Vorgeblättert

Leseprobe zu Abdellah Taïa: Der Tag des Königs. Teil 1

15.03.2012.
MEIN VATER KAM MICH WECKEN. Seine Augen waren rot. Natürlich hatte er nicht geschlafen. Er hatte die ganze Nacht geweint, das sah man sofort.
Mein Vater weint.
Mein marokkanischer Vater weint.
Alles andere als vorbildlich für mich, dieses Verhalten. Ich darf nicht so werden wie er. Bloßer Anschein eines Mannes. Verfall eines Mannes.
Es war noch Nacht. Er murmelte meinen Vornamen im Dunkeln. Ich erwachte sofort. Ich stand auf und sagte: "Mach Licht, mach Licht, Vater.Mach Licht, mach Licht für uns." Er regte sich aber nicht. Ich konnte seine Gestalt, sein Gesicht kaum erkennen. Er war schwarz. Ich war schwarz. Er war nackt, ohne die Maske des Vaters. Und so wollte er sich mir nicht zeigen, schwach und bloßgestellt. Verständlich, oder nicht?
Ich bat ihn von neuem: "Mach Licht, mach Licht, lieber Vater. Mach Licht, mach Licht für uns."
Er kam meiner Bitte nach und kehrte mir sogleich den Rücken zu.
Er war tiefschwarz. Er weinte noch. Ich sah ihn, ich hörte ihn. Ich nahm ihn in mir auf. Und ich wusste warum. Ich wollte ihm Trost zusprechen, seine Tränen trocknen,ihm schwören, dass ich ihn eines Tages rächen würde. All das tat ich aber nicht. Ich wagte es nicht. Er war schließlich mein Vater. Der Mann im Haus. Ganz offiziell. Für alle Zeiten. Ihm Zärtlichkeit zu erweisen, besonders in diesem Augenblick großer Schwäche, in diesem Augenblick der Schande, hätte ihm den Rest gegeben. Ein Mann leidet nicht. Ein Mann hat Mumm. Wird mit allem fertig. Ein Baum in der Wüste, robust, komme, was da wolle. Das brachte er mir allabendlich bei, früher, vor zwei Wochen noch, als er von der Arbeit nach Hause kam. Ich glaubte ihm. Ich glaube ihm immer noch.
Mein Vater wird sterben.
Ich kann nichts dagegen tun.
Ich kann ihm nicht mehr helfen.
Er geht unter. Er lässt sich fortreißen.
Mein Vater ist im Sterben begriffen. Die Wüste hat gesiegt.
Wir waren schon seit sehr langer Zeit mit Schande bedeckt. Unser Ruf im Viertel war schlecht. Und sogar über das Viertel, über die Stadt Salé hinaus. Und wer war schuld? Meine Mutter. Meine Mutter, die nie wirklich eine gewesen ist. Meine Mutter, die von unseren Nachbarinnen "die Böse", "die Nutte", "die Hexe", "die Hure", "die Fremde" genannt wurde, war weggegangen. Sie war in ihr Kaff in der Nähe von Azemmour zurückgekehrt.
Sie hatte uns im Stich gelassen. Wieder einmal. Für immer. Mein Vater und ich wussten, dass sie nie wieder zurückkommen würde.
Wir waren von nun an allein. Ohne Frau.
Was wird aus Männern ohne Frauen?
Meine Mutter war keine Frau. Ich hasste sie. Die Heirat war nur ein Stück Papier für sie. Sie sprach kein Wort.
Wenn sie den Mund aufmachte, dann nur um immer denselben Satz zu sagen: "Ich bin frei." Und das stimmte, sie hatte nie auf ihre Freiheit verzichtet. So, dass fast alle sie als Hure betrachteten.
Das große Ereignis unserer Existenz muss sich zugetragen haben, als ich neun oder zehn war.Meine Mutter hatte es sorgfältig eingefädelt. Sie war sich ihres Coups sicher.
Die Revolution, ein für alle Mal. Schlagartig. Sie entthronte meinen Vater von einem Tag auf den anderen. Sie übernahm die Macht einfach so, mit links. Sie hatte das Wort ergriffen: Von nun an würde sie unser Leben lenken. Mein Vater, immer schon leidenschaftlich in sie verliebt, wehrte sich nicht. Er sah sie ein paar Sekunden lang ungläubig an und senkte dann den Blick und den Kopf. Mein kleiner Bruder Othman war zu jung, um zu begreifen, was vor sich ging. Und ich? Ich war ganz ungewollt ihr Komplize. Gekauft hatte sie mich schon vor Jahren.
Ich hasse sie, meine Mutter. Ich will nicht, dass sie wieder- kommt. Ich will nicht wieder meiner Schande neben ihr begegnen. Frei zu sein ist mein innigster Wunsch. Frei ohne sie. Frei, und endlich an der Seite meines Vaters. Damals, in meiner frühen Kindheit, benahm sich mein Vater wie ein Wilder. Übrigens nannte meine Mutter ihn so. Er brüllte. Er hatte eine blühende Gesundheit, eine überbordende Sexualität, einen ungeheuren Appetit. Er aß für zehn. Er trank für zwanzig.Wenn er zu Hause war, wirkte seine Gegenwart wie das geballte Leben. Wie die Quelle des Lebens. Er trug einen Bart, wie ihn sonst die Propheten tragen.Das stand ihm gut. Er roch streng, aber das störte uns nicht im Geringsten. Er machte auf Macho, doch wir wussten alle, dass er eigentlich keiner war. Mein Vater war die Seele der Familie. Ihre Triebfeder. Ihr Blut. Neben ihm war ich gar nichts. Ich habe nur einen Bruchteil seiner Kraft von ihm geerbt. Eine Kraft ohne Macht, die mein Freund Khalid so gerne in mir freilegte.
Mein Vater war ein Riese. Er kam aus der Gegend von Doukkala. Sein verlorenes Paradies, wie er immer wieder sagte.
Mein Vater ist nicht mehr mein Vater.

