Vorgeblättert

Leseprobe zu Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums. Teil 2

10.02.2014.
Im Hof rührte sich etwas. Ich spitzte hinunter und sah, wie Alter Junge aus dem Haus kam, um den Garten zu bewässern. Er ging lautlos wie ein Schatten. Er nahm den Schlauch und füllte den Lotusteich, bis das Wasser überlief. Er besprenkelte die Gardenien und Orchideen, goss den Jasmin. Er schnitt den Fackelingwer zurück und ordnete die flammengleichen Blüten zu einem Strauß, den er mit Gras umwand und beiseitelegte, um weiterzuarbeiten. Schmetterlinge in allen Farben umschwirrten ihn, als wäre er ein Baumstrunk und sein Strohhut eine riesige gelbe Blüte. Plötzlich tauchte Om Bao mittendrin auf, frech und kokett, nicht wie eine mittelalterliche ­Köchin, sondern wie ein Backfisch in voller jugendlicher Blüte. Alter Junge brach einen Zweig roter Frangipani-Blüten ab, strich ihr damit über die Wange und reichte ihn ihr.
"Antworte mir", donnerte Milchmutter.
Om Bao huschte davon. Alter Junge blickte auf, entdeckte mich und errötete. Doch er sammelte sich rasch wieder, nahm den Hut ab, verbeugte sich mit dem gesamten Oberkörper und grüßte mich mit dem traditionellen kambodschanischen Gruß, dem Sampeah, die Handflächen vor dem Gesicht aneinandergehalten wie zu einem Lotus. Er verbeugte sich, weil er der Diener und ich seine Herrin war, obwohl er uralt war und ich, wie Milchmutter immer sagte, "erst ein siebenjähriger Rotzlöffel". Ich erwiderte Alter Junges Sampeah, und mir fiel nichts Besseres ein, als mich auch tief zu verbeugen. Er zeigte mir ein zahnloses Grinsen, vielleicht weil er wusste, dass sein Geheimnis bei mir gut aufgehoben war.
Jemand kam. Alter Junge drehte sich nach den Schritten um.
Mama!
Heiter und gelassen schritt sie auf ihn zu. Ein durch ein Blumenbeet schweifender Regenbogen … Wieder kam mir ein Vers in den Sinn. Ich war zwar keine Dichterin, aber immerhin die Tochter ­eines Dichters und betrachtete die Welt häufig durch die Worte meines Vaters.
"Guten Morgen, gnädige Frau", sagte Alter Junge mit gesenktem Blick, den Hut vor die Brust gepresst.
Mama erwiderte seinen Gruß und ließ ihren Blick über den Lotus gleiten. "Es ist so heiß, dass die Blüten sich schon wieder geschlossen haben", seufzte sie. Lotusblüten waren ihre Lieblingsblumen, und obwohl man sie den Göttern darbrachte, erbat sich Mama jeden Morgen ein paar für sich selbst. "Ich hatte gehofft, es gäbe wenigstens eine offene Blüte für mich."
"Die sollen Sie bekommen, gnädige Frau", versicherte ihr Alter Junge. "Vor Tagesanbruch habe ich ein paar abgeschnitten und sie in Eiswasser gestellt, damit die Blüten offen bleiben. Ich werde die Vase auf Ihr Zimmer bringen, sobald Seine Hoheit mit dem Dichten fertig ist."
"Auf dich ist immer Verlass", sagte sie und strahlte. "Würdest du mir bitte auch einen Strauß für den Tempel bereit machen?"
"Wie Sie wünschen, gnädige Frau."
"Vielen Dank."
Wieder verbeugte sich Alter Junge und hielt seinen Blick gesenkt, während sie an ihm vorüberschwebte. Sie stieg die Treppe hinauf, ihre rechte Hand auf den seidenen Schoß ihres Sampot gedrückt, sodass ihre Schritte klein und bescheiden blieben. Oben blieb sie stehen und lächelte mich an. "Wie schön, dass du deine Schiene und die Schuhe wiedergefunden hast!"
