Vorgeblättert

Leseprobe zu Christian Buckard: Egon Erwin Kisch

14.02.2023.
16. »Der rasende Reporter«

Während Egon Erwin Kisch Mitte der Zwanzigerjahre der berühmteste Reporter Deutschlands war, hatte in den USA Ben Hecht diesen Rang inne. Der 1894 als Sohn jüdisch-russischer Einwanderer geborene Hecht arbeitete seit 1910 für das Chicago Daily Journal. Im Auftrag dieser Zeitung hatte er – ebenso wie Kisch in Prag – die dunklen Straßen der Stadt durchstreift, das Leben der Arbeiter, Obdachlosen und Gauner kennengelernt. Nach dem Weltkrieg schickte ihn seine Zeitung nach Deutschland, wo er über ein Jahr blieb und Reporter der Revolution wurde. In München sah er während der Tage der revolutionären Regierungen fast täglich Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller. In Berlin freundete sich Hecht mit George Grosz 1 und dem USPD-Politiker Hugo Haase an, der Ende 1919 einem Attentat zum Opfer fiel. Hecht verließ Deutschland ohne Illusionen über eine demokratische Zukunft des Landes, überzeugt, dass in Deutschland Gehorsam noch stets höher als Moral geachtet werde, und kehrte nach Chicago zurück.

Im Frühling 1921 verkündete Hecht seinem Chef vom Dienst, Henry Justin Smith, dass direkt unter der dünnen Oberfläche fantasielos formulierter »News« das wahre Leben, Stoff für Literatur zu finden sei. Hecht wollte die »Linse« sein, die das Leben in der Stadt in neuen Farben zeigen würde, unter seinem Mikroskop würden Leben und Sterben in Chicago sichtbar werden! Smith war zwar der Meinung, dass Hechts Vorhaben eher in den Bereich der Literatur gehöre und weniger mit den Aufgaben eines Zeitungsmannes zu tun habe, doch er stimmte zu. Und so begann Hecht mit seiner Kolumne »A Thousand and One Afternoons in Chicago« (»Eintausendundein Nachmittage in Chicago«). Dass seine Momentaufnahmen ein enormer Erfolg wurden, lag Hechts Einschätzung nach daran, dass sie ein enorm vielseitiges Bild der Menschen Chicagos boten. Und all diese Geschichten werden aus der Perspektive eines engagierten und gleichzeitig distanzierten Beobachters erzählt. 1922 gab er seine Stadtgeschichten mit einem Vorwort von Henry Justin Smith als Buch heraus. Hecht beließ es nicht bei seinen Alltagsreportagen: Einige Jahre später sollte er der erfolgreichste und einflussreichste Drehbuchautor Hollywoods werden.

Es ist nicht auszuschließen, dass Kisch im »Romanischen Café« über befreundete amerikanische Kollegen von Hechts erfolgreicher Reportagensammlung erfuhr. Oder vielleicht hatte ja auch Kischs Verleger Erich Reiss von Ben Hechts Erfolg gehört und war deswegen auf die Idee gekommen, eine Sammlung mit Egoneks Alltagsabenteuern herauszubringen. Oder Hecht hatte bei einem seiner Besuche im Münchner »Café Stefanie« oder im »Romanischen Café« von Kischs »Streifzügen« gehört. Wie dem auch sei: Obwohl Kischs Prager Geschichten, sein Roman und natürlich sein Kriegstagebuch von der Kritik gefeiert worden waren, war ihm der große Durchbruch in Deutschland noch nicht gelungen. Und finanziell betrachtet, war für einen deutschsprachigen Autor nur der Erfolg in Berlin und eben nicht im kleinen Prag oder in Wien entscheidend.

Am ersten August 1924 erhielt Kisch vom Erich Reiss Verlag den Auftrag, eine Reportagensammlung zusammenzustellen, die ihm – so hoffte er inständig – »wenn nicht irgendein nicht vorauszusehendes Malheur« eintreten sollte, »endlich einen wirklichen Erfolg« bescheren könnte. Das Problem war: Kisch blieben nur vier Wochen Zeit, um dem Verlag ein fünfhundert Schreibmaschinenseiten umfassendes Manuskript zu liefern. Und so saßen Kisch und Gisl täglich sechzehn Stunden »in einem Nest auf dem Wannsee« und bereiteten das Manuskript vor. Fern von »Café, Telefon, Freunden«, sodass Kisch ungestört »mit Volldampf« schreiben konnte.