An einem regenlosen Wintermorgen war er plötzlich ein anderer. Er war zum Gegenteil dessen geworden, der er bisher gewesen war. Alt war er allerdings noch nicht. Er war gerade erst 48. Alles an ihm hatte sich verändert.
Von nun an war er kraftlos, er ließ den Kopf hängen, hatte schlaffe Schultern. Sogar seine Atmung hatte sich verändert: Sie war unhörbar. Zuweilen zitterte er. Vor Angst?
Vor Kälte? Er zitterte besonders vor meiner Mutter. Sie war diejenige, die nun an seiner Stelle schrie. Das Heft in der Hand hatte. Alle Entscheidungen traf, ohne ihn auch nur zu fragen. Die Nachbarinnen sagten, aus ihr sei ein Mann geworden. Zu Recht.
Meine Mutter machte ihre Revolution. Sie befreite sich. Fand ihre Jugend wieder. Und deshalb musste sie unsere Welt zerstören, den Mittelpunkt unserer Welt: meinen Vater.
Meine Mutter entpuppte sich als grausam. Als herzlos. Ich versuchte manchmal, Entschuldigungen für sie zu finden. Vergeblich. Ich verstand sie nicht. Vielleicht habe ich nie versucht, sie zu verstehen.
Ich will meine Mutter nicht verstehen. Sie ist weggegangen. Jemand muss sie jetzt töten. Mein Vater kann das nicht. Mein kleiner Bruder auch nicht. Ich aber schon. Und ich werde es tun.
Was wollte sie eigentlich? Was sollte diese ihre fortwährend gegen uns gerichtete Revolte bedeuten? Ich war neun oder zehn, als meine Mutter uns den Krieg erklärte, und vieles verstand ich damals noch nicht.Außerdem war sie meine Mutter. In meinem Hass auf sie war auch Liebe.
Vier Jahre später verstand ich noch immer nichts von dieser Frau. Aber ich sah, was sie anrichtete. Ich war Zeuge ihres Verrats. Ich half ihr sogar dabei. Ich sah die Männer, die am helllichten Tag zu Hause vorbeikamen, wenn mein Vater bei der Arbeit war. Sie kamen ihretwegen von weit her. Ich hörte,wie sie Sex machten. Sie schämte sich nicht. Seit Langem hatte sie mich schon handzahm gemacht. Ich verurteilte sie nicht. Heute muss ich es aber endlich tun. Sie wird nicht wiederkommen. Ich werde alles Erdenkliche tun, damit sie dort in dem Kaff bleibt, das sie so liebte.
Heute bin ich der Mann. Ein Mann für meinen Vater. Schön und stark für meinen Vater.
Meine Mutter war schön. Ihre Schönheit war gewiss ihre Freiheit. Die Nachbarinnen beneideten sie. Verfluchten sie. Zu Recht.
Meine Mutter war schön, aber ich sah es nicht. Meine Mutter war jung. Sie war meine große Schwester. Eine solche Beziehung zwang sie uns auf.
Liebte sie mich? Liebte sie meinen Vater?
Warum hatte sie meinen Vater in dieses große Unglück gestürzt?Was war zwischen ihnen vorgefallen?War ihre Liebe vorbei? Endete für sie die Sklaverei?
Ich werde es nie erfahren. Ohne es jemals zu begreifen, werde ich so dem Tod entgegengehen, voller Hass auf diese mysteriöse, schwarze Frau. Vollkommen schwarz. Im Viertel hieß es, sie habe meinen Vater mit einem mächtigen Fluch belegt. Einem Fluch, der von dem jüdischen Hexenmeister Bensimon aus der Mellah von Rabat ausgesprochen worden war. Dem mächtigsten Hexenmeister der Stadt. Ganz Marokkos vielleicht.
Warum? Warum nur? Erlangen die Frauen bei uns auf diese Weise ihre Freiheit? Indem sie die Männer wahnsinnig und krank machen? Indem sie sie langsam, aber sicher ins Jenseits befördern?
Ich bin erst vierzehn.Wie soll ich das wissen? Wie verstehen? Wem soll ich all diese Fragen stellen?

