Vorgeblättert

Leseprobe zu Andrew Miller: Friedhof der Unschuldigen. Teil 1

15.07.2013.
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Den Stuhl an die rechte Seite des Wohnzimmerfensters im ersten Stock in der Rue de la Lingerie gerückt, saugt Emilie Monnard - allgemein als Ziguette bekannt - sanft an ihrer Unterlippe und sieht zu, wie über der Rue Saint-Denis, der Rue aux Fers und dem Markt von Les Halles der Tag zu Ende geht. Der Markt hat natürlich längst zusammengepackt, seinen essbaren Abfall haben diejenigen weggeschafft, die davon leben. Was bleibt, der Müll aus verschmutztem Stroh, Fischinnereien, blutdunklen Federn, dem Grünzeug von Blumen, die aus dem Süden hergebracht worden sind, all das wird über Nacht verwehen oder in der Morgendämmerung von Besen und Wasserschwällen verteilt werden. Sie hat das alles ihr Leben lang betrachtet, ohne dass es ihr je langweilig wurde, den Markt und - in ihrem unmittelbareren Blickfeld - die alte Kirche Les Innocents mit ihrem Friedhof, obwohl sich auf diesem seit Jahren nichts mehr tut; man sieht nur den Küster und seine Enkelin zu einer der Pforten gehen oder, seltener, den alten Priester mit seiner blauen Brille, den man offenbar schlicht vergessen hat. Wie sie das alles vermisst. Die vom Kirchentor heranschlurfenden, gewundenen Trauerzüge, die einander stützenden Trauernden, das Läuten der Glocke, die schwankenden Särge, dann das Gemurmel des Gottesdienstes und schließlich - Höhepunkt der Zeremonie - der Augenblick, in dem der Tote, Mann, Frau oder Kind, in die Erde gesenkt wurde, als gäbe man ihn ihr zu fressen. Und wenn die anderen gegangen waren und es auf dem Friedhof wieder still war, saß sie immer noch da und hielt, das Gesicht dicht am Fenster, Wache wie eine Schwester oder ein Engel.
     Sie seufzt, blickt zurück auf die Straße, die Rue aux Fers, sieht Madame Desproux, die Frau des Bäckers, am italienischen Brunnen vorbeikommen und stehenbleiben, um mit der Witwe Aries zu reden. Und dort, beim Marktkreuz, ist Merda der Säufer. Und das ist Boubon der Korbmacher, der allein hinter seinem Laden in der Rue Saint-Denis wohnt … Und dort, vom Ende der Rue de la Fromagerie, kommt diese Frau in ihrem roten Mantel. Hat Merda ihr gerade etwas zugerufen? Es muss ihm eine Erleichterung sein, ein Geschöpf zu beleidigen, das noch tiefer steht als er, aber die Frau bleibt weder stehen noch dreht sie sich um. An Leute wie Merda hat sie sich längst gewöhnt. Wie groß sie ist! Und wie unsinnig gerade sie sich hält! Jetzt spricht irgendwer, irgendein Mann, sie an, obwohl er dabei Abstand hält. Wer ist es? Doch nicht etwa Armand (oder sollte man sagen, es ist nur allzu wahrscheinlich Armand)? Aber nun gehen sie auseinander und sind bald beide nicht mehr zu sehen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, werden einige der Männer, die sie bei Tageslicht hänseln oder beleidigen, ihr nachsteigen und eine Verabredung treffen, ein Rendezvous irgendwo in einem Zimmer mit ihr vereinbaren. Wird es so gemacht? Und sobald sie in dem Zimmer sind … Ah, sie hat es sich vorgestellt, es sich in allen Einzelheiten ausgemalt, ist sogar, in der Zurückgezogenheit und im Kaminfeuerschein ihres Schlafzimmers, heftig errötet bei solchen Gedanken, sündigen Gedanken, die sie eigentlich Père Poupart in Saint-Eustache beichten müsste und vielleicht auch beichten würde, wenn Père Poupart nicht einem gebrühten Schwein so ähnlich sähe. Warum gibt es in Paris keine gutaussehenden Priester? Man hat keine Lust, einem hässlichen Mann irgend etwas zu beichten.
     "Ist jemand Interessantes auf der Straße, meine Liebe?" fragt ihre Mutter, die, eine Kerze in der Patschhand, hinter ihr ins Zimmer kommt.
**     "Eigentlich nicht."
     "Nein?"
     Madame Monnard bleibt hinter ihrer Tochter stehen, streicht ihr über das Haar, fährt geistesabwesend mit einem Finger in dessen Fülle, die sie so sehr liebt. In der Rue aux Fers lehnt ein Lampenanzünder seine Leiter gegen die Lampe gegenüber der Kirche. Schweigend sehen sie ihm zu, wie er geschickt hinaufsteigt und mit seiner Kerze in den Glaskolben hineinlangt, wie gelbes Licht erblüht und er rasch hinuntersteigt. Als Madame und Monsieur Monnard dieses Haus bezogen, gab es in der Rue aux Fers noch überhaupt keine und in der Rue Saint-Denis kaum irgendwelche Lampen. Paris war damals dunkler, obwohl jeder daran gewöhnt, dagegen abgehärtet war.
     "Ich fürchte", sagt Madame, "unser neuer Mieter hat sich verirrt. Da er vom Land kommt, bezweifle ich stark, dass er imstande ist, sich bei so vielen Straßen zurechtzufinden."
     "Er kann sich durchfragen", sagt Ziguette. "Französisch wird er ja wohl sprechen."
     "Natürlich spricht er Französisch", sagt Madame, unsicher.
     "Ich glaube", sagt Ziguette, "er ist ganz klein und stark behaart."
     Ihre Mutter lacht, schlägt sich die Hand vor den Mund, die kleinen braunen Zähne. "Was für alberne Vorstellungen du hast", sagt sie.
     "Und er isst", fährt Ziguette fort, die seit frühester Kindheit zu derlei mal amüsanten, mal beunruhigenden Phantastereien neigt, "nur Äpfel und Schweinefüße. Und wischt sich die Finger am Bart ab. So."
     Sie ahmt es nach, fährt mit gekrümmten Fingern unterhalb ihres hübsch geformten rosigen Kinns durch die Luft, als mit klappernden Holzschuhen das Dienstmädchen hereinkommt.
     "Noch niemand zu sehen, Marie?" fragt Madame.
     "Nein", sagt Marie, die im Dämmerlicht in Türnähe stehenbleibt, die junge, stämmige Gestalt angespannt, als wäre sie auf einen Vorwurf gefasst.
     "Dein Vater hat mir versichert, er käme früh nach Hause", sagt Madame zu ihrer Tochter. "Es wäre äußerst misslich, wenn wir ihn selbst empfangen müssten. Marie, Monsieur Monnard hat keine Nachricht geschickt, oder?"
     Das Mädchen schüttelt den Kopf. Sie ist seit achtzehn Monaten hier in Stellung. Ihr Vater ist Lohgerber im Faubourg Saint-Antoine gewesen, und sie war, als er am Typhus starb, noch so jung, dass sie sich nicht an ihn erin-nert. Wie alle anderen im Haus leidet sie an Träumen.