Über fünfzig seiner unterhaltsamsten Reportagen wollte Kisch in einem einzigen Buch publizieren. Für alle war etwas dabei – von Erlebnissen aus dem ersten Kriegsjahr und einem Tauchgang als Berichterstatter des K. P. Q., über einen Augenzeugenbericht von der Verhaftung und Erschießung des Einbrecherkönigs Breitwieser, die Heizer des Schiffes Vaterland, Streifzüge durch das dunkle London, seine Prager Reportage über die »Mutter des Mörders« bis hin zur wissenschaftlichen Untersuchung der entscheidenden Frage »Wat koofe ick mir for een Groschen?«. Dank der Auswahl und des Kompositionstalents von Kisch (und Gisl?) entstand so ein Buch, das geeignet ist, seinen Lesern tatsächlich ein atemloses Lektürevergnügen zu bescheren. Nicht die einzelne Reportage, sondern erst die enorme Vielfalt der aneinandermontierten Reportagen, an bearbeiteten Themen und erzählten Geschichten erzeugt dabei das Gefühl, sich einen rasant geschnittenen Film anzusehen, der übergangslos von einer Geschichte zur nächsten jagt.

»Eine solche sinnlos scheinende Hast«, schreibt Kisch Jahrzehnte später, »entsprach und gefiel der wurzellos gewordenen, enervierten Nachkriegszeit, und deshalb – nicht etwa um der Entdeckung neuer Stoffgebiete oder einer sachlichen Darstellungsart willen – bin ich eine Zeitlang ein Mode-Autor gewesen.«

Wenn Kisch seine Arbeitsweise jener Jahre im Rückblick auch als typische Zeiterscheinung betrachtete, für Leser wie Robert Musil waren sie viel mehr, geradezu eine »Zeitnotwendigkeit«. Denn »der Leser«, jubelte Musil, »der die Nase in dieses Buch steckt, sieht durch ein Periskop Gebiete der Welt ( samt Beleuchtung ), die er sonst nie kennenlernen könnte«.

So wie er es fast immer gehalten hatte, wie es auch Ben Hecht in Chicago erprobt hatte, wählte Kisch für die meisten dieser Reportagen das große Abenteuer im kleinen Alltag aus. Die vom Reporter geschilderten »Orte und Erscheinungen«, so Kisch im Vorwort,

die Versuche, die er anstellt, die Geschichte, deren Zeuge er ist, und die Quellen, die er aufsucht, müssen gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig zu erreichen sein. [ ... ] Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt!

Tucholsky urteilte, dass sich das Buch »glatt und unterhaltsam« lese, wobei ihn Kischs Vorwort »mehr fesselte als das ganze Buch«. Tatsächlich gehört Kischs einleitendes Credo des Reporters bis heute zu seinen berühmtesten Texten überhaupt:

Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verläßlich, wie sich eine Aussage geben läßt.

Das ist der Kisch-Mythos in zwei Sätzen: Der Reporter – also Kisch – ist letztlich so etwas wie eine unbestechliche, objektive Kamera. Unberührt von Vorurteilen, Emotionen oder Interessen streift sie durch die großen Städte, macht Nahaufnahmen, zoomt heraus und hinein, natürlich immer mit eingeschaltetem Mikrofon, verlässlich nur daran interessiert, die Wirklichkeit in Momentaufnahmen einzufangen, festzuhalten. Der Reporter, so Kisch, sei immer »von den Tatsachen abhängig«, er habe zu arbeiten, sich »Kenntnis von ihnen zu verschaffen, durch Augenschein, durch ein Gespräch, durch eine Beobachtung, eine Auskunft«. Kisch räumt zwar in seinem Vorwort ein, dass »Subjekt und Objekt« der jeweiligen Reportagen »in verschiedenen Lebensaltern und in verschiedenen Stimmungen« gewesen seien, »als die Bilder entstanden«, auch »Stellung und Licht« seien »höchst ungleich« gewesen. Und doch sei »nichts zu retuschieren, da das Album heute vorgelegt wird«.

Was Tucholsky auf den Plan rief, ihn provozierte, war Kischs »Dehumanisierung« des Berufs, seine implizierte Behauptung, der Reporter müsse und könne wie eine Art »Maschinenmensch« oder »Golem« funktionieren. Ohne einen eigenen Standpunkt. »Das gibt es nicht«, stellt Tucholsky klar. »Es gibt keinen Menschen, der nicht einen Standpunkt hätte. Auch Kisch hat einen.« Und: »Jeder Bericht, jeder noch so unpersönliche Bericht enthüllt immer zunächst den Schreiber.« Man schreibe ja »immer nur sich selbst«.

