Vorgeblättert

Colin McAdams: Ein großes Ding. Teil 2

27.08.2004.
In den ersten beiden Jahren bauten wir hundert Papphäuser - hundert Löcher und tausend häßliche Probleme. Häuser für junge Leute waren das, und für alle bis auf ihre Erbauer waren sie ein Traum. Ich brauchte bloß die Hand innen auf eine Wand zu legen - meine Wand, die Wand, die zu bauen man mich zwang -, und ich spürte, wie der Wind durchpfiff.
Als wir dann das letzte Haus hinstellten, waren alle anderen schon gefüllt, und wir erhielten einen klaren, harten Blick auf unsere Opfer. Sie waren älter als ich, die Träumer, die da einzogen, und ich war zu jung, um Mitleid mit ihnen zu haben. Der Unterschied zwischen Träumen und Gipskartonplatten, das sage ich Ihnen aus Erfahrung, ist ihre Form.
Türen schlossen nicht, Linoleum bekam Risse, Leitungen zischten und waren tot, hatten mal Strom, mal nicht, mal Strom, mal nicht, sämtliche Rohre platzten, Bodenkanten rollten sich und starrten vor Dreck. Eine Zeitlang übernahm ich Reklamationen. Mein Polier schickte mich hin.
"Guten Morgen, Ma’am, ich soll Ihr Haus neu bauen."
Alle Besuche waren gleich.
"Guten Morgen, Sir, ich habe gehört, Sie haben Probleme mit dem oberen Fenster."
"Das können Sie laut sagen, verdammt. Da ist gar keins."
"Da ist keins?"
"Da ist gar kein Fenster, verdammt. Bloß der Rahmen."
"Na, das haben wir gleich, dafür bin ich da. Ich geh mal schnell zum Wagen, mal sehen, ob sich da die eine oder andere Scheibe findet."
Und er folgte mir zum Wagen.
"Seit sechs Wochen kein Fenster, verdammt. Und meine Frau versucht, schwanger zu werden, verdammt."
"Na, das haben wir gleich, dafür bin ich da." Und ich warf einen Blick in den Wagen und entdeckte eine Scheibe, damit seine Frau schwanger werden konnte.                     

Vor zehn war ich nie zu Hause, und ein Zuhause war das auch nicht. Mrs. Brookner war immer noch auf und stand in der Küche, wo sie einen Kopf oder eine Zunge zerlegte, was ich dann am nächsten Tag in meinem Sandwich wiederfand. Auch wenn ich nicht müde war, gab es keinen Grund aufzubleiben.
Aber ich war müde. Ich erarbeitete mir einen Schlaf, den ich nicht beschreiben kann, weil nie was anderes als Schlaf passierte. Es wurde wieder halb fünf, und Tausende meiner Jahre lang wurde es das immer wieder. Ich war zu müde, um erschöpft zu sein, und zu panisch, um müde zu sein. Aber langsam, ganz langsam lernte ich, wie das Leben lief. Ich fand Freunde.
"He, Cooper."
"Was willst du?"
"Was?"
"Du hast gerade meinen scheiß Namen gesagt."
"Entschuldige."
Und ich wurde kräftiger. Die Kraft sitzt im Unterarm, mein Freund, wetten, da kommen Sie nicht dran.

Um für die Zukunft Zeit zu sparen, zog ich in jenen ersten Häusern über manche Gipskartonplatten ein extra Gemisch. Der Wind pfiff nicht mehr durch, und die blöden jungen Paare hatten es warm. Das war der erste meiner Pläne.
Ich machte nie Pause und hatte nie Zeit. Doch zwischen den Ohren war Freiheit, und damit meine ich nicht das, was Sie glauben. Bauen ist zehn Prozent Konzentration und neunzig Prozent Gewohnheit. Man muß sich überlegen, was man machen will, aber nicht, während man es macht. Egal, wie sehr der Körper beschäftigt ist, der Geist ist immer frei. Frei, wenn man gute Unterarme hat. Wenn ich erst mal weiß, wohin die Kelle muß, bewegt sie sich gleichmäßig wie die Wellen - die Gewohnheit bewegt sie, und die Gedanken sind frei. Und da fängt dann das Planen an.
Johnny Cooper, Mario Calzone und Tony Espolito, die planen nicht. Wenn sie auf eine Wand glotzen oder an Sägemehl ersticken, denken sie Folgendes: Frau, Blut, Knochen. Die denken Sachen, das erfahren Sie nie.
Jerry McGuinty aber plant.
Eines Tages war die Zukunft da; sie trocknete an meinen Fingern.
1968 lernte ich sie kennen, und alles Weiße wurde rot. 

