Vorgeblättert

Leseprobe zu Graciliano Ramos: Kindheit. Teil 2

26.08.2013.
Der Rausch

Wir legten an die zwei Wegmeilen zurück. Meine Mutter in einem langen weiten Rock seitlich auf ihrem Pferd, einen Fuß fest im Steigbügel; mein Vater, ein treffsicherer Mann bei Reiterspielen, saß festlich herausgeputzt und aufrecht im Sattel, als käme er einer Pflicht nach, und ich, in seiner Obhut, am Knauf, da ich noch zu klein war, um mich allein auf dem Rücken des Tieres zu halten.
     Wir waren unterwegs zu einem Gutsbesitzer in der Nachbarschaft, einem angesehenen Mann, dessen Gepflogenheiten ihm das Missfallen umsichtiger Leute einbrachte. An diesem Tag nahm ich ihn nicht recht zur Kenntnis, erst einige Jahre später, auf dem benachbarten Marktflecken. In weißen Hosen, einem Gehrock aus feinem Tuch, mit einem Panamahut, glänzenden Halbstiefeln, einem teuren Regenschirm und einem Pfund Sterling an seiner goldenen Uhrkette, wirkte er skandalös wohlhabend. Sehr viel später begegnete ich ihm noch einmal, er machte einen heruntergekommenen Eindruck, roch nach Branntwein und spielte mit Polizisten an Schanktischen oder auf der Straße Karten. Meine Verwandten, sparsam bis zum Geiz, führten diesen Abstieg auf den Regenschirm und auf die Sterling-Münze zurück. Sowie auf all den Überfluss, den er uns an jenem Sommervormittag vor Augen führte: kostbare Möbel, weiße Hängematten mit dicken, weichen, wie Spitzen geklöppelten Bordüren, weiße, duftende Wäsche und auf einem Tablett eine kleine rote Karaffe, umgeben von zierlichen Gläsern,
Dinge, die meine Bewunderung erregten.
     Zugleich verunsicherte mich die ungewohnte Umgebung, und ich litt. Noch unerfahren im Umgang mit anderen, schüchterte mich die Gegenwart Fremder ein. Zweifellos hatte man mir bereits beigebracht, mich als minderwertiges Geschöpf zu betrachten. Meine Kleider waren nicht nur zu kurz, sondern auch schäbig. Ich versuchte, mich zu verstecken und verzog mich humpelnd unter die Hängematten, denn meine Schuhe drückten. Daheim trug ich Sandalen. Zwei Binsensohlen mit Riemen. Es war jedes Mal ein Kampf, wenn ich Schuhe anziehen musste, meine Füße wurden zu Klumpen, sträubten sich, wollten sich nicht in das enge, harte Leder zwängen lassen. Es gelang nur unter Anwendung von Gewalt, und solange sie Widerstand leisteten, wurde ich beschimpft, geohrfeigt, und ich weinte. Ein Paar gelber Schnürstiefel, teuflisches Schuhwerk, prägte mich fürs Leben.
     Unsere Ankunft auf der Fazenda ist mir nicht mehr gegenwärtig, meine Erinnerung setzt erst mit dem Betreten des Wohnzimmers ein. Der Hausherr und mein Vater verschwanden zu einem jener Geschäftsgespräche, die hin und wieder lautstark werden. Meine Mutter und ich blieben in einem Kreis von Röcken zurück.
     Die Wände waren weiß und haben meine Befangenheit vielleicht noch verstärkt. Vor dem Haus stand ein Ochsenkarren unter dem spärlich belaubten Astwerk eines hohen Baumes. Der Karren interessierte mich nicht, er sah aus wie andere auch, aber ich hätte gern gewusst, warum der Baum, ganz anders als der Ginsterbusch in unserem Küchengarten, fast kahl war. Stattdessen schwieg ich schüchtern und verkroch mich in eine Ecke an der weißen Wand, ging auf Abstand zu den Röcken. Ihre Aufmerksamkeit galt meiner Mutter. Es war mir einerlei: Meine Schuhe machten mich den Ochsenkarren vergessen, die Hängematten und die Frauen, die meiner Mutter schmeichelten und sie insgeheim verachteten. Ich nehme an, das liebenswürdige Getue langweilte sie. Sie verstand es nicht, gähnte verhalten, gleichmütig gegenüber den Schönrednerinnen. Eine ältere Frau und ein paar junge Mädchen, darunter eine großgewachsene, ausgelassene Brünette, hinter der sich die anderen versteckten, nichtssagende Geschöpfe, ich erinnere mich kaum noch an sie. Sie lachten, gingen umher und hatten ihren Spaß.