Das saß. Weil es stimmte. Und weil Tucholsky es so formulieren konnte, dass man sich noch nach Jahren daran erinnern würde. Und Kisch wusste natürlich, dass Tucholsky recht hatte. Wenn er loszog, um für eine Reportage zu recherchieren, dann blieb er – anders ging es nun einmal nicht – immer der ganze Kisch, mit all seinen »Tendenzen« und »Standpunkten«. Das war seine Stärke, aber auch seine Schwäche. Und selbstverständlich wurde Kisch nach Veröffentlichung seines Reporter-Credos mehr als einmal auf seine angeblich tendenzfreie Herangehensweise angesprochen.

So erinnert sich sein Kollege Curt Riess, für den Egonek »in seinem Fach einfach der Beste war«, dass Kisch ihm Jahre später im Exil anvertraut habe: »Eigentlich kann man gar kein echter Reporter sein, wenn man eine vorgefaßte Meinung hat. Die Wirklichkeit sieht man eben nur, wenn man beide Augen offen hat.« 13 Mit anderen Worten: Wenn Kisch etwa über den ersten Fünfjahresplan in der Sowjetunion oder die Arbeitsbedingungen in den USA schrieb, konnten keine »echten« Reportagen dabei herauskommen, weil Kisch die Wirklichkeit notgedrungen aus seiner kommunistischen Perspektive betrachtete. Als Géza von Cziffra seinem Idol Kisch eines Tages vorhielt, dass es bei ihm doch einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis gebe, »zuckte er nur mit den Schultern: ›Das gilt nicht für mich. Mein Standpunkt ist der richtige‹«.

In einem ganz anderen Ton versuchte Kisch seine »literarischen Reportagen« in einem Brief aus dem Jahr 1939 so zu definieren:

Meine Literatur versucht sozusagen, die Wirkungen des Romans und der Short Story mit den Mitteln der beweisbaren Wahrheit zu erzielen, womöglich ohne Fiction und ohne Imagination. Sie kann als Reiseschilderung oder Großstadtreportage katalogisiert werden.

Seinem jungen Kollegen und Genossen Fritz Beer erklärte Kisch das Verhältnis zwischen »Wahrheit« und »Fiction« so:

Ich will meine Leser sowohl informieren wie unterhalten. Sie sind noch sehr jung. Eines Tages werden Sie lernen, daß die Wahrheit nicht immer überzeugend ist und daß eine erfundene Pointe manchmal mehr Wahrheitsgehalt haben kann als das wirkliche Erlebnis. Sie kann einer individuellen Erfahrung allgemeine Gültigkeit geben. Aber das trifft natürlich nicht immer zu.

»Fiction«, Wahrheit, »Imagination« hin oder her – der Mythos vom unbestechlichen, nur der Wahrheit verpflichteten Reporter Kisch war geboren. Der Bauhaus-Fotograf Otto »Umbo« Maximilian Umbehr und der Bildkünstler Heinrich »Henriesse« Sussmann schufen ähnliche Bildmontagen mit Kischs fotografiertem Kopf, natürlich samt Kamera beziehungsweise Fernrohr, der auf eine Art laufenden Maschinenkörper montiert ist.

Der eigentliche Geniestreich war allerdings nicht das Credo, sondern der Titel des Buchs: Der rasende Reporter. Er bestimmte die künftige Wahrnehmung Kischs und stand für einen modernen Typus von Reporter: einer, der immer in Bewegung, immer unterwegs ist. Mal im Großstadtdschungel oder an der Front, mal auf und mal unter Wasser, in der Luft, im schnellen Wagen, in der Straßenbahn oder – im »Romanischen Café«. Als einen solchen »rasenden Reporter« inszenierte sich Kisch gekonnt, einprägsam, wie ein Profi des Marketings, des »Branding« in eigener Sache.

...

Nur wenige Monate später, im Frühling 1925, stand Kischs Lesern eine Überraschung ins Haus, die geeignet war, den Mythos vom kameraobjektiven »rasenden Reporter« ohne Tendenz und Standpunkt gründlich und nachhaltig zu beschädigen.

