Vorgeblättert

Leseprobe zu Tanguy Viel: Das absolut perfekte Verbrechen. Teil 2

19.02.2009.
I

Mit den Scheinwerfern wegen des Regens, der Zettel ZU VERKAUFEN, mit schwarzem Filzer geschrieben und mit Klebstreifen im Rück­fenster befestigt, ich erinnere mich, man sah ihn im Rückspiegel, und da er durchscheinend war, sah man ihn richtig herum. Den Rückspiegel hatte Marin als Zubehör gekauft, so was kam aus den Staaten, sagte er, und es stand eingeprägt, auf Englisch, "Gegenstände können näher sein, als sie im Spiegel scheinen", und er sagte, das gefalle ihm, dieser ins Glas eingravierte Satz. Er wollte ihn selbst anbringen, kaum dass wir den Verkäufer verlassen hatten, auf dem Parkplatz schon wollte er ihn anbringen, aber ich fand es dämlich, Zeit damit zu vergeuden an jenem Morgen, wo wir hunderttausend Dinge zu erledigen hatten vor dem Nachhausefahren. Also hatte er bis zum nächsten Morgen gewartet, einem Samstag, wegen des allwöchentlichen Besuchs beim Onkel.

Auf dem Weg zum Onkel, gen Norden, wenn man von Marin kam, fuhr man natürlich über die Brücke, dann natürlich durch die Stadt, und nach den Boulevards ging es am Meer entlang. Die Straße schlängelte sich oberhalb der Steilküste dahin, an manchen Aussichtspunkten hätte man sich auf der großen Corniche von Monaco glauben können, wegen der zum Meer hin niederstürzenden Kurven, den Abgrund sichtbar unter den Rädern. Aber dafür fuhr er gut, Marins Mercedes.

Am nächsten Morgen also hatte er den Rückspiegel über der Windschutzscheibe angebracht, dann war er so gefahren, den Blick immer halb im Spiegel, um den Onkel zu besuchen, den bettlägerigen, der Lattenrost unter dem Gewicht des Greises, die Hände hatte er stets auf dem Leib gefaltet. Außerdem war da die Tante, kaum jünger als er, lesend, kein Mensch hat je erfahren, was es in diesem dicken, bordeauxfarben eingebundenen Buch zu lesen gab, aber sie schlug es nur zu, dieses Buch, wenn Marin hinter ihr ihre Schulter tätschelte, die immer offen stehende Tür ließ sich nicht kontrollieren, allein die Schulter der Tante versah den Dienst einer Tür. Wenn er sich nicht beherrscht hätte, dann hätte Marin draufgeschlagen wie ein Berserker. Aber ihr Auge, das der Tante, saß wie ein unerbittlicher Türspion inmitten der Falten, also beherrschte er sich lieber.

Der Rückspiegel war sehr schnell vergessen, wenn er vor seinem Onkel loslegte, vor der Tante, vor Andrei und mir, loslegte über die Fortschritte der "Jobs", so sein Wort, "Jobs", soll heißen, alles, was er angeblich allein zuwege gebracht hatte, es klang ganz so, als hätte niemand in diesem Zimmer je etwas über ihn gehört, als hätte er irgendwann einmal ohne uns agiert, ohne den Onkel, ganz allein, und schon seit langem die Leitung der Geschäfte übernommen.

Es gab, um die Wahrheit zu sagen, keinerlei Verwandtschaftsbeziehung zum Onkel. Sogar dieser Spitzname, Onkel, verlor sich zu sehr in der Tiefe der Zeiten, als dass man noch gewusst hätte, woher er kam, in diesem Zimmer, dessen einziges Fenster schlecht schloss und klapperte, dann wusste man nie so recht, ob der Wind, ob die Stimme, ob unsere Bewegungen einen Luftzug veranstalteten zum Obstgarten hinaus, in dem nur ein paar Äpfel einsam wuchsen.

Und Marin rezitierte die Liste der Einkäufe, die Buchhaltung im Detail, die komplette Überschau all dessen, was, so der "Onkel", den Lebensunterhalt der Familie sichern sollte. Er selbst, Marin, hatte früher mit den Fingern die Anführungszeichen um die Familie in die Luft gezeichnet. Die "Familie", so musste man das also verstehen, und das Gefühl, dass wir uns zwischen den Anführungszeichen zugehöriger fühlten, als wenn wir eines Blutes gewesen wären, dank des Stolzes, genau dieser Familie anzugehören, mit der krankhaften Notwendigkeit, seinen Platz in ihr zu finden; er vor allem, Marin, der immer an seiner möglichen, jähen, sinnlosen Verbannung herumzudenken schien, auch ohne den geringsten Grund, dass ausgerechnet er fortmüsste. Wenn es einen gab, der das alles hätte aufgeben müssen, dann ich. Aber ich tat es nicht, weder an jenem Tag noch an den Tagen darauf, ich blieb, das ist meine Geschichte.

Unsere Geschichte ist das, hätte Marin gesagt. Und er würde loszetern, immer noch im Glauben, so den Sorgen des Onkels zu begegnen, der schon seinen Tod erlebte, ebenso rasch, wie er uns kommen sah, und stumm darum flehte, dass nach seinem Tod nichts verändert würde, dass wir auf seinen Ruinen, so suggerierte er, weitermachen würden. Und ich fragte innerlich: weitermachen womit? Dann stand Marin auf, marschierte zum Fenster, versuchte es zu schließen und blieb dort stehen, aufrecht, um den regenfleckigen Scheiben, an denen sein Atem sich neblig niederschlug, zu erzählen, wie nah der Sieg sei, um wieviel wertvoller die Opfer eines jeden von uns, wie undenkbar der Misserfolg, und immer klammerten sich in seinem Rücken seine Arme aneinander. Dann schloss der Onkel die Augen, und er beließ sie so, geschlossen, die ganze Zeit, und es schien, als interessierten wir uns für seine Träume, für die Hinter­lassenschaft seiner Träume. Und Andrei und ich gingen hinaus, von Müdigkeit befallen, wie Auto­maten, und beobachteten durchs Fenster, wie die dunkle, undurchdringliche Silhouette, wie Marin die Lippen bewegte, und ich stellte mir immer noch, hier zwischen zwei Bäumen, die geschlossenen Lider des Onkels vor, der voller Ruhe und Wärme seufzte.

Teil 3