Vorgeblättert

Leseprobe zu Laszlo Vegel: Sühne. Teil 3

12.04.2012.
Weißt du, Junge, so feige waren sie auch wieder nicht, wie sich die Leute erzählen. Und das war mein Verhängnis, sagte er, und darauf begannen die Worte nur so aus ihm herauszusprudeln. Mein Schwabe zum Beispiel war ein äußerst tapferer Mann, was ich erst jetzt, alt geworden, begriffen habe. Zu spät! Ich rede von dem Oberst, den wir gefangen genommen hatten. Man überließ ihn mir, ich sollte ihn bewachen. Pass gut auf ihn auf, befahl der Kommissar, mehr als auf deine eigenen Augen, er darf nicht entkommen, denn die Kommandantur will ihn gegen einen kommunistischen Gefangenen austauschen. Er drückte mir einen Revolver in die Hand. Versucht er zu fliehen, schießt du ihm in den Schenkel. Hast du verstanden?, brüllte er. Jawohl, Genosse Kommissar. Zu einem solchen Auftrag gehörte viel Vertrauen, für mich war es eine Auszeichnung. Hätte mir der Oberst damals nicht in die Suppe gespuckt, säße ich heute an Titos Tisch. Ich wäre vielleicht sogar General. Doch obwohl ich ihn strengstens bewachte, überlistete er mich eiskalt. Beim Marschieren ging er vor mir, während ich den Revolver auf ihn gerichtet hielt. So weit wäre auch alles in Ordnung gewesen, doch eines Tages verlangte er nach einer täglichen Ration Zigaretten. Sie stünden einem Offizier zu, sagte er. Der Kommissar hob die Schultern, dachte eine Zeit lang nach, dann nickte er. In Ordnung, sagte er, ab jetzt bekommt er fünf Zigaretten pro Tag. Das war eine großzügige Geste, denn die Zigaretten reichten kaum für uns selbst. Es kam häufig vor, dass wir eine zu zweit rauchen mussten. Der Schwabe zündete sich theatralisch eine an, begann aber schrecklich zu husten und zu keuchen. Verärgert warf er die brennende Zigarette weg und brüllte los. Der Dolmetscher, ein großgewachsener, deutschstämmiger Mann aus Zagreb, ein Hitlerhasser, rannte herbei. Wir nannten ihn unseren Schwaben. Der Oberst protestierte, bat sich aus, nie wieder solch billigen, minderwertigen Tabak rauchen zu müssen, als ranghohem Gefangenen stünde ihm bessere Behandlung zu. Zähneknirschend erklärte der Kommissar, in dieser Frage sei das Oberkommando zuständig.
Ein paar Tage später traf der Kurier mit dem schriftlichen Befehl ein, dem Oberst stehe täglich eine Ration von zehn amerikanischen Zigaretten höherer Qualität zu, diese würden vom Oberkommando zur Verfügung gestellt. Sollte auch nur eine einzige Zigarette fehlen, würde der Dieb nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern vors Kriegsgericht gestellt. Das bezog sich höchstwahrscheinlich auf mich, was mich sehr kränkte. Ich und den Schwaben bestehlen! Von da an erhielt der Oberst seine tägliche Zigarettenration. Mit größtem Genuss rauchte er die wunderbar duftenden amerikanischen Zigaretten, blies zufrieden Ringe in die Luft. Den minderwertigen Tabak wickelte ich in Zeitungspapier und teilte ihn immer öfter mit meinen Kameraden. Dem Oberst fiel nicht im Traum ein, mir auch nur einen Zug abzugeben. Selbst die Kippe trat er schön behutsam aus. Es hätte nur gefehlt, dass er mitten in den bosnischen Bergen einen Aschenbecher aus Bleikristall verlangte! Ein einziges Mal ließ er sich herab, mir und dem Dolmetscher eine Zigarette zu geben.
Ihr glaubt wohl, ich will mich unbedingt für den Führer aufopfern, was?, fragte er frech blinzelnd. Ihr seid dumm! Gewiss denkt ihr das. Nun, ihr irrt euch. Ich kann den verdammten Schweinehund nicht ausstehen. Dieser armselige Provinzler! Nie in diesem verfluchten Leben wird ein Mann von Format aus ihm, sagte er und verstummte. Ich hasse ihn, rief der Dolmetscher, worauf ihn der Oberst mit einem kalten Blick maß. Was hast du dann hier unter den Kommunisten zu suchen?, fragte er verächtlich. Der Dolmetscher übersetzte es, blickte sich dann erschrocken um und ging mit gesenktem Kopf davon. Er war kein Parteimitglied, doch hatte er Angst, bestraft zu werden, weil er es gewagt hatte, einen solchen Satz auszusprechen. Nicht nur die Zigaretten waren eine Marotte des Obersts. Täglich zweimal, morgens und abends, wusch er sich in kaltem Wasser, halbnackt ausgezogen, selbst in der bittersten Kälte, und zog sich dann frische Unterwäsche und ein frisches Hemd an. Seine Wäsche wusch er eigenhändig, er bat uns nur, sie am Lagerfeuer trocknen lassen zu dürfen. Wir müssen ein komisches Bild abgegeben haben, am Feuer kauernd und Partisanenlieder singend, während über uns das Hemd und die Unterwäsche des Obersts trockneten. Er rasierte sich, als hielte er eine Zeremonie ab, doch am Ende blieb nicht ein Härchen auf seiner Visage.
All diese Extravaganzen hätte ich irgendwie akzeptiert, fuhr er fort, wenn er sich nicht in die Schlucht gestürzt hätte. Die Schwaben setzten unerwartet zu einem heftigen Gegenangriff an, und wir mussten den Rückzug antreten. Auf gewundenen Bergpfaden folgte ich dem Oberst mit vorgehaltenem Revolver, und obwohl ich nicht den geringsten Verdacht hatte, dass er fliehen könnte, ermahnte ich ihn mehrere Male, dass ich ihm, falls er es versuchte, in die Beine schießen würde. Doch war alle Vorsicht vergebens, bei einer Wegbiegung stieß er sich mit beiden Beinen ab und sprang hinunter. Ich konnte die amerikanische Zigarette in seinem Mundwinkel deutlich sehen … Ich hatte registriert, wie viel er an diesem Tag bereits geraucht hatte, und so wusste ich genau, dass noch sieben Zigaretten in der Dose in seiner Hosentasche geblieben waren. Das Ganze dauerte nur einen Augenaufschlag, ich hatte nicht einmal die Zeit abzudrücken. Doch das wäre auch nicht nötig gewesen, denn es hatte sich ein Fels gelöst und war auf ihn gefallen. Wahrscheinlich war der Oberst sofort tot, der Fels hatte ihn zertrümmert.

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Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Matthes & Seitz
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