger Jahre setzte sie alles daran, die Öffentlichkeit durch die aufwendige Extravaganz ihres Lebensstils in Bann zu schlagen.

Thereses neues Heim an der Avenue de la Grande Armee hieß im Kreis der Humberts nur "le Chateau". Durch ein massives Portal gelangte man in Entrees, Vorzimmer und einen prächtigen, mit alten Gewehren und Musikinstrumenten dekorierten Saal, in dem Besucher darauf warteten, empfangen zu werden. Wenn sie aufgerufen wurden, stiegen sie über die Marmortreppe in die erste Etage hinauf, wo sich die palastartigen Gemächer befanden: das Billardzimmer, der Speisesaal und der große Salon, üppigst ausgestattet mit Seidenstoffen, schönen alten Schnitzereien, gotischen Büffets, Bronzestatuen, Silbergeschirr und Cloisonne. In diesen goldglänzenden, mit Renaissance-Thronen und -Truhen möblierten, mit kostbarsten Wandteppichen behangenen Sälen konnte Therese endlich ihre Kindheitsphantasien Wirklichkeit werden lassen: das Szenario einer Welt, die schöner, reicher, größer und deutlicher faßbar war als alles, was das reale Leben zu bieten hatte.

"Alles, was in Politik, Justiz, Verwaltung, Regierung und in der Welt der Hochfinanz einen Namen hatte, kam ins Haus der Humberts", schrieb Madame X, die selbst fast täglich hier verkehrte. Drei Staatspräsidenten und mindestens fünf Premierminister waren persönlich mit Madame Humbert befreundet. General Boulanger, der populistische Volksheld, machte ihr Haus zu seinem zweiten Wohnsitz und pflegte sich auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn regelmäßig mit einem ganzen Gefolge unter Leitung seines Majordomus bei ihr einzufinden. Mitte der 1890er Jahre fand eins ihrer Diners unter dem persönlichen Vorsitz von Präsident Casimir-Pierre Perier statt, während am anderen Ende der Tafel von Madame Humbert der Vorsitzende der Pariser Anwaltskammer, Henri du Buit, plaziert war. Auf ihren Festen und Empfängen tummelten sich Erzbischöfe, Botschafter, Bankiers, Kabinettsmitglieder, Herzöge und Diplomaten. Ihre Loge in der Opera war stets überfüllt. Ihre Gästelisten wurden in den Morgenausgaben der Tageszeitungen veröffentlicht. Ganze Reihen von Kutschen versperrten den breiten Boulevard vor dem Eingang ihres Anwesens.

Ihre untersetzte, gerade, bereits zur Fülligkeit neigende, stämmige Gestalt mit den üppigen Rundungen hatte fast etwas Königliches. Gerne trug sie überladene, kronenartige Hüte, auf denen sich künstliche Früchte und Vogelnester türmten oder Pfauenfedern wehten. Die Kopfbedeckungen von Madame Humbert und ihre entsprechende Garderobe versetzten ganz Paris in Erstaunen, und die Kommentare waren nicht immer unbedingt die freundlichsten ("Sie sah aus wie ein mit Juwelen vollgestopfter Reliquienschrein", bemerkte Madame X einmal bissig). Die besten Juweliere der Hauptstadt überboten sich geradezu, ihre Leidenschaft für Edelsteine zu befriedigen, und schickten ihr zur Ansicht Schatullen voll jener Diamanten, Smaragde und Saphire, die sie als junges Mädchen so begehrt hatte. Ihre Garderobe stammte von Jacques Doucet oder aus der Maison Worth (in einem einzigen Jahr bestellte sie bei beiden Häusern Kleider im Wert von 97.000 beziehungsweise 32.000 Francs).

Therese arbeitete an der großen Inszenierung ihres Lebens, und der Erfolg der ganzen Produktion hing entscheidend davon ab, daß nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Haus nebst allem, was dazu gehörte - inklusive der Gäste - von erster Qualität sein mußte. Sie kannte die wichtigsten Leute und ließ sich nur von den gefragtesten Couturiers und Hutmachern einkleiden. Sie war Stammkundin bei den besten Antiquitätenhändlern, den modischsten Innenausstattern und dem teuersten Kunsthändler (will heißen Georges Petit, der an den Impressionisten ein Vermögen verdiente, nachdem Durand-Ruel beim Konkurs der Banque de l?Union Generale alles verloren hatte).
Doch richtig wohl fühlte sich Therese in ihrer Umwelt nie, außer bei ihrer Großfamilie und den Toulouser Seilschaften, die genau wußten, daß das ganze Zauberschloß nichts anderes war als ein Riesenbetrug. Sie war absolut auf ihren Clan (la tribu) angewiesen, der ihr nach Paris gefolgt war aus ihrer Heimatstadt, wo sie einst als Kinder alle dem guten alten Papa Humbert zu Füßen gesessen hatten. An erster Stelle unter ihnen kam der unauffällige Frederic, der sich nach wenigen Jahren aus der Politik verabschiedete und sich statt dessen in den Künsten versuchte: Er schrieb kurze Stücke, veröffentlichte ein schmales Gedichtbändchen und nahm Malunterricht bei Ferdinand Roybet, einem der damals führenden Exponenten des Salon. Frederics Rolle bestand darin, für die reibungslose Durchführung des von seinem Vater ausgearbeiteten Plans zu sorgen, und dieser Aufgabe entledigte er sich im Privaten mit bewundernswerter Effizienz. In den Augen der Öffentlichkeit galt er dagegen als ein Schwächling, der vollständig unter der Fuchtel seiner Frau stand. Ganz offensichtlich hatte er nie irgendwelche Affären mit anderen Frauen, und Therese, die in Fragen außerehelicher Beziehungen erstaunlich prüde war, bekannte sich nachdrücklich zu ihrer Treue ihm gegenüber. Für sexuelle Ausschweifungen war in ihrer Phantasie kein Platz - der Kitzel, den sie sich verschaffte, kam aus ganz anderen Quellen der Macht.

Leseprobe Teil 2

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