Vorgeblättert

Inka Parei: Was Dunkelheit war. Teil 3

18.08.2005.
Im Treppenhaus war es dunkel. Der Gang roch nach Putzmittel. Die Gummifüße der Krücken hafteten immer sehr fest auf dem schwarzen Stein des Fußbodens; beim Gehen, wenn man sie abhob, gab es ein schmatzendes Geräusch. Der alte Mann legte die Hand auf den Lichtschalter. Hinter sich spürte er den Luftzug seines geöffneten Wohnzimmerfensters, dann schlug es zu, und mit ihm die Tür, und fast zeitgleich knallte unten im Bauch des Hauses ein Kellerschloß. Er lehnte sich gegen die Wand und rieb seinen Kopf für einen Moment an ihrer Kälte. Dann fiel ihm etwas ein. Er fühlte in der vorderen Hosentasche nach seinem Schlüsselbund, aber noch während er das tat, wußte er schon, daß er den Schlüssel bei sich hatte, er hatte am Haken über dem Herd gehangen, wie immer, er hatte ihn mit der üblichen Handbewegung abgenommen, bevor er die Küche verließ. Er hatte sich in letzter Zeit angewöhnt, kleinlich über seine Schlüssel und Papiere, zugezogene Gardinen und glattgestrichene Tischtücher zu wachen, und während er jetzt an der Wand stand, atemlos und etwas verwirrt, kam es ihm vor, als ob er mit dem überstürzten Aufbruch aus seiner Wohnung aus dieser Angewohnheit heraustrat wie aus einem Bild. Er war als jüngerer Mensch immer sehr zerstreut und vergeßlich gewesen, das wußte er noch genau. Er dachte nur selten daran.
     Die Feuerschutztür befand sich in unmittelbarer Nähe des Treppengeländers. Er machte ein paar Schritte zum Geländer, lehnte die Krücken daran und holte den Schlüssel heraus. Das Treppenhauslicht spiegelte sich im Lack der Tür und blendete ihn. Die Tür war weiß gestrichen, auch der Griff und das hinter einer Plastikscheibe verborgene Schloß. Er drückte die Klinke herunter und versuchte, die Scheibe beiseite zu schieben, aber sie klebte fest, war mit dem Rest der Tür durch die Farbe verbunden. Mit der Schlüsselkante ritzte er sie an, der Lack riß.
     Der Schlüssel paßte. Er stieß die Tür auf und wich etwas zurück, eine unangenehme, stickige Wärme kam ihm entgegen. Er mußte husten und wäre, als das Husten seinen Oberkörper nach vorne riß, fast über die Metallschwelle gestolpert, die die beiden Flure voneinander trennte. Er schimpfte darüber leise und hielt sich am Rahmen fest, dann trat er in den Hotelflur.
     Der Gang war schmal und niedrig, es roch nach Nikotin. Auf der einen Seite des Flures befanden sich die Türen zu den Gästezimmern, gegenüber erstreckte sich der Sims einer Heizkörperverkleidung, auf der Bembel und Bierseidel standen und ein paar leere Zettelständer des Fremdenverkehrsamtes. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal hier gewesen war, es mußte schon eine Weile her sein. Am Ende führte eine kurze Treppe nach unten. Als er sie erreicht hatte, blieb er stehen. Er konnte die Gehhilfen beim Treppensteigen nicht gebrauchen und mußte sie deshalb mit dem Stoffriemen, der an einem der Griffe hing, aneinanderbinden, um sie sich über die Schulter zu hängen, und dann, dachte er, würde er die Geländerstangen fest packen, mit beiden Händen, um seine Beine langsam und nacheinander entlang der Stufen nach unten zu schieben. Aber jetzt wurde ihm klar, daß das Rütteln aufgehört hatte und daß es im Haus auch keinerlei Klopfgeräusche mehr gab, und er blieb einen Moment lang stehen, wie betäubt von dieser Erkenntnis und unschlüssig, in welche Richtung er sich nun bewegen sollte. Er gähnte und sank etwas in sich zusammen. Er fing auch wieder an zu frieren. Jemand im Haus zog eine Toilettenspülung, und ein Autoreifen quietschte in der Ferne.
     Ich hätte mich hinlegen sollen, dachte der alte Mann, anstatt hier nachts herumzustolpern, ich bin ein alter störrischer Dummkopf, ich bin so erschöpft. Vielleicht hätte ich endlich einmal tief schlafen können.
     Es dauerte einen Augenblick, bis er den Fremden entdeckt hatte. Er stand auf der zweiten Stufe, gedankenverloren und über sich selbst ärgerlich, und sah zerstreut nach unten, wo sich das Ende der Treppe im Dunkeln eines kleinen Vorraums verlor. Durch die Tür drangen ein paar Lichtflecken der Hofbeleuchtung herein. Ein Zinkeimer stand an der Wand, daneben ein Schrubber. Ein Putztuch war über den Eimer gebreitet worden und über seinem Rand hängend festgetrocknet, jemand hatte es heruntergerissen, und jetzt lag es umgestülpt, die Öffnung des Eimers sinnlos nachformend, auf dem Fußabtreter.