"Ich hab schon Langsamgehen damit geübt!"
Sie lachte. "Hast du?"
"Irgendwann möchte ich so gehen können wie du!"
Mamas Gesicht erstarrte. Sie glitt auf mich zu, beugte sich zu mir hinunter und sagte: "Es ist mir ganz egal, wie du gehst, mein Liebling."
"Wirklich?"
Weder die kneifende Schiene noch die drückenden Schuhe noch das, was ich beim Blick in den Spiegel sah, bereiteten mir solchen Schmerz wie die Traurigkeit in Mamas Augen, sobald die Rede auf mein Bein kam. Deswegen sprach ich auch nur selten darüber.
"Ja, wirklich … Ich bin froh, dass du überhaupt gehen kannst."
Sie lächelte und strahlte wieder.
Ich stand ganz still und hielt die Luft an, weil ich fürchtete, Mama könnte beim geringsten Atemzug verschwinden. Sie beugte sich wieder herab und küsste mich auf den Scheitel, ihr Haar floss über mich wie Monsunregen. Ich nutzte die Gelegenheit und atmete ihren Duft ein - dieses geheimnisvolle Etwas, das sie trug wie ein Parfüm. "Schön, dass sich jemand über die stickige Luft hier freut", sagte sie lachend, als wäre meine Wunderlichkeit ein ebenso großes Rätsel für sie wie ihr Liebreiz für mich. Ich blinzelte. Sie entschwebte, ihre Gestalt durchlässig wie Sonnenlicht.
So ist das mit der Poesie, sagte Papa einmal. Sie weht dich an wie ein Atemhauch und entschwindet mit einem Wimpernschlag, erst hast du nichts weiter als

Eine Zeile, die dir durch den Sinn trudelt
Wie der Schwanz eines Kinderdrachens,
Ungehindert von Verstand oder Reim.


Dann, sagte er, kommt der Rest - der Drachen, die eigentliche Geschichte. Ein Wesen für sich.
"Nur nicht rumtrödeln!", polterte Om Bao von unten. "Der Flur muss noch gewischt und gebohnert werden, die Teppiche ausgeklopft und gelüftet, das Porzellan hervorgeholt, das Silber poliert und die Seide aufgebügelt und parfümiert werden. Husch, husch, es gibt noch viel zu tun, sehr viel zu tun!"
Die Äste des Banyanbaums in der Hofmitte regten sich, die Blätter tanzten. Manche Zweige waren so lang, dass sie bis an den Balkon reichten, und die Schatten der Blätter tüpfelten meinen Körper wie Seidenflicken. Ich drehte mich mit ausgestreckten Armen im Kreis und murmelte einen Zauberspruch vor mich hin, um die Tevodas herbeizulocken: "Dünnes Ding, plumpes Ding …"
"Was treibst du da eigentlich?"
Ich wirbelte herum. In der Tür stand Milchmutter mit Radana auf der Hüfte. Radana entwand sich ihr und tapste mit ihren dicklichen Füßen sofort auf die Schatten auf dem Boden, wobei die diamantenbesetzten Glöckchen an ihrem Fußreif aufgeregt klingelten. Kambodschanische Kinder werden stets mit teurem Schmuck überhäuft, und meine viel geliebte kleine Schwester war äußerst prachtvoll ausstaffiert mit einem Platinhalskettchen und einem winzigen Paar Ohrringen, passend zu ihrem Fußreif. Das ist kein Kind, dachte ich, das ist ein Marktstand!
Als ich sah, wie sie so herumtapste, stellte ich mir vor, sie hätte auch Kinderlähmung und genauso ein Hinkebein wie ich. Ich wusste, dass ich ihr das nicht wünschen durfte, aber manchmal konnte ich nicht anders. Obwohl sie noch ein recht tollpatschiges Baby war, ließ sich schon erahnen, dass sie als Erwachsene einmal aussehen würde wie Mama.
