Vorgeblättert

Hafid Bouazza: Paravion. Teil 2

06.07.2005.
     Alle drängten sich um ihn. Nur der Karrenlenker blieb sitzen. Nachdem sie den Schäfer von der Flöte befreit hatten, stammelte dieser: "... Zwei ... zwei Frauen ... ich hab zwei Frauen gesehen ..."
     Die Männer warteten gespannt ab. Was für Frauen denn?
     In Paravion wimmelte es nur so von Frauen. Hatten sie ihm etwas angetan? Nein, nein, der Schäfer schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen: "Zwei moreanische Frauen."
     Entsetzen riß die Münder der Männer auf. Zwei Frauen aus Morea? Hier in Paravion?
     Der Schäfer nickte und fiel in Ohnmacht. Die Männer schrien auf, rannten voller Panik durcheinander, rempelten sich gegenseitig an, schlugen sich auf die Wangen, rissen an den Kragen ihrer Gewänder, stürzten auf die Knie und lagen zuckend am Boden. Zu allem Überfluß fiel dann auch noch das Schild von der Hausfassade. Danach kamen sie erschöpft zur Ruhe.
     "Nein", antwortete der Karrenlenker, von der Taubheit mitnichten genesen, "es hat noch nicht geklappt."

Linien und Sicheln, Linien und der Karrenlenker spazierte gerne und lange durch Paravion. Er hatte ein rundes, rotfleckiges Gesicht, ein einnehmendes Lächeln, von äußerst elastischen Wangenmuskeln hervorgebracht, und liebenswerte Augen. Verständlich, daß er in seinem vorigen Leben und Werk die Krähen nicht verscheucht, sondern geradezu angelockt hatte. Er war glücklich in seiner watteweichen Taubheit. Dabei war es nicht so, daß er gar nichts hörte, sondern es war ihm nur unmöglich, das, was er hörte, in Einklang zu bringen mit dem, was er sah. Sein Gehör war noch voll mit den Geräuschen der Vergangenheit: Frauengelächter, dem Klirren von Armbändern, dem Zuckeln und Rütteln des Karrens.
     Die Betriebsamkeit von Paravion war verstummt. Die Sonne erschien und verschwand wieder, so daß die Menschen von einer Dimension in die andere zu wechseln schienen. Einen Augenblick lang waren die Wolken silbrig, und ein mattes Gold legte sich über die Menschen, die doch gleich wieder grau wurden, zur Dämmerung zurückkehrten, von der sie sich offensichtlich nicht trennen konnten. Ohne sein Schrittempo zu mäßigen, schlängelte er sich durch die Menschenmenge hindurch und blieb ab und zu - Grundig, Telefunken, Sanyo - vor einem - Adidas, Coq Sportive, Lacoste - Schaufenster stehen, um die Markenprodukte zu betrachten, von denen man in Morea nur träumen und reden konnte. Sobald er seine Einkünfte geregelt haben würde, wollte er sich einen Fernseher, am liebsten einen Grundig, und eine Satellitenschüssel anschaffen. Alle Männer aus dem Teehaus hatten bereits Schüssel und Fernseher, diese beiden Dinge schaffte sich jeder Neuankömmling immer zuerst an. Die Satellitenschüssel war die Nabelschnur zum Vaterland. Reiner Kult.