Meine Mutter war fortgegangen. Weit weg, in die Nähe dieser Stadt, von der alle sagen, sie sei prächtig, Azemmour.
Meine Mutter hatte in unserem kleinen Haus im Bettana-Viertel das Licht gelöscht.
Sie machte sich mit meinem kleinen Bruder Othman auf den Weg. Sie sagte, sie wolle ihre kranke Mutter besuchen. Zwei Monate später war sie noch immer nicht zurück. Seither hört mein Vater gar nicht mehr auf zu weinen. Ich selbst habe nicht geweint. Ich konnte nicht weinen.
Wir lebten zu zweit.
Ich konnte meine Mutter nicht wirklich hassen, aber auch ich verfluchte sie von morgens bis abends. Manchmal flehte ich sie an, küsste ihr die Füße. Ich erkannte ihre Macht an. Ich bat sie demütig, zurückzukommen und meinen Vater zu erlösen, ihm seine Seele, seine Vitalität zurückzugeben. Seine Würde. Seinen aufgesetzten Männlichkeitswahn.
Ich flehte sie im Stillen an. Ohne Antwort. Ohne Echo.

Heute Morgen ist er zu mir gekommen.
Heute Morgen hat mein Vater einen Entschluss gefasst. Jemand hatte ihn davon überzeugt, dass meine Mutter ihn mit einem Fluch belegt hatte, einem böswilligen Fluch, einem Fluch von Juden, einem Fluch des Teufels. Es war mehr als dringend, sich von ihm zu befreien, sich enthexen zu lassen. Und wer konnte den Fluch eines mächtigen Hexenmeisters aus der Mellah von Rabat rückgängig machen? Mein Vater hatte sich erkundigt. Er war fündig geworden. Sein Retter hieß Bouhaydoura. Dieser war erst zwei Tage zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden.
Mein Vater weckte mich.
Ich war zum wiederholten Male mitten in meinem alphaften Traum mit Hassan II.
Ich sah nur seinen Rücken. Seine Tränen waren unschwer zu erahnen.
Und seine Stimme, wie die eines kleinen Jungen, bat mich: "Du kommst doch mit mir zu Bouhaydoura, nicht? Du kommst doch? Du kommst doch?"

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