"Iiih!", quiekte sie, als sie Mama durch eine Tür rauschen sah, und bevor Milchmutter sie davon abhalten konnte, rannte sie klingelnd durch den Flur und rief: "Mham, mham, mham …"
Milchmutter wandte sich wieder mir zu und fragte nochmals und sichtlich verärgert: "Also, was treibst du hier?"
"Ich beschwöre die Tevodas", sagte ich und grinste von einem Ohr zum anderen.
"Du beschwörst sie?"
"Ja, ich würde dieses Jahr gern welche treffen."
Natürlich hatte noch nie jemand Tevodas getroffen. Es waren Geister, und wie alle geisterhaften Wesen lebten sie in unserer Fantasie. Milchmutters Tevodas kamen mir - zumindest ihrer Beschreibung nach - verdächtig vertraut vor. Mit dünnes Ding, plumpes Ding und dunkles Ding beschrieb sie meiner Ansicht nach sich selbst, Om Bao und Alter Junge. Meine Tevodas hingegen sahen mir keineswegs ähnlich, sondern waren so anmutig wie höfische Tänzerinnen in ihren feinsten Seidenkleidern und mit Diademen, die bis in den Himmel hi­nein funkelten.
Milchmutter hörte mir nicht zu, sondern konzentrierte sich auf ein anderes Geräusch. Pschkuuu! Wieder das Donnern einer Explosion. Sie lauschte angespannt, ihr Kopf neigte sich in Richtung des Lärms.
Die Explosionen verschärften sich. Eine ganze Serie war jetzt zu hören, genau wie in der vergangenen Nacht.
Milchmutter wandte sich mir zu: "Ich glaube, du solltest dieses Jahr nicht so fest mit den Tevodas rechnen, Schätzchen."
"Warum nicht?"
Sie holte tief Luft, als wolle sie etwas erklären, fragte dann aber: "Hast du dich schon gewaschen?"
"Nein, das wollte ich grade."
Sie warf mir einen missbilligenden Blick zu, wies mit dem Kopf Richtung Badehaus und sagte ungeduldig: "Na, dann geh."
"Aber …"
"Kein Aber. Großmutter Königin kommt heute zum Frühstück, und du, mein Käferchen, darfst dich nicht verspäten."
"Was? Großmutter Königin! Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?"
"Das habe ich ja versucht, aber du bist mir immer davongerannt."
"Wenn ich doch von nichts wusste! Du hättest es mir sagen sollen!"
"Ja, darum hab ich ja nach dir gerufen." Sie schnaufte verärgert. "Genug getrödelt. Beeil dich. Mach dich fertig. Versuch, wie die Prinzessin auszusehen, die du bist, und dich auch so zu benehmen."
Ich machte einen Schritt und drehte mich dann um: "Milchmutter?"
"Was?"
"Glaubst du an Tevodas?"
Sie antwortete nicht gleich, stand bloß da und schaute mich an. Schließlich sagte sie: "Woran soll man denn sonst glauben, wenn nicht an die Tevodas?"
Ich ging die Vordertreppe hinunter. Mehr brauchte ich nicht zu hören. Den Rest konnte ich mir schon selbst zusammenreimen, denn das waren Dinge, die man sehen und anfassen konnte - Lotusblüten, die sich öffnen, Spinnen, die kleine silberne Schaukelnetze in dünne Zweiglein webten, Schnecken, die durchs besprengte Gras schlüpften …
"Raami." Als ich aufschaute, sah ich, wie Milchmutter sich über die Balkonbrüstung lehnte. "Was trödelst du noch?"
Ich setzte einen Fuß vor den anderen, schwang leicht die Hüften. "Ich übe."
"Wofür? Für den Erdwurm-Wettbewerb?"
"Nein, eine Dame zu sein - wie Mama!"