     Er erreichte, zusammen mit der Sonne, einen Platz, auf dem ein Palast stand und Straßenkünstler ihre Künste zeigten. Feuerspucker, Zauberer, Akrobaten, Clowns, Musikanten, Taubenfutterverkäufer, Marionetten- und Puppenspieler, Pantomimen, mit Kunstblumen geschmückte Zwitterwesen in exzentrischen Gewändern aus übermaltem Plastik und Aluminiumfolie, ein Geschichtenerzähler und lebende Standbilder. Die letzten rangen dem Karrenlenker große Bewunderung ab. Er fragte sich, was sie wohl verdienen mochten. Sein eigener Lohn damals war nur mager gewesen, und dabei beherrschten diese Männer hier ihr Handwerk offensichtlich nur mangelhaft: Der ganze Platz war mit Tauben übersät. Und das, obwohl ihre Ausrüstung viel besser war als seine: Harnische und Helme, Schilder und sogar Schwerter. Die Verwundungen, die ihm die Vögel zugefügt hatten, waren inzwischen verheilt, doch unwillkürlich betastete er Schultern und Arme. Ein Vogel hatte ihm sogar in die Stirn gehackt, aber von der Wunde war nichts mehr zu sehen. Er nickte den stillen Leben mit dem anerkennenden und wissenden Blick des Berufskollegen zu und setzte seinen Weg mit auf den Rücken gelegten Händen fort. Fast wäre er auf ein paar Tauben getreten. Gutgekleidete Bettler hielten ihm die offenen Hände hin, die er ergriff und schüttelte. Nette Leute hier. Alle platzten vor Reichtum und die Frauen vor Schamlosigkeit. Überall boten Bäume Abkühlung. Auf einer Bank saß ein Liebespaar und hielt sich klebrig umarmt, es bestand nur noch aus Zungen. Das Glockenspiel erklang und weckte die Geister, die im Palast wohnten. Straßenbahnen sausten rechts und links daran vorbei, Autos standen tuckernd davor, Radfahrer kurvten überall durch. Polizeibeamte unterhielten sich mit zwielichtigen Typen und wiesen ihnen mit erhobenen Zeigefingern den richtigen Weg. Die Menschen aßen im Gehen, stopften sich fettige Happen in den Mund, tauchten fritierte Kartoffeln in weiße Soße. Den roten und gelben Eiskarren mangelte es nicht an Kundschaft. Hufe und Holzräder waren in diesem Verkehr überhaupt nicht vorhanden, und der Karrenlenker war sich nicht sicher, ob die genialen Vehikel - von Liegerädern bis zu motorisierten Rollern - die Hufe und Holzräder wirklich ersetzen konnten. Eine Polizeibeamtin beugte sich über ein Mädchen im roten Kleidchen, es leckte an einem Eis und deutete heftig nickend mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger irgendwo in die Ferne: "Doch, ich weiß, wo Mama ist!" Nur Kinder können Großbuchstaben tatsächlich aussprechen. Die weibliche Ordnungshüterin streichelte dem Mädchen übers Köpfchen.
     In den Straßencafes baumelten übereinandergeschlagene Frauenbeine in verschiedenen Tönen weißer Haut. Die Frauen waren schön und begehrenswert, sie waren jung, zügellos, sie lachten gern, waren ausgelassen, frech, elegante Stutfüllen mit schlanken Gliedmaßen, sie strahlten jene typische Lebendigkeit aus, die nur bei provozierender Freiheit entsteht, doch vor allem waren die Frauen entsetzlich anwesend. Einige seiner Landsmänner konnten sich nicht satt sehen, kratzten ständig an ihren Hodensäcken, bevor sie fluchend ausspuckten; ihre Gewänder kämpften sich vorwärts, als bestiegen sie einen Hügel, obwohl die Straßen hier doch so flach waren. Lange Menschenschlangen warteten vor einer Mauer, die Geld verlor. Die flatternden Scheine des nigelnagelneuen Geldes vom unsichtbaren Geldbaum stopften die Leute etwas später in kartenschwangere Portemonnaies. Vor allem die der Frauen waren sehr dick, weil diese nicht nur Geld, sondern auch entwertete Straßenbahntickets, Geburtskarten, Kassenbons beherbergten, kurz alles, woran ein Frauenherz hängt.