Wenn man Tag um Gipskartonplattentag hundert schändliche Häuser baut, glaubt man allmählich, daß die Welt auch nichts Besseres braucht. Man baut sich allmählich selbst mit rein. Eines Tages, mitten bei Mrs. Brookners Frühstück, ertappte ich mich bei dem Gedanken, ich würde mir selber so ein Haus hinstellen. Das würde mich da rausholen, dachte ich. Ich rechnete zusammen, was das Material kosten würde, und überlegte mir, wo ich es bauen würde, und ich überlegte sogar, ob ich den Polier um Rat bitten sollte.
Diese Januare, die verändern einen. In diesen ersten Jahren gab es einige davon. Ich war erst einundzwanzig, und da wuchs mir schon die Wampe hier. Meine Augen waren immer rot. Wahrscheinlich trank ich eine Menge Bier, aber Sie können mich mal, wenn Sie mich danach beurteilen.
Man verändert sich, man bleibt derselbe, oder man macht irgendwas dazwischen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich überlegte, ob ich die Kolonne wechseln sollte - manchmal kriegte ich bei Kleinaufträgen eine Kostprobe von anderen -, aber die Männer waren alle genau gleich. Ich habe mehr Johnny Coopers erlebt als Sie Enttäuschungen.
Ich überlegte, ob ich dabei bleiben sollte, allerdings war da ja Johnny Cooper.
Ich überlegte, ob ich irgendwas dazwischen machen sollte, wußte aber nicht, was das bedeutete.
Aber mir ein häßliches Häuschen zu bauen, das erschien mir ideal. Ich hatte Geld (damals zeigten die Gewerkschaften noch Stärke). Ich konnte das Material kaufen und das Haus im Schlaf bauen und mit zweiundzwanzig mehr Quadratmeter haben als mein Vater mit vierzig.
Da stand ich also, bereute das Frühstück, glotzte auf die Wand und wartete darauf, daß der Mut kam, meinen Polier um Rat zu fragen, als ich auf meine Hände blickte und alles klar vor mir war.
Putz. Ich kam mir so blöd vor wie ein Sack zweitklassiger Zement. Ich baue ein besseres Haus, sagte ich. Putzwände für intelligentere Leute.