Von Februar bis April 1925 fand in Leipzig der sogenannte Tscheka-Prozess statt, benannt nach der berüchtigten Geheimpolizei der Bolschewiki. Die über ein Dutzend kommunistischen Angeklagten wurden verdächtigt, den Umsturz der deutschen Regierung beabsichtigt, Mord und Hochverrat geplant und auf den angeblichen Spitzel Johann Rausch ein Attentat verübt zu haben. Den Hauptangeklagten drohte nichts Geringeres als die Todesstrafe. Schlimmer noch: Der KPD drohte die teilweise Aufdeckung ihres illegalen Netzwerkes, das sie zur Vorbereitung eines »deutschen Oktobers« mit sowjetischer Hilfe aufgebaut hatte.

Von der illegalen militärischen Abteilung der KPD und den sogenannten T-Gruppen ( »T« für »Terror«, nicht für »Tscheka« ) hatte Kisch vor Prozessbeginn wohl kaum – wenn überhaupt – mehr als Gerüchte gehört. Denn wenn er in der Partei auch sehr geschätzt war, für den legendären Komintern-Veteranen Willi Münzenberg Kontakte knüpfte und sich für dessen linken Medienkonzern engagierte – ein Mitglied des »Apparats«, ein Geheimnisträger, war er nicht. Und es ist nicht auszuschließen, dass Kisch manche der während des Prozesses enthüllten Pläne und Intrigen tatsächlich für Unterstellungen der Staatsanwaltschaft hielt. Jedenfalls entwarf Kisch einen Text, der den gesamten Prozess gegen die »deutsche Tscheka« als Farce demaskieren und sogar das gut belegte Attentat der »T-Gruppe« relativieren sollte.

Kisch betonte, dass »Individualterror auch gegen den Spitzel« natürlich nicht gutzuheißen sei. Dabei sei es vielleicht »der erschütterndste Moment des ganzen Prozesses« gewesen, als einer der Angeklagten schilderte, »wie er, ein leidenschaftlicher Raucher, einen langen Schriftwechsel von Gesuchen und Antworten führen mußte, um ein paar Zigaretten zu bekommen«. Für gänzlich unschuldig mochte Kisch die Angeklagten zwar nicht halten, doch er betonte, dass es »Attentäter ohne Attentatsabsicht« seien, vielleicht durchaus »Opfer politischer Verschwörerromantik«, sicher aber »Opfer des Spitzeltums und der Sensation«, und befürchtete nicht ohne Grund, dass es der Justiz letztlich nur darum ginge, die KPD in ihrer Gesamtheit langfristig zu kriminalisieren.

Was Kisch damals noch nicht wissen konnte: Die deutsche Regierung hatte kein Interesse daran, durch vollstreckte Todesurteile die Fortsetzung der geheimen – und nach dem Versailler Vertrag illegalen – Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee aufs Spiel zu setzen. Nur: Wie konnten die Deutschen die zum Tode Verurteilten an die Sowjets übergeben, ohne Verdacht zu erregen ?

Als eine durchaus übliche Methode lag ein Gefangenenaustausch zwischen beiden Ländern auf der Hand. Und die Sowjets hatten sich hierzu bereits im Oktober 1924 Gefangene beschafft: Drei deutsche Studenten, Dr. Karl Kindermann, Theodor Wolscht und der aus Estland stammende Maxim Napolinowitsch von Dittmar, wurden von den Sowjets bezichtigt, Spionage betrieben und, damit nicht genug, Revolver- und Giftattentate auf Stalin sowie Trotzki geplant zu haben. Die Verhaftung der drei Studenten hatte bereits seit Wochen Aufsehen in der deutschen Presse erregt.

Am 24. Juni 1925 wurde in Moskau der Prozess gegen »die deutschen faschistischen Mordbuben« eröffnet, denen man vorwarf, ausgerechnet Mitglieder der rechtsradikalen und antisemitischen »Organisation Consul« zu sein, auf deren Konto auch die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau gingen. Derjenige unter den drei Angeklagten, der nicht so recht ins Täter- und Anforderungsprofil der »Organisation Consul« passen wollte, war der promovierte Student Karl Kindermann: Er war Mitglied der KPD und Jude. Dass Kindermann als Mitglied der KPD in Moskau angeklagt wurde, hatte unter deutschen Kommunisten bereits für »Unzufriedenheit« gesorgt. Vor allem blieb die Frage: Warum sollte und wie konnte ein Jude überhaupt Mitglied der rechtsextremen »Operation Consul« werden? Das Berliner Tageblatt stellte süffisant fest: »Daß die Organisation Consul dem ›Jüdischen Bolschewismus‹ mit jüdischen Mördern zu Leibe rückt, ist eine homöopathische Heilmethode, die nicht der Originalität, wohl aber der Wahrscheinlichkeit entbehrt.«

Für die zionistische Jüdische Rundschau war die Sache klar:

Kindermann ist ein Enkel des deutschjüdischen Liberalen, und ein Sohn des nationaldeutschen Juden. Vor dieser Entwicklung mag manchem Juden schaudern, er darf sich aber über sie nicht wundern, denn wer ein halbjüdisches A sagt, muß schließlich zu einem deutschvölkischen Z kommen.