     Ein junger Mann, Kraushaar, Sonnenbrille, satinglänzender Schnurrbart, bekleidet mit einem fluoreszierenden Trainingsanzug, in dem er allerdings nur wenig trainierte, trat dem Karrenlenker in den Weg und lud ihn ein, sich neben ihn auf die Granitbank zu setzen. "Wir sind doch beide Fremde hier", lauteten die Worte, welche seine Lippen formten. Der Karrenlenker wies die Einladung mit höflicher Geste zurück, konnte sich aber nur mit großer Mühe losreißen, denn der junge Mann hielt ihn am Ärmel seines Kittels fest. Ob er vielleicht ein Handy kaufen wolle? Nagelneu. Einen Paß? Etwas anderes? Der Karrenlenker nickte, obwohl er eigentlich den Kopf hätte schütteln müssen. "Dann gib mir Geld, du alter Geizkragen! Leute wie du sind schuld, wenn aus mir ein Krimineller wird. Wir müssen uns in diesem fremden Land doch helfen!" Der Karrenlenker eilte mit kurzen schlurfenden Schritten davon. Er verlor sich in der Menge, doch nach kurzer Zeit - Schinien und Licheln - fand er in sein - Linien und Sicheln - normales Schrittempo zurück. Der junge Mann brüllte ihm noch etwas nach, bevor eine vorbeihuschende Schultertasche seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
     Die große Einkaufsstraße beidseits des Platzes schluckte Menschenhaufen und kotzte sie wieder aus. Unter den flanierenden Menschen fiel sein Blick auf zwei aufgeregt redende und kichernde vollreife Frauen. Sie hatten sich untergehakt und schnatterten und plapperten. Hübsche Tücher hingen von ihren Schultern, reichten bis zum Boden, Armbänder glitten von ihren Handgelenken, Fußreifen trommelten fröhlich. Sie gingen, als gehörte ihnen die Straße allein, sie schwenkten ihre neuen Arme in frischgewonnener Freiheit, wiegten übertrieben die Hüften, flirteten in aller Öffentlichkeit mit den männlichen Passanten. Besonders auffällig gekleidete und herausgeputzte Frauen sprachen sie an, betrachteten sie von allen Seiten und fragten sie neugierig aus. Keine Parfümerie und keine Drogerie ließen sie aus, eine Nachkommenschaft aus Düften folgte ihnen. Sie waren eine Sehenswürdigkeit in einer sehenswürdigen Umgebung. Sie glühten richtig vor Liebe für das neue Leben.
     Den Karrenlenker verschlug es in abgelegenere Straßen. An den Straßenbahnhaltestellen hingen große Reklameposter, die er aufmerksam betrachtete; eine strahlende Schönheit lachte ihn an, Haar wie eine Seidengardine. Seit ich Bobycum-Haarspülung benutze, fühle ich mich viel sicherer; sie lächelte ein Lächeln aus Zuckerwürfeln und hielt eine Flasche in die Höhe: Von rabenschwarz bis strohblond, alle Farben für die Frau, seidenweich und mit natürlichen Inhaltsstoffen! Er ging an den Grachten entlang und blieb schließlich auf einer Brücke stehen, um aufs Wasser hinabzuschauen. Dort kräuselten sich Schatten, obwohl die Kais verlassen waren. Für den, der genau hinsah, existierte da unten eine ganze Welt schemenhaften Lebens. Nicht Schmutz und Abfall trieben dort, sondern Schattenexistenzen; der nackte Geist eines jungen Mannes dümpelte vorüber, zusammen mit dem Schemen einer Schwalbe. Gespenster spazierten kopfüber vorbei, Hand in Hand, vom Wind gewiegt, von Motor- und Rundfahrtbooten zerrissen und danach auf wunderbare Weise wieder zusammengefügt. Platanen spiegelten sich dort ebenso wie gelbe Kugeln und grüne Flecken scheinbar eines Zitronenbaums, obwohl dieser nirgends zu sehen war, es sei denn, das Wasser bewahrte eine Erinnerung an sonnige Flecken. Das Plätschern schien ein flüsterndes Singen und Summen zu sein, in weiter Ferne, hört doch: tlewnerenni und weiter: reniegnumramu. Sein mangelhaftes Hörvermögen mußte ihm einen Streich spielen! Hier schwammen keine Nymphen, das Wasser war zu schmutzig; die Nymphen trafen sich normalerweise an den Ufern der Amastal, wie die Moreaner den Fluß nannten, in explodierendem Grün, im Lustgarten, der bei den Predigern der im Westteil der Stadt so zahlreichen Gebetshäuser großes Mißfallen und Ekel hervorrief. In diesem Stadtteil gab es nur noch eine einzige Kirche, sie war vor allem eine Touristenattraktion und fast ein Fremdkörper; und die Pläne zu ihrem Umbau in eine Moschee liegen bereits auf dem Zeichentisch eines Architekten. Die Moscheebesucher beklagten sich über das Glockenläuten und das Straßenbild; die Kuppel paßte ihrer Ansicht nach so gar nicht zu den Minaretten.
     Ein paar Leute standen auf einer Brücke, um einem fahrenden Musikanten in seinem Boot zuzuschauen und zuzuhören. Mit einer Hand kurbelte er an einer kleinen Orgel, mit der anderen spielte er die Trompete. Das Boot war festlich geschmückt, und er blies und orgelte fröhliche Tanzmusik. Nach Beendigung seines Konzerts erhielt er viel Applaus, Geld aber keins.

Teil 3