     Ich weiß nicht, wie es dazu kam, plötzlich befand ich mich inmitten der lärmenden Schar, ich weiß nur, dass sie mich von der Wand wegholten und die Schuhe mich irgendwann nicht mehr an Zehen und Fersen drückten. Sie legten mich der Länge nach in eine der Hängematten nahe der alten Dame, irgendwie mussten sie mich ihres Interesses für wert befunden haben. Und da kam auch schon das Tablett mit der Karaffe und den Likörgläsern. Eine Überraschung für meine Mutter, die ihre schmalen Lippen mit dieser kostbaren Substanz färbte, ihre Hände übereinanderlegte und, um Dank bemüht, den Mund verzog. Ich möchte nicht beschwören, dass sich meine Mutter damals wirklich so verhielt. Bei späteren Besuchen jedenfalls tat sie es, weshalb ich auch wage, dies hier zu erwähnen. Ihre dünnen, knotigen Finger verschränkten sich, konnten mir nichts anhaben; ihre harten Lippen verkrampften sich stumm; ihre Augen weiteten sich, kalt, starr und unentschieden.
     Mich erschreckte an diesem Gesicht, dass es nie lächelte. Es zog allenfalls zwei Falten, erstarrte zu einer Grimasse, die kaum vorhandenen Lippen aufeinandergepresst wie die Ränder eines plattgedrückten Bechers. So saß sie da, versuchte, höflich zu sein und nicht zu gähnen. Ihre kleine, hässliche Gestalt musste sie verunsichern, misstrauisch machen gegenüber Liebenswürdigkeiten, aus Furcht, sie könnten nicht ernst gemeint sein. Als ich größer war und versuchte, ihr Freude zu bereiten, begegnete sie mir mit Argwohn und Feindseligkeit; wenn es mir gelang, ihre Zustimmung zu finden, änderte sie rasch ihre Meinung und erging sich in entmutigenden Missfallensbekundungen.
     Das erste Glas Likör wurde mir von der auffallend hübschen Brünetten kredenzt, woher das zweite kam, weiß ich nicht. Ich trank mehrere Gläser, trank die Flasche leer. Benahm mich ungebührlich, verlor meine Schüchternheit, fühlte mich wohl, redete viel und dummes Zeug und verlangte mehr. Eines der Mädchen brachte mir ein Glas Wein mit Honig. Meine Mutter wurde zornesrot und streckte energisch den Arm nach mir aus, ich aber leistete wacker Widerstand. Durch einen Nebelschleier erkannte ich unscharf ineinander verfließende Formen. Ich stieß die Hand meiner Mutter zurück und griff nach dem Glas. Von da an bis zu dem Augenblick, als ich einschlief, verlor ich jegliches Zeitgefühl. Manches trat überdeutlich hervor, anderes wiederum verflüchtigte sich gänzlich. Mit einem Mal fasste ich Mut, fürchtete nichts mehr. War mir meiner sicher und sah Verbündete in den Gestalten, die mich umstanden.
