Vorgeblättert

Leseprobe zu Aravind Adiga: Der weiße Tiger. Teil 3

     Aber zunächst ein paar Worte über das Originalplakat. Ich war im Bahnhof von Hyderabad darauf gestoßen, zu der Zeit, als ich ohne Gepäck reiste - abgesehen von einer sehr schweren roten Tasche -, auf dem Rückweg von Delhi nach Bangalore. Ich hatte das Plakat also tatsächlich hier in meinem Büro, Mr Jiabao, in meiner Schreibtischschublade, und zwar ein ganzes Jahr lang. Eines Tages stöberte der Putzjunge in meinen Sachen und wäre um ein Haar darauf gestoßen. Ich bin kein sentimentaler Mensch, Herr Ministerpräsident. Das kann ein Unternehmer sich nicht leisten. Also schmiss ich das Ding weg, aber vorher ließ ich mir noch schnell zeigen, wie man scannt - und Sie wissen ja, der Umgang mit Computern ist uns Indern in die Wiege gelegt. Es dauerte bloß ein, zwei Stunden. Ich bin ein Mann der Tat, Sir. Und da ist es auch schon auf meinem Bildschirm, direkt vor meiner Nase:

                    POLIZEI BITTET UM MITHILFE BEI DER SUCHE
                                   NACH VERMISSTEM
     Die Öffentlichkeit wird hiermit in Kenntnis gesetzt, dass der
     abgebildete Mann, nämlich Balram Halwai alias MUNNA, Sohn
     von Vikram Halwai, Rikschafahrer, polizeilich gesucht wird.
     Alter: 25 bis 35. Hautfarbe: Schwärzlich. Gesichtsform: Oval.
     Größe: 1,65 (geschätzt). Körperbau: Dünn, zierlich.

     Nun, das stimmt nicht mehr ganz, Sir. Ich meine, die «schwärzliche» Haut kommt immer noch hin - obwohl ich schon halb entschlossen bin, eine von diesen Cremes zur Hautaufhellung auszuprobieren, die ständig auf den Markt kommen, damit wir Inder aussehen können wie Europäer -, aber der Rest der Beschreibung ist leider völlig unbrauchbar. In Bangalore lebt man ganz gut, Mr Jiabao - schweres Essen, Bier, Nachtclubs, also was soll ich sagen: «dünn» und «zierlich» - ha! Heute bin ich besser in Form. «Dick» und «schmerbäuchig» wäre zutreffender.
     Aber damit wollen wir uns nicht aufhalten, wir haben ja nicht die ganze Nacht Zeit. Ich sollte die Sache mit dem zweifachen Namen erklären.

                         BALRAM HALWAI ALIAS MUNNA

Das kam so: An meinem ersten Schultag mussten sich alle Jungen der Reihe nach aufstellen und einzeln an den Lehrertisch treten, damit der Lehrer unsere Namen ins Register eintragen konnte. Als ich meinen Namen nannte, starrte er mich mit offenem Mund an.
     «Munna? Das ist doch kein richtiger Name.»
     Er hatte recht: Das heißt einfach Junge.
     «Mehr habe ich nicht, Sir», sagte ich.
     Das stimmte. Man hatte mir keinen richtigen Namen gegeben.
     «Hat deine Mutter dir keinen Namen gegeben?»
     «Sie ist sehr krank, Sir. Sie liegt im Bett und spuckt Blut. Sie hatte keine Zeit, einen Namen für mich auszusuchen.»
     «Und dein Vater?»
     «Der zieht eine Rikscha, Sir. Der hat auch keine Zeit.»
     «Und hast du keine Großmutter? Onkel? Tanten?»
     «Die haben auch alle keine Zeit.»
     Der Lehrer wandte sich zur Seite und spuckte aus - ein Strahl roter Betelsaft klatschte auf den Boden des Klassenzimmers. Er leckte sich die Lippen.
     «Na, dann muss ich es wohl machen, was?» Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sagte: «Wir nennen dich ? Ram. Moment - haben wir nicht schon einen Ram in der Klasse? Da komme ich durcheinander. Dann eben Balram. Du weißt doch, wer Balram war, oder?»
     «Nein, Sir.»
     «Das war der Begleiter des Gottes Krishna. Und weißt du, wie ich heiße?»
     «Nein, Sir.»
     Er lachte. «Krishna.»
     Als ich von der Schule nach Hause kam, erzählte ich meinem Vater, dass der Lehrer mir einen neuen Namen gegeben hatte. Er zuckte die Achseln. «Wenn er das will, dann heißt du eben so.»
     Von da an war ich also Balram. Später legte ich mir natürlich noch einen dritten Namen zu. Aber dazu kommen wir noch.
     Aber was ist das wohl für eine Gegend, wo die Leute vergessen, ihren Kindern Namen zu geben? Werfen wir noch einen Blick auf das Plakat.