     Er sah die Spitzen zweier Schuhe und in grauen Flanell gehüllte Knie, und erst dann nahm er den Rest wahr, den ganzen Mann, er saß an der Wand, mit angezogenen Beinen und war ganz offensichtlich bewußtlos oder eingeschlafen.
     Die Scheinwerfer eines im Hof ausparkenden Autos richteten sich auf die Tür und erhellten den Vorraum, das verwirrte ihn. Er versuchte, zu verstehen, was vor sich ging, aber es gelang ihm nicht ganz, nicht so schnell wie nötig gewesen wäre. Er wußte, die ganze Situation würde jetzt ohne sein Zutun voranschreiten, er stand bloß mittendrin, wehrlos, in einem fremden Treppenhaus. Es war ein kurzer Moment aufkommender Panik, bis ihm klar wurde, daß zwischen der Gestalt im Hoteleingang und dem aufblitzenden Licht überhaupt keine Verbindung bestand. Vermutlich war es der Metzger, der mehrmals in der Woche nachts zum Fleischgroßmarkt fuhr. An der Rückwand des neuen Hauses gab es eine Pergola, die den Hof nach Süden hin begrenzte, fiel ihm ein, dort rankte eine Kletterpflanze. Es waren zweifellos die Scheinwerfer des Metzgerwagens, die ihr Licht in den Eingang warfen, einer von ihnen leuchtete hell, der andere, durch die Blätter halb verdeckt, trübe, fleckiger. Er sah die Umrisse eines Feuerlöschers, während sich der Lichtstrahl langsam durch den Eingang schob, und zwei glitzernde Punkte, Augen.
     Ich habe mich eingesperrt, rief der Fremde.
     Er hatte eine laute, tief dröhnende Stimme. Seine Beine öffneten sich, und der alte Mann sah etwas aufblitzen, das an einem Ring hing und an einer Kette und das der andere mit einer Drehbewegung um einen seiner Finger schleuderte. Er spürte, wie sein Herz lauter schlug, als die Kette kurz aufleuchtete, die Faszination, die Kreisbewegungen als Kind auf ihn ausgeübt hatten, fiel ihm wieder ein, der Moment, in dem ein Gegenstand sich durch wachsende Geschwindigkeit allmählich aufzulösen schien, obwohl in Wirklichkeit nur das eigene Auge der Bewegung nicht folgen konnte. Dann bog der Lieferwagen um die Ecke, ein Stapel leerer Fleischwannen scharrte über die Ladefläche und das drängende Geräusch des Motors, hochgejagt und in den nächsten Gang gezogen, verhallte auf einer der leeren, nassen Straßen jenseits der Häuserzeile. Es war ein Geräusch, um das er aus unerklärlichen Gründen immer bangte.
     Der Vorraum war jetzt, bis auf einen hellen Kegel in der Nähe der Fußmatte, wieder in Dunkel getaucht, und das Treppengeländer, das sich unter seiner Hand wie eine abschüssige Fahrbahn neigte, verschwand ein paar Meter unter ihm in der Schwärze. Er fragte sich, warum der Fremde nicht von Anfang an laut gerufen hatte, eine derart laute Stimme hätte sich auch durch Rufen leicht bemerkbar machen können, er hätte das Schloß nicht zerstören müssen. Etwas daran erschien ihm typisch für die jungen Leute, die er oft sah. Er überlegte, was es war, vielleicht ein gewisses Fixiertsein auf den Umgang mit Gegenständen, in Situationen, wo es um Menschen ging.
     Hören Sie mich überhaupt, rief der Fremde, ich komme hier nicht raus.
     Panik schwang in seiner Stimme mit, es war nur ein kurzes Schwanken, ein Flattern der Tonhöhe, aber der alte Mann war verunsichert, er war sich jetzt nicht mehr sicher, ob er nicht doch für einen kurzen Moment in seinen Gedanken so abwesend gewesen war, daß er den anderen überhaupt nicht mehr gehört hatte.
     Der Fremde hob die Schlüssel hoch, einer war am Schaft abgebrochen. Er sprang auf und schaltete das Licht an. Ein fensterloser Raum mit einer Empfangstheke war zu erkennen, auf einer staubigen Glasplatte hinter dem Tresen standen eine Handglocke und ein leerer selbstgezimmerter Schlüsselkasten.
     Sie sollten etwas unternehmen, wegen dem Schloß, fuhr der Mann fort, es klemmt, das sehen Sie ja. Er kam hoch, er nahm zwei Stufen mit einem Schritt.
     Direkt unter ihm blieb er stehen, und sie sahen einander ins Gesicht. Der alte Mann erschrak, aber er wußte nicht, warum. Der Fremde hatte lange, sehr kräftige Arme, die seinen Anzug etwas zu kurz aussehen ließen. Sein Jackett war geöffnet, ein Hemd aus dünnem weißem Stoff schaute heraus, und zwischen Haut und Stoff sah man wie kleine hervorstechende Schatten seine Brusthaare.
     Es tut mir leid, sagte er, er schien jetzt zu ahnen, daß er keinen Hotelangestellten vor sich hatte. Ich habe Sie sicher geweckt, aber ich muß zurück in den Hof, ich muß noch was ausladen.
     Es gibt einen zweiten Ausgang, sagte der alte Mann leise.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Schöffling & Co.

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