     Eine fiel mir besonders auf, sie war groß, brünett, rosig, lebhaft und lachte. Das junge Fräulein! Zwanzig Jahre später erfuhr ich, dass sie auf die schiefe Bahn geraten war, es tat mir leid um sie. Sie verkam, hat sich wahrscheinlich rasch zugrunde gerichtet. Die Ehrbegriffe des Sertão verkümmerten, eine Tradition zerbrach. Doch in den Städten verbreitet man weiter Lügen. Die Volksliteratur und die Liedersammlungen der Jahrmarktsänger erzählen unverdrossen von wilden, rachsüchtigen Bauern und einfältigen, viel zu sittsamen Jungfern. Alles Lüge. Das junge Fräulein, nahe der Koppel aufgewachsen, kannte die Geheimnisse der Fortpflanzung und machte nicht viel Aufhebens. Als Tochter eines Gutsbesitzers schickte sie sich in die Ehrbarkeit und wartete auf einen Bräutigam. Die Schulden aber wuchsen, die Fazenda verwaiste, die Umfriedungen verfielen, der Oberst, nunmehr ohne Uhrkette und Regenschirm, mischte sich unters niedere Volk, das junge Fräulein entsagte der Tugend, brach mit der Moral und beugte sich dem Gesetz der Triebe.
     Die Schöne! Ich rückte ihr zu Leibe, keck und kindlich, rieb mich an ihr. Unvermittelt hatte der Alkohol in mir das Verlangen nach den Liebkosungen einer Person des anderen Geschlechts geweckt.
     Ich vermute, es war nicht das erste Mal, dass man mich betrunken machte. Die Frauen in den ländlichen Regionen des Nordostens stellen ihre Kinder abends für gewöhnlich mit Zuckersirup und Branntwein ruhig. Meine Geschwister tranken dieses Gebräu und wurden zu artigen Wesen: weinten nicht mehr, schrien nicht mehr und forderten nichts mehr. Sie wachten friedlich auf, teilnahmslos, benommen, sanft wie Lämmer. Sie nässten ins Bett, aber das störte sie nicht, sie schliefen in der Pisse. Und fern von ihnen schlief friedlich Dona Maria. Als sich mein Gesichts- und mein Geruchssinn entwickelten, bemerkte ich, dass die Laken meiner Geschwister entsetzlich stanken. Mit den meinen wird es sich kaum anders verhalten haben.
     Als meine Mutter mich so dreist und ungezwungen sah, versuchte sie mich zu packen. Ich fühlte mich nicht mehr sicher in der Hängematte, erhob mich schwankend, griff nach der alten Dame, zog sie zum Sofa und wollte ihr meine Zuneigung zeigen. Wir setzten uns, ich tat mir keinen Zwang an und legte meinen Kopf in ihren Schoß. Alles um mich her verschwamm, unter anderem, fern, kaum wahrnehmbar, der Baum im Hof, der neben dem Ochsenkarren seine Blätter verlor. Meine Neugierde erwachte erneut, ich deutete kraftlos auf das kahle Gewächs und stammelte:
     »Meine Liebe, was ist das für ein Baum?«
     Ich erhielt die gewünschte Auskunft, doch wenige Minuten später fragte ich nochmals:
     »Meine Liebe, was ist das für ein Baum?«
     Wieder kam die Antwort, aber meine Wissbegierde glich einem Glühwürmchen, leuchtete abwechselnd auf und erlosch. Eine befremdliche Geschwätzigkeit gewann Oberhand über das stumpfsinnige Schweigen, das man mir auferlegt hatte. Das muntere Geplapper des scheuen Tierchens und das laute Gelächter im Raum erstickten den Ärger meiner Mutter. Ihre Macht war dahin. Es kam mir nicht in den Sinn, dass sie diese Macht wiedererlangen und mit mir in unser trauriges Haus zurückkehren, mich schlagen und mir die Ohren langziehen könnte. Ich war überzeugt, die lebhaften Mädchen und die weißhaarige Dame würden für alle Zukunft Tablett, Flasche und Gläser für mich bereithalten und meinem Gebrabbel lauschen.
     Als mein Vater wiederkam, befand ich mich, gleichgültig gegenüber Vorwürfen, im Zustand der Verzückung auf den Knien einer Unbekannten und plauderte mit anderen bezaubernden, mir ebenfalls unbekannten Wesen, die ich jedoch durch den dichten Nebel, der mich umgab, nur verschwommen wahrnahm.
                                   
                                         *

Lesen

Ich saß auf dem Ladentisch, öffnete Pakete und Schachteln, inspizierte den Kleinkram auf dem Regal. Mein Vater, gut gelaunt, zeigte mir das eine oder andere und erklärte mir, wozu es diente.