          DER VERDÄCHTIGE STAMMT AUS DEM DORF LAXMANGARH
                                             IM BEZIRK ?

     Wie alle guten Geschichten aus Bangalore beginnt auch meine weit weg von Bangalore. Denn jetzt lebe ich zwar im Licht, aber geboren und aufgewachsen bin ich in der Finsternis.
     Aber das bezieht sich nicht auf die Tageszeit, Herr Ministerpräsident!
     Ich meine einen Teil Indiens, mindestens ein Drittel des Landes, eine fruchtbare Gegend voller Reisfelder und Weizenfelder, dazwischen mit Lotos und Seerosen überwucherte Teiche, durch die Wasserbüffel waten, welche an den Lotosblüten und Seerosen knabbern. Die Menschen, die in dieser Gegend leben, nennen sie «Die Finsternis». Sie müssen verstehen, Exzellenz, dass Indien gleichzeitig zwei Länder ist: das Indien des Lichtes und das Indien der Finsternis. Das Meer bringt das Licht nach Indien. Alle Gegenden, die nicht allzu weit vom Meer entfernt liegen, sind wohlhabend. Der Fluss jedoch bringt Indien die Finsternis - der Schwarze Fluss.
     Von welchem Schwarzen Fluss aber rede ich - von welchem Fluss des Todes mit Ufern aus schwerem dunklen Schlamm, dessen fester Griff alles, was darin gepflanzt wird, erstickt, erwürgt, verkümmern lässt?
     Nun, ich spreche natürlich von Mutter Ganges, Tochter der Veden, Fluss der Lichter, unser aller Beschützerin, welche die Kette von Geburt und Wiedergeburt durchbricht. Überall, wo dieser Fluss fließt, da herrscht die Finsternis.
     Was Indien betrifft, Sir, so können Sie beinahe alles, was Sie vom Premierminister über das Land hören, auf den Kopf stellen, dann wissen Sie die Wahrheit. Sie haben sicher schon gehört, dass man den Ganges den Fluss der Befreiung nennt, und Hunderte amerikanischer Touristen kommen nach Hardwar oder Benares, um nackte Sadhus zu fotografieren, und so wird unser Premierminister es Ihnen sicherlich auch schildern und Sie dann auffordern, selbst ein Bad darin zu nehmen.
     Nein! - Mr Jiabao, ich ersuche Sie dringend, nicht in den Ganges zu steigen, es sei denn, Sie wollen den Mund voll mit Fäkalien, Stroh, aufgedunsenen menschlichen Körperteilen, Büffelkadavern und sieben verschiedenen industriellen Säuren bekommen.
     Ich weiß nämlich alles über den Ganges, Sir - als ich sechs oder sieben oder acht Jahre alt war (in meinem Dorf weiß niemand sein genaues Alter), habe ich den heiligsten Ort am Ufer des Ganges besucht - die Stadt Benares. Ich erinnere mich, wie ich als Letzter einer Prozession mit der Leiche meiner Mutter in der heiligen Stadt Benares die Stufen einer abschüssigen Straße hinab zum Ganges stieg.
     Kusum, meine Großmutter, führte den Leichenzug an. Die gerissene alte Kusum! Wenn sie sich freute, rieb sie sich immer die Unterarme, als ob sie ein Stück Ingwer raspelte, nur dass sie dabei statt Ingwer Grinsen produzierte. Sie hatte keine Zähne mehr, aber das machte ihr Grinsen nur noch verschlagener. Sie hatte sich an die Spitze unseres Hauses gegrinst; alle Söhne und Schwiegertöchter lebten in Furcht vor ihr.
     Hinter ihr gingen mein Vater und mein Bruder Kishan, die das vordere Ende des Rohrgeflechts trugen, auf dem die Leiche ruhte; meine Onkel, die Munnu, Jayram, Divyram und Umesh heißen, folgten dahinter und hielten das Ende der Trage. Die Leiche meiner Mutter war von Kopf bis Fuß in ein safrangelbes Seidentuch gewickelt und mit Rosenblättern und Jasmingirlanden bedeckt. Ich glaube nicht, dass sie im Leben jemals so etwas Feines getragen hatte. (Ihr Tod wurde so prunkvoll begangen, dass ich sofort wusste, ihr Leben musste elend gewesen sein. Meine Familie hatte offenbar Schuldgefühle.) Meine Tanten - Rabri, Shalini, Malini, Luttu, Jaydevi und Ruchi - drehten sich dauernd zu mir um und klatschten in die Hände, damit ich zu ihnen aufschloss. Ich weiß noch, wie ich die Hände schwang und sang: «Shivas Name ist Wahrheit!»