Ich brach einen Zweig Jasminblüten von einem Strauch, steckte ihn mir hinters Ohr und stellte mir vor, ich sei so schön wie Mama. Wie aus dem Nichts stand plötzlich Radana vor mir. Sie gurrte ein oder zwei Sekunden lang verwirrt, und als hätte sie schließlich doch entschieden, dass ich keineswegs nach Mama aussähe, trollte sie sich. Wo bist du?, hörte ich Mamas Singsang. Ich krieg dich … Radana quietschte. Sie spielten Verstecken. Mit einem Jahr hatte ich Kinderlähmung bekommen und konnte nicht laufen, bis ich drei war. Als ich ein Baby war, hat Mama sicher nicht Verstecken mit mir gespielt.
Oben seufzte Milchmutter verzweifelt: "Himmel noch mal, Schluss jetzt mit dem Herumgelungere!"

Etwas später an diesem Morgen versammelten wir uns in fröhlich bunten Seidenkleidern, die beinahe die Vögel und Schmetterlinge der Umgebung in den Schatten stellten, im Speisepavillon, einem offenen Teakholzhaus mit Holzboden und einem pago­den­ähn­lichen Dach, das mitten im Hof unter den Obstbäumen und Blumensträuchern stand. Wieder hatte Mama sich verwandelt, diesmal vom Schmetterling in einen Garten. Von oben bis unten war sie blütenüberdeckt. Sie hatte eine weiße Spitzenbluse und einen saphirfarbenen Phamuong-Rock angezogen, der mit winzigen weißen Blümchen gesprenkelt war. Ihre Zöpfe trug sie nicht mehr offen, sondern zu einem Knoten gebunden, um den ein Jasminkränzchen gestreift war. Eine Champakablüte, schlank wie der kleine Finger eines Kindes, hing an einem Seidenfaden um ihren Hals. Wenn sie sich bewegte, um nach diesem oder jenem zu greifen, rollte die Blüte sanft wie Elfenbein auf ihrer Haut hin und her.
Neben ihr fühlte ich mich mit meiner Metallschiene, den klobigen Schuhen und dem zerknitterten blauen Kleid unbeholfen und plump wie eine eilig in Stoff gehüllte Schneiderpuppe auf einem Eisen­ständer. Und als wäre das nicht schon erniedrigend genug, grummelte auch noch unentwegt mein Bauch. Wie lang sollten wir denn noch warten?
Endlich erschien Großmutter Königin - "Sdechya", wie wir sie auf Khmer nannten - auf dem Balkon und stützte sich dabei fest auf Papas Arm. Langsam stieg sie die Treppe herab, und wir alle eilten ihr zur Begrüßung entgegen, knieten nach Rangfolge mit gesenktem Kopf vor ihr nieder, die Hände vor der Brust aneinandergepresst, die Fingerspitzen am Kinn. Unten blieb sie stehen, und einer nach dem anderen rutschte auf Knien zu ihr hin und berührte mit der Stirn ihre Füße. Dann folgten wir ihr zum Speisepavillon und setzten uns auf unsere Plätze.
Vor uns befand sich eine Auswahl von Morgengerichten nach jeder­manns Geschmack: mit Palmzucker gesüßter Lotus­samen-Pudding, Klebreis mit geröstetem Sesam und geraspelter Kokos­nuss, Nudelsuppe mit Rindfleisch, dekoriert mit Korianderblättern und Sternanis, Pilzomelette und Baguette. Mitten auf dem Tisch stand ein Silbertablett mit Mangos und Papayas, von Alter Junge frisch von den Bäumen hinterm Haus gepflückt, und Rambutans und Mangostanen, die Om Bao von ihrem frühmorgendlichen Gang zum Markt mitgebracht hatte. Jedes Mal, wenn Großmutter Königin beschloss, mit uns zu frühstücken, wurde das Morgenmahl zu einer extravaganten Angelegenheit. Sie war eine hochrangige Prinzessin, woran mich jeder ständig erinnerte, damit ich auch wusste, wie ich mich ihr gegenüber zu benehmen hatte.

zu Teil 3