Die Abenddämmerung macht der Nacht Platz. Madame Monnard zündet weitere Kerzen an. Sorgfältig schürt sie das Feuer. Sie verbrennen Holz, und Holz ist teuer. Ein kleines Scheit, nicht länger oder dicker als ein Männerarm, kostet zwölf Sous, und man braucht zwanzig davon, um ein Feuer den ganzen Tag am Brennen zu halten. Sie setzt sich, nimmt die Ausgabe des Journal des Dames Modernes zur Hand, die sie und Ziguette gestern so gut unterhalten hat, und schlägt sie erneut bei den Illustrationen der Wilden auf, der edlen Wilden - großer Herren in ihren eigenen wilden Königreichen -, deren Gesichter vom Kinn bis zu den Augen phantastische blaue Tätowierungen zieren, Wirbel und Spiralen wie Pläne für Parkanlagen. Man stelle sich nur vor, ihr Mieter käme mit einem solchen Gesicht! Was für ein Coup! Noch besser als das Pianoforte (und was für ein Triumph war das, als das Instrument mit einem Flaschenzug wie bei der Rettung einer Kuh aus einem Steinbruch hochgehievt und durch das Fenster hineinbugsiert wurde, die halbe Nachbarschaft sah zu). Ein Jammer, dass es ständig verstimmt ist. Es brachte den armen Lehrer von Ziguette fast zum Weinen, obwohl man einräumen muss, dass Signor Bancolari zu der Sorte von Herren zählte, die nah am Wasser gebaut haben.
     Im unteren Stockwerk schlägt die Haustür zu. Ein Luftzug findet die Treppe hinauf und bringt die Kerzenflammen im Wohnzimmer zum Flackern, und kurz darauf erscheint Monsieur Monnard. Er trägt noch immer seine von Gebrauch und Alter dunkle Lederschürze aus der Werkstatt, obwohl Madame Monnard schleierhaft ist, vollkommen schleierhaft, wieso er überhaupt eine Schürze trägt, wo er doch nicht weniger als drei durchaus tüchtige Gesellen hat, die das Polieren und Schleifen allein übernehmen können. Doch das muss ihr Mann selbst entscheiden.
     Sie begrüßen einander. Er begrüßt seine Tochter, die inzwischen auf dem Klavierhocker sitzt und mit einem Finger Töne anschlägt, die zu irgendeiner ihr bekannten Melodie gehören mögen oder auch nicht. Er nimmt seine Perücke ab und kratzt sich kräftig die Kopfhaut.
     "Noch immer kein Lebenszeichen von unserem Gast?" fragt er.
     "Ziguette", sagt Madame Monnard, "hat die albernsten Dinge über ihn gesagt. Sie glaubt, er spricht kein Französisch, weil er aus der Normandie kommt."
     "In der Bretagne", sagt Monsieur Monnard, "sprechen sie etwas vollkommen Unverständliches. Man glaubt, dass sie es von den Möwen gelernt haben."
     "Warum kommt er überhaupt?" fragt Ziguette. "War er zu Hause nicht zufrieden?"
     "Ich nehme an", sagt ihr Vater, "er hat vor, hier sein Glück zu machen. Ist das nicht der Grund, warum jeder nach Paris kommt?"
     Marie fragt, ob sie die Suppe auftragen soll. Monsieur möchte wissen, was für Suppe es heute gibt.
     "Knochen", sagt Marie.
     "Sie meint, von dem Kalbsbraten am Dienstag", sagt Madame Monnard. "Wir haben noch allerlei schöne Zutaten hineingegeben."
     "Zum Beispiel Schweinefüße", sagt Ziguette, was ihrer Mutter ein Perlen entzückten Gelächters entlockt.

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