     Ein paar Hefte weckten mein Interesse. Die Umschläge waren mit drei vertikalen Streifen verziert, mit Klecksen, Flecken und Strichen wie in Zeitungen und Büchern. Ich verfiel auf die unglückliche Idee, eines dieser Hefte aufzuschlagen, und blätterte in den gelben Seiten aus gewöhnlichem Schreibpapier. Mein Vater wollte meine Neugierde anstacheln, indem er mir die schlecht und fehlerhaft gedruckten, wenig einnehmenden Zeilen anpries. Er versicherte, dass Leute, die mit ihnen vertraut waren, über machtvolle Waffen verfügten. Das wollte mir nicht einleuchten. Diese nichtssagenden Striche sahen nicht aus wie gefährliche Waffen. Ungläubig hörte ich ihn ihr Loblied singen.
     Schließlich fragte mich mein Vater, ob ich mir diese Wunderwaffen denn nicht aneignen, so klug wie Pater João Inácio werden wollte oder Advokat Bento Américo. Ich verneinte. Pater João Inácio machte mir Angst, und Advokat Bento Américo, eine nach Dafürhalten des Schöffengerichts herausragende Persönlichkeit, wohnte außerhalb unserer Stadt und interessierte mich nicht. Mein Vater aber ließ nicht locker. Diese beiden Männer waren und blieben für ihn Vorbilder. Er brachte sie mit den Fibeln im Regal in Verbindung und setzte das perfide Verhör fort. Wollte ich denn wirklich nicht wissen, was die schwarzen Zeichen auf dem gelben Papier bedeuteten?
     Solches sprach der Versucher in Menschengestalt an jenem verhängnisvollen Morgen. Ich war überrascht. Im Allgemeinen fragte man mich nicht lange, ob mir etwas behagte oder nicht: Es gab Pflichten, und ich hatte mich unterzuordnen. Die plötzliche Entscheidungsfreiheit, das Recht zu wählen, weckten ein vages Misstrauen in mir. Was hatte das zu bedeuten? Immerhin führte die freundlich geäußerte Frage dazu, dass ich mich anders als sonst verhielt. Ich wollte nicht unhöflich und verbockt erscheinen, mich nicht wie gewöhnlich stumm unterwerfen. Und so ließ ich mich denn überzeugen, wenngleich ohne Begeisterung und in der Hoffnung, dass mir das Gekritzel auf dem Papier dazu verhelfen würde, kleine Pflichten und Strafen zu umgehen. Und ich sagte ja.
     Das Lernen begann umgehend mit dem Aufzeigen von fünf mir bereits bekannten Buchstaben; den gleichen, wie ich sie ein Mädchen einem bärtigen Dorfschullehrer vor einigen Jahren hatte vorstammeln hören. Ich war verwundert. Seltsam, vorn in der Fibel tauchten genau die Silben auf, die eine fremde Person an einem weit entfernten Ort dahergesagt hatte. Wie war das möglich? Mein Vater versicherte, die Buchstaben würden tatsächlich so und nicht anders ausgesprochen.
     Am nächsten Tag kamen neue Buchstaben hinzu, und so weiter und so fort - und die Sklaverei, der man mich listig unterworfen hatte, begann. Man verurteilte mich zu einer abscheulichen Arbeit, und da ich nicht in der Lage war, ihr angemessen nachzukommen, verdoppelte man die Stunden, mir blieb für nichts anderes mehr Zeit. Die Pakete mit den Eisenwaren und all den kleinen Dingen gehörten jetzt der Vergangenheit an, wie auch die bunten Bilder auf den Kattunballen. Ich hockte auf einer Kiste, mit leerem Hirn und dem Abc auf den Knien.
     Mein Vater war nicht zum Lehrer berufen und wollte mir dennoch das Alphabet eintrichtern. Ich widersetzte mich, er beharrte darauf das Ergebnis war verheerend. Er wurde schnell ungeduldig und schüchterte mich ein. Er warf mir rasch ein halbes Dutzend Buchstaben hin und ging dann Karten spielen. Nachmittags griff er nach einem Maßstock und nahm mich mit in den Wohnraum - es ging stürmisch zu während des Unterrichts. Hätte ich den Maßstock nicht immer vor Augen gehabt, wäre mir vielleicht etwas über die Lippen gekommen. So aber blieb ich stumm. Ein Stück Holz, schwarz, schwer, vier Finger breit.