Kindermanns Vater, seit über dreißig Jahren SPD -Mitglied, bestritt energisch, dass sein Sohn »enge Beziehungen zu deutschvölkischen Studentenkreisen unterhielt und quasi Mitglied der Organisation Consul« sei. Auch sei es ebenso wenig wahr, dass er »bis zur Moskauer Verhandlung ängstlich das Geheimnis wahrte, daß er Jude sei«. Und um jeden Zweifel auszuräumen, betonte der Vater, es sei unwahr, dass sein Sohn »unter Verleugnung seiner Zugehörigkeit zum Judentum Tisch- und Gesinnungsgenosse von Elementen war, deren blindwütiger Haß gegen alles Jüdische jedem Menschen mit Geschmack und Gerechtigkeitsgefühl, auch wenn er nicht Jude ist, die Genossenschaft mit ihm verleiden müsste«.

In Moskau muss man geahnt haben, dass man die jüdische Identität des Angeklagten während des Prozesses besser unerwähnt lassen sollte, wenn man weiter an der These vom antisemitischen Faschisten Kindermann festhalten wollte. Moskau hatte sich beim Verfassen der Anklageschrift überhaupt sehr kreativ gezeigt. So deutete die Staatsanwaltschaft nachdrücklich an, dass der Legationsrat der Deutschen Botschaft in Moskau ebenfalls in die Attentatspläne verstrickt gewesen sei, was die vermeintlichen Attentatspläne in die Nähe zum Staatsterrorismus rückte.

Was sicher nicht nur die Zeitungsleser im »Romanischen Café« unter Tränen lachen ließ, war die Behauptung der sowjetischen Staatsanwaltschaft, das deutsche »Studentenwerk« sei nichts anderes als die »Geheimzelle der faschistischen Bewegung«. Der »Auslandsdienst« der Faschisten sollte sich angeblich im Berliner Büro des »Studentenwerks« befinden. Kein Wunder also, dass tatsächlich »bedürftige Studenten« vom »Studentenwerk« keine Stipendien erhalten würden !

Es braucht nicht viel von dem, was Kisch »logische Phantasie« zu nennen pflegte, um sich auszumalen, welche hämischen Kommentare er sich von seinen Bekannten im »Romanischen« ob dieser Nachrichten anhören musste. Doch war dies nicht die einzige Demütigung, die seine Genossen ihm bereiteten. Offenbar hatte man ausgerechnet ihn, den »rasenden Reporter« ohne Tendenz und Standpunkt, seitens der Partei aufgefordert, die Rechtmäßigkeit des Moskauer Prozesses öffentlich zu verteidigen. Schließlich ging es ja darum – was ja längst allgemein vermutet wurde –, die Genossen in Leipzig durch einen Gefangenenaustausch vor der Hinrichtung zu retten. Und deshalb sollte sich der Reporter Kisch nun der Lächerlichkeit preisgeben, seinen guten Ruf einsetzen, im Interesse der Partei.

Nachdem die Studenten in Moskau zum Tode verurteilt worden waren, erschien Kischs Rechtfertigung des Moskauer Prozesses im Tage-Buch seines Freundes und Kaffeehaus-Mitbewohners Stefan Grossmann. Sie trägt den scheinbar sachlichen Titel »Kriminalistisches zum Moskauer Prozess«. Ohne Umschweife geht Kisch hier sofort zum Angriff über. Unter der Überschrift »Unleugbar und nicht in Abrede gestellt« behauptet er unter anderem, Kindermann sei »deutschnationaler Israelit, der sein Judentum sogar vor seinen Reisegenossen verleugnet, im russischen Kerker Kaiser Wilhelms II . Geburtstag feiert und das Ehrhardt-Lied singt«. Dass Kisch jedes Verständnis für einen Menschen fehlte, der sein Judentum verleugnet, ist nicht erstaunlich, dass er die gegenteilige Aussage des Vaters Kindermann ignorierte, allerdings. Noch erstaunlicher ist jedoch, dass es Kisch – sehr untypisch für seine Arbeitsweise – unterlässt, über die Frage zu spekulieren, warum ein Jude überhaupt, falls es denn stimmte, Mitglied der »Operation Consul« werden wollte.