9
Die Geschichte von Simon Struthers


Im Raum gefangen, voller Verlangen, herauszukommen, so stelle ich mir Simon vor, wenn ich auf sein Leben zurückblicke. Sein Körper, der sich mit jedem Verlangen wohlwollend ausgebreitet hat, dieser sein Körper war die Falle, die er stets übersah. Die Schuld gab er dem Raum um ihn herum. Es gab nur sehr wenige Zimmer, in denen er sich aufhalten wollte; gab es jedoch einmal Gesellschaft für seinen Körper, so blieb er länger als erwünscht.
An dem Tag, als er elf wurde, gab er ein Abendessen für acht Kinder, allesamt Mädchen. Lange bevor es ihn richtig nach Mädchen verlangte, hatte man ihm beigebracht, sie zu respektieren, mit ihnen Umgang zu pflegen, mit allen auszukommen. "An Mädchen ist nichts Unrechtes", sagte sein Vater. Simon achtete darauf, im Schulbus neben ihnen zu sitzen. War der Platz neben einer frei, egal, wer es war, egal, wie sehr die Jungen hinten lachten, egal, wie unwohl dem Mädchen dabei war, er setzte sich hin. Und in diesem Geist, mit allen auszukommen, ermutigten ihn seine Eltern auch, zu seinem Abendessen so viele einzuladen, wie er wollte, genau wie ein Erwachsener, wo Gespräche dann alle einander näher brachten. "Wirst sehen", sagte seine Mutter, während sie ihm eines Abends nach der Schule Eis aufs Auge hielt, "der Eßtisch ist das genaue Gegenteil des Spielplatzes." Zu Ehren seines Geburtstags lud er daher sechsundzwanzig Mädchen und einen Jungen zu dem Abendessen ein, und von diesen Mädchen lehnten acht zu Ehren des Wunsches ihrer Eltern, zu erfahren, wie es bei Struthers’ aussah, nicht bedauernd ab.
Und da saßen sie nun.
Das Eßzimmer wirkte voller, als wenn sein Vater den Premier samt Parteiausschuß einlud. Doch kein Wort wurde gesprochen. Simon sehnte sich nach seinem Zimmer. Die Mädchen hatten alle Platz genommen, alle stumm, und seine Mutter schenkte den Eistee mit solch geschickter Unauffälligkeit aus, daß selbst das Eis im Krug bei seinen Bewegungen keinen Laut von sich gab.
Schweigen beim Salat, das Dach senkte sich herab, Schweigen, als das Rindfleisch jedem Mädchen seinen Zauber aufs Gesicht dampfte.
Schließlich sprach Jenny Pearce, als erste, blickte zunächst zu Simons Mutter hin, wandte sich dann aber mit ganz reizender Wärme direkt an Simon.
"Ich mag grüne Bohnen. Mein Bruder findet sie eklig. Aber ich mag sie."
Sogleich brach am Tisch freundliche Konversation aus, weil die meisten Mädchen nicht glauben konnten, daß Jenny grüne Bohnen mochte. Es wurde übers Essen gesprochen, ganz allgemein, übers Essen in der Schule, über die Schule allgemein, über Jennys Brüder, was einige erröten ließ.
Plötzlich merkte Simon, daß es ihn so richtig schmerzlich danach verlangte, im Bereich dieses Zimmers zu bleiben. Acht fröhliche Freundinnen. Und hübsche. Er mußte zugeben, daß sie auf bestem Wege waren, sehr hübsch zu werden.
Er kicherte, lachte laut auf, wenn ein Mädchen lachte, und kicherte, egal was gesagt wurde. Er sprach, sagte interessante, unerhörte Dinge, wobei er unablässig lachte. Sein Kichern bewahrte ihn davor, die Kerzen auf seiner Torte auszublasen. Er wollte um den Tisch herumlaufen und jedes Mädchen umarmen und wurde sich dabei zum ersten Mal bewußt, wie erregend es sein müßte, einige ihrer Geheimnisse zu kennen.
Als alles wunderbar zu laufen schien, erhob sich Simon, unwillig, das Zimmer zu verlassen, aber begierig, mehr von sich einzubringen, vom Tisch und ging nach oben, um etwas zu holen. Irgend etwas. Etwas von ihm, was er den Mädchen zeigen konnte. Er stieß auf sein neuestes Buch: Bedeutende Häuser Englands, eine Anleitung zum Bau von hundert edlen Anwesen im Modell. Er blätterte es in seinem Zimmer durch, fand seine Lieblingshäuser und beschloß sogar, den Mädchen das Modell von Walpoles Strawberry Hill zu zeigen, das er angefangen hatte.
Als er die Treppe hinabgesprungen kam, waren seine Freundinnen alle schon im Flur versammelt, wo sie sich bei Simons Mutter bedankten und darauf warteten, abgeholt zu werden. Jenny Pearce bedankte sich direkt bei Simon, aber als sie sein Modellhaus sah, grinste sie so eigenartig.
Während der nächsten Monate hieß Simon nur Lord-Struthers-der-spuckt-wenn-er-kichert.
Da erkannte er zum ersten Mal, was für ein Verräter ein Zimmer sein konnte.
1974 zog Simon in Cowslip Crescent Nummer fünfzehn, The Glebe, ein, wozu er ererbte Gelder nahm. Eine Hypothek war seine Sache nicht, hatte sein Vater doch durch politische Simonie ein Vermögen angehäuft, dessen genaue Menge er sich niemals angesehen hat, aus Angst, es könnte schrumpfen. (Er hatte ein Parlamentsmitglied als Vater und eine Mutter der Extraklasse, und seine Kindheit war lang, golden und verderblich.)
The Glebe enthält Häuser, die Menschen enthalten, die einen diskreten Stolz empfinden, in einem Haus in The Glebe enthalten zu sein - Menschen, die Hallo sagen, wenn man Hallo zu ihnen sagt, und auch ansonsten sehr bemerkenswert sind, wenn man sie kennenlernt. Viele seiner Nachbarn zogen zur selben Zeit ein, und sie zogen ein, wie es sich gehört: Sie lächelten, blickten offen um sich, ließen einander wissen, daß hier ein Neuer von ihnen war.
Hätte man nur da stehen können, mitten auf jener Straße, und zusehen, wie sie alle wuchsen und ihr Milchblut so weit davon entfernt war, zu Sahne zu gerinnen. Sie mochten keine Persönlichkeiten sein, aber die meisten gaben Anlaß zu Hoffnung. Einer nach dem anderen, zuweilen auch zu zweit, flochten sie einen Kranz aus Vorstellungen über die Rasenflächen, "Hallo", lächelten sie alle, und ihre Autos tauschten Höflichkeiten aus. Doch stets war Simon die Lücke in der Kette.
Am Tag seiner Ankunft begann er routinemäßig, seine Nachbarn zu ignorieren. Blickte nicht auf, wenn er den Müll an die Straße stellte. Winkte nicht, nickte. Sprach nicht, nickte. Blickte nicht hinab, wenn frohe Kinderchen an seiner unfrohen Hose zerrten. (Er hatte die Macht von Geheimnis und Schweigen gelernt.)
Was ich sagen will: Während alle in Maifeiertagsfreude umherschwirrten, Drinks und Essen und pikante Enthüllungen verhießen, stand Simon abseits.
Wenn man, wie er, 1974 achtunddreißig war, wird man sich an dieses Jahr als eines erinnern, in dem man manche der Steaksandwichs und Erektionen der Jugend hinter sich ließ.

Teil 3