     Meine Mutter und meine natürliche Schwester nahmen sich meiner an: Sie holten mich aus dem Laden und versorgten mich auf der Maniokpresse unter dem Vordach mit den erforderlichen Kenntnissen. Es war eine Qual. Die Fibel nutzte sich ab, zerfledderte, saugte sich voll mit Schweiß, und ich rieb darauf herum, um ihr Ende zu beschleunigen.
     Es half nichts. Eine neue Fibel kam - die fetten, widerlichen Striche und die drei senkrechten Kleckse verursachten mir
Übelkeit. Was tun? Dachte ich an den Maßstock, riss ich die Augen auf. Dennoch wurde ich zusehends schläfriger, der Kopf sank mir nach vorn, meine Arme erschlafften - und gequält wiederholte ich den langweiligen Singsang Mocinhas an meiner Seite. Ich versuchte aufzuwachen, mich zu rühren. Die Müdigkeit war bleiern, der Widerwille verstopfte mir die Ohren, raubte mir die Sprache. Und die Dinge um mich her versanken im Dunkel, die Gedanken gerieten ins Stocken. Doch allmählich begriff ich die Geschichten über Trancoso. Sie waren einfach, nachvollziehbar, im Gegensatz zu dem, was man mich zwang, auswendig zu lernen.
     Schließlich gelang es mir, mich mit nahezu allen Buchstaben vertraut zu machen. Da zeigte man mir fünfundzwanzig weitere Buchstaben, anders als die vorherigen, aber gleichlautend. Verwirrung, Verweigerung, Verzweiflung, der Wunsch, Schluss zu machen damit. Und dann kamen ein drittes Alphabet und ein
viertes, das Chaos war perfekt, ich verstand nichts mehr. Vier verschiedene Buchstaben, die alle gleich ausgesprochen wurden. Hätte man mich mit den Großbuchstaben vertraut gemacht und die Kleinbuchstaben für später gelassen, hätte ich mich vielleicht weniger dumm angestellt. Sie bombardierten mich mit all diesen fürchterlichen Zeichen gleichzeitig, den großen und den kleinen, den gedruckten und den handgeschriebenen. Es war die Hölle. Doch ich schickte mich in mein Los - und besiegte die Buchstaben. Zwei Konsonanten allerdings konnten sich behaupten: diese elenden Dinger, sie verdrießen mich noch heute beim Schreiben.
     Solange ich allein war, ging alles gut, in Gegenwart meines Vaters aber verstummte ich. Er nahm mich einige Wochen hart dran, ehe er zu dem Schluss kam, dass der Versuch, mir etwas beizubringen, nicht lohnte. Einmal täglich rief mich seine strenge Stimme zum Unterricht. Ich stand auf, mit einem bangen Vorgefühl, ging in den Wohnraum, innerlich erstarrt. Mein Hirn bockte: Die Zunge rutschte mir weg, ich nuschelte wirre Laute. Zog mich schließlich aus der Klemme, indem ich die schwierigen Konsonanten mit Namen versah: das T war ein Ochse, das D ein kleiner Truthahn. Mein Vater lachte über meine Erfindung, verfiel jedoch rasch wieder in seinen fordernden, strengen Ton. Nie war er zufrieden. Der Maßstock schlug mir auf die Hände. Als ich zu den brenzligen Stellen kam, blieb mir schier das Herz stehen, ich schluckte trocken, mein Blick trübte sich, durch mein Ohrensausen hindurch drangen unerbittlich die Beanstandungen meines Vaters. Hätten die beiden Buchstaben nebeneinander gestanden, hätte dies mein Martyrium verringert, denn hatte ich den ersten entziffert, war der zweite ein Kinderspiel. Aber sie standen auseinander, gewiss verbarg sich hinter ihrer Anordnung eine perverse Absicht - und meine Qual verdoppelte sich.