Kindermann, so Kisch, habe seine Mordabsichten gestanden, und zwar nach eigener Aussage unter »Hypnose«. Hätte man in Berlin Hypnose als Teil des Beweisverfahrens zugelassen, der erfahrene Kriminalreporter Kisch hätte seinem ätzenden Spott freien Lauf gelassen. Jetzt musste er damit rechnen, dass ihn in Berlin kein Kollege mehr als Kriminalreporter ernst nahm. Und um alldem noch die Krone aufzusetzen, schließt Kisch seinen Text mit der Aussage, dass »die Gefahr, daß eine Hinrichtung vollstreckt werde«, ohnehin niemals bestanden habe. Und dass »jeder ein Recht hat, gegen das Strafausmaß im Moskauer Prozeß zu protestieren, der auch gegen das im Leipziger Prozeß protestierte«.

Das Problem war nicht einmal, dass Kischs Text einseitig war: Er war einfach in jeder Hinsicht schlecht, des »rasenden Reporters« nicht würdig.

Was Kisch jedoch endgültig blamierte, war die unmittelbar unter seinem Text abgedruckte Stellungnahme Stefan Grossmanns. Sie trägt den Titel »Die Moskauer Attentäter oder Schlechte Leute müssen zum Tode verurteilt werden«.

Hier ist Egon Erwin Kisch das Wort zu einigen, wie er meint, überzeugenden Feststellungen zum Moskauer Prozeß erteilt worden. Aber so weit kann selbst die Toleranz des »T. B.« [ Tage Buch ] nicht gehen, diese »unleugbaren« Tatsachen ohne Kommentar hinausgehen zu lassen.

»Von den Mordanschlägen gegen Trotzki und Stalin«, so Grossmann, sei »im Prozess nicht einmal im allerkleinsten Detail die Rede gewesen«. Es sei diesen sogenannten Attentätern nicht »ein einziger Versuch zu attentätern nachgewiesen«. Und: »Nicht wegen Mordes sind die drei Studenten zum Tod verurteilt worden, nicht einmal wegen eines Mordplans«, davon sei »mit keiner Silbe in der Verhandlung die Rede« gewesen, sondern wegen »in Deutschland erfolgter ›Vorbereitungen‹«. Nun sei es durchaus möglich, dass »Kindermann, wie viele halbassimilierte Juden, gelegentlich deutschnational tat«. Doch was Grossmann wirklich erregte, war Kischs lässig-abwinkende Haltung zu den ausgesprochenen Todesurteilen:

Kisch findet, daß die Gefahr, die Hinrichtung der drei werde voll streckt werden, nie bestanden hat. Nun, vorläufig sind sie zum Tode verurteilt. Es freut mich, daß das Todesurteil Kischs Schlaf nicht weiter stört, es besteht nur die Befürchtung, daß die Ver urteilten selbst weniger gut schlafen, und auch ihre Väter, Mütter, Bräute, Brüder sind vielleicht nicht so herzlich unbesorgt. Aber werden denn Todesurteile ausgesprochen, damit man ihnen nicht glaubt ? Das Todesurteil als neckischer Zeitvertreib – man muß sehr robuste Nerven haben, um diese Moskauer Späße nett zu finden.

Tatsächlich wurden die Angeklagten monatelang darüber im Unklaren gelassen, ob die Todesurteile vollstreckt würden. Sie mussten also tagtäglich und allnächtlich damit rechnen, dass sich die Zellentüre öffnete und sie zur Hinrichtung geführt wurden. Falls Kisch die drei Studenten tatsächlich für »Faschisten« gehalten haben sollte, dürfte sich sein Mitgefühl allerdings in Grenzen gehalten haben.

Den endgültigen, eleganten Stich mit dem Florett versetzte Grossmann seinem Freund Kisch am Ende des Textes: »Moskau, das bedeutet ein in schlechteren Formen arbeitendes Leipzig. Zu welchem Zweck einst die Weltrevolution begonnen wurde!« Und er fragte, auch an Kischs Adresse: »Haben wir uns nicht überhaupt Justiz in einem sozialistischen Staate ein bißchen anders vorgestellt?«