     Wir kamen an einem Tempel nach dem anderen vorbei und beteten zu einem Gott nach dem anderen, dann gingen wir im Gänsemarsch zwischen einem Tempel für den Gott Hanuman und einer offenen Sporthalle vorbei, in der drei Bodybuilder rostige Hanteln stemmten. Ich roch den Fluss, bevor ich ihn sehen konnte: der Gestank verwesenden Fleisches, der zu meiner Linken aufstieg. Ich sang lauter:
     «? die einzige Wahrheit!»
     Dann war ungeheurer Lärm zu hören: Feuerholz wurde gespalten. Am Rand des Ghats, direkt am Wasser, hatte man eine hölzerne Plattform errichtet; darauf lagen dicke Holzscheite gestapelt, die von Männern mit Äxten zerhackt wurden. Die kleineren Scheite wurden auf den Stufen des Ghats, die ins Wasser führten, zu Scheiterhaufen aufgestapelt; vier Leichen brannten bereits, als wir ankamen. Wir warteten, bis wir dran waren.
     In der Ferne glitzerte eine Insel aus weißem Sand, und Boote voller Menschen hielten darauf zu. Ich überlegte, ob die Seele meiner Mutter wohl dorthin geflogen sei, an jenen leuchtenden Ort inmitten des Flusses.
     Ich habe erwähnt, dass die Leiche meiner Mutter in ein Seidentuch gehüllt war. Dieses Tuch wurde ihr jetzt übers Gesicht gezogen; und so viele Holzscheite, wie wir bezahlen konnten, wurden über den Leichnam gehäuft, bis nichts mehr davon zu sehen war. Dann zündete der Priester meine Mutter an.
     «Sie war ein braves, stilles Mädchen, als sie in unser Heim kam», sagte Kusum und legte mir ihre schwere Hand aufs Gesicht. «Ich war nicht diejenige, die Streit gesucht hat.»
     Ich schüttelte ihre Hand von meinem Gesicht. Ich beobachtete meine Mutter. Als die Flammen die Seide verzehrten, zuckte ein blasser Fuß heraus wie etwas Lebendiges; die Zehen, die in der Hitze bereits schmolzen, rollten sich auf, widersetzten sich dem, was mit ihnen geschah. Kusum schob den Fuß zurück ins Feuer, aber er wollte nicht brennen. Mein Herz fing an zu rasen. Meine Mutter wollte sich nicht vernichten lassen.
     Unter der Plattform, wo das Holz gehackt wurde, hatte der Fluss am Ufer einen mächtigen, schleimigen Hügel schwarzen Schlamm angespült. Dieser Buckel war mit Jasmingirlanden, Rosenblüten, Seidenfetzen und verkohlten Knochen übersät; ein bleicher Hund kroch schnüffelnd zwischen den Blütenblättern, Stoffstreifen und Knochen herum.
     Ich blickte auf den Schlamm und den gekrümmten Fuß meiner Mutter, und ich begriff.
     Der Schlamm hielt sie zurück; dieser massige, schwellende Hügel aus schwarzem Schlamm. Sie versuchte dem Schlamm zu entkommen; ihre Zehen waren angespannt; doch der Schlamm saugte sie ein, saugte sie immer tiefer. Sie war eine starke Frau, auch im Tod noch, doch der Schlamm war so dick, und mit jeder Sekunde, die der Fluss gegen das Ghat schwappte, wurde es immer noch mehr. Bald würde sie ein Teil des schwarzen Hügels werden, und der bleiche Hund würde an ihr lecken.
     Und da verstand ich es: Das war der wahre Gott von Benares - dieser schwarze Schlamm des Ganges, in dem jeder sterbend versank und verweste, aus dem er wiedergeboren wurde und in den er im Tod wieder versank. Das Gleiche würde mit mir geschehen, wenn ich starb und sie mich herbrachten. Hier wurde nichts befreit.
     Ich hörte auf zu atmen. Zum ersten Mal im Leben wurde ich ohnmächtig.
     Seitdem bin ich nicht mehr am Ganges gewesen: Den Fluss überlasse ich den amerikanischen Touristen!


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