     Meine Hände schwollen an, die Handflächen färbten sich violett, die Finger ließen sich kaum noch bewegen. Sie pochten, als hätten sie ein Uhrwerk in sich. Ich musste sie hochhalten. Als die Tortur vorüber war, setzte ich mich auf eine Bank im Essraum, legte die Arme auf den Tisch, versuchte den pochenden Schmerz zu vergessen. Die Kröten im Felswehr sangen, in Cavalo-Morto ratterte die Entkernungsmaschine, auf der anderen Seite der Gasse schrie sich Dona Conceição nach ihren Töchtern heiser. Sie waren hier, ganz nah, unter dem Vordach und im Flur, spielten mit meinen Schwestern, aber ich konnte sie nicht sehen. Meine tränenblinden Augen erkannten nur mit Mühe das Gartentor. Meine Hände ruhten auf der Tischplatte, reglos. Ich glaube, ich war dem Wahnsinn nahe. Suchte bang Zuflucht bei meinen kleinen Traumgestalten, die meine Einsamkeit milderten. Die Welt wurde zu einer Spielzeugkiste, mit Menschen, klein wie Kinderdaumen.
     Kümmernis und Leid hatten mich immer wieder heimgesucht. Doch so schnell wie sie gekommen waren, waren sie auch wieder verschwunden. Selbst wenn sie sich bisweilen häuften. Gefolgt von langen friedlichen Perioden. In optimistischen Augenblicken glaubte ich, sie seien endgültig vorüber.
     Jetzt aber erlag ich diesem Irrtum nicht mehr. Die drei tränenfeuchten senkrechten Striche verliefen neben meiner schmerzenden Hand, die widerspenstigen Buchstaben würden mir Tag und Nacht zu schaffen machen, immerzu. Die Sonnenstrahlen, die sich über den Ziegelboden bewegten und die Wand erklommen, waren Vorboten meiner nahenden Qual. In einigen Stunden, einigen Minuten würde sich die furchtbare Szene wiederholen, dann umgaben mich Gebrüll und unbändiger Zorn, vernichteten mich, merzten die letzten Bewusstseinsreste aus, und das Stück Holz hämmerte ein auf mein geschundenes Fleisch.
     Schließlich verzweifelte mein Vater, gab es auf, mir etwas beizubringen, bekümmert, einen solchen Idioten gezeugt zu haben, und ließ von mir ab. Ich war wie befreit und machte mich unter Mocinhas Anleitung ans Buchstabieren. Die beiden Buchstaben wurden zahm. Einen Monat lang stammelte ich Silben. Gegen Ende der Abc-Fibel fanden sie zusammen, bildeten ganze Sätze, gewichtig und verwickelt, die mich verwirrten. Bestimmt hatte mir mein Vater eine gemeine Lüge aufgetischt an jenem vermaledeiten Morgen, an dem er mir die Vorzüge bedruckten Papiers predigte. Ich las zwar nicht fließend, konnte aber mühsam keuchend so kluge Sprüche wiederkäuen wie: »Faulheit ist der Schlüssel zur Armut - Wer auf keinen Rat hört, hat selten Erfolg - Sprich wenig und gut, und man wird dich schätzen.«
     Dieser Manwirddichschätzen war für mich ein Mann, und ich konnte nicht verstehen, was er auf der letzten Seite meiner Abc-Fibel machte. Die übrigen Blätter lösten sich und gingen verloren; mir blieben nur noch die fettgedruckten Zeilen, die in komprimierter Form das von meinem Vater angekündigte Wissen enthielten.
     »Mocinha, wer ist dieser Manwirddichschätzen?«
     Mocinha war verwundert über meine Frage. Manwirddichschätzen, ein Mann? Ich weiß nicht. Oder doch? 'Sprich wenig und gut, und man wird dich schätzen.'
     »Mocinha, was heißt das?«
     Ehrlich, wie sie war, gestand Mocinha, dass sie keinen Manwirddichschätzen kannte. Das machte mich traurig, und ich grübelte über das Versprechen meines Vaters nach - auf neue Enttäuschungen gefasst.

zu Teil 3