Etty Hillesum

Ich will die Chronistin dieser Zeit werden

Sämtliche Tagebücher und Briefe
Cover: Ich will die Chronistin dieser Zeit werden
C.H. Beck Verlag, München 2023
ISBN 9783406797316
Gebunden, 989 Seiten, 42,00 EUR

Klappentext

Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth. Mit einem Vorwort von Hetty Berg. Die Tagebücher der jungen Niederländerin Etty Hillesum sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein bewegendes Dokument des Holocaust und viel mehr als das: Sie wurden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gerühmt. Vor allem sind sie aber auch eines: große Literatur. Mit dieser Ausgabe liegen erstmals in deutscher Sprache Etty Hillesums sämtliche Schriften vor.Zehn Monate nach Beginn der deutschen Besatzung der Niederlande begann die siebenundzwanzigjährige Etty Hillesum (1914 - 1943) unter dem Eindruck einer Psychotherapie, ein Tagebuch zu schreiben. Sie wollte Ordnung in ihr Leben bringen, den Dingen auf den Grund gehen, Gott finden, aber auch Zeugin des Schicksals ihres Volkes werden. Inmitten des Schreckens berichtet sie von der Suche nach Einfachheit und Achtsamkeit und schließlich nach Licht in der "Hölle auf Erden". Die erlebte sie seit dem Sommer 1942 im Durchgangslager Westerbork, wo sie für den Amsterdamer "Judenrat" in der "Sozialen Versorgung der Durchreisenden" arbeitete. Ihre Briefe aus dieser Zeit beschreiben den täglichen Horror. Am 7. September 1943 wurde Etty Hillesum selbst nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ist dort umgekommen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.2023

Rezensent Sascha Feuchert ist tief beeindruckt von diesen Aufzeichnungen und wünscht der niederländischen Autorin Etty Hillesum, dass sie endlich auch hier entdeckt wird. Ihr Schicksal ist mit dem Anne Franks vergleichbar, auch sie wurde im KZ in Auschwitz ermordet. Und dann auch wieder nicht, meint Feuchert, den Hillesum war 15 Jahre älter als Frank, hatte Recht studiert und ein zweites Studium der Slawistik begonnen. Die Aufzeichnungen drehen sich zu einem guten Teil um ihre Beziehungen, vor allem zu Julius Spier, einem von Jung inspirierten Laientherapeuten, der Behandlung mit Handlesekunst verband. Feuchert bleibt manchmal leicht die Spucke weg wenn er liest, was weibliche Patienten Anfang der vierziger Jahre so mitmachten, ohne sich zu beschweren. Aber vor allem beeindruckt ihn immer wieder die Beschreibungskunst Hillesums, die sich in ihren Tagebüchern "erforscht, infrage stellt, ihr Verhältnis zur Welt ... immer wieder neu justiert", aber auch beispielsweise von ihrer Arbeit im Durchgangslager Westerbork erzählt. Das, meint er, ist "Literatur von Weltrang".
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 12.06.2023

Ein "Jahrhundertbuch" liest Rezensent Marko Martin mit dieser Edition der Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum. Warum diese Aufzeichnungen nicht früher auf Deutsch erschienen sind, ist dem Kritiker ein Rätsel, gab es doch in den Niederlanden schon in den achtziger Jahren eine entsprechende Publikation. Auf knapp tausend Seiten verfolgt er in diesem "skrupulös übersetzten und kommentierten" Band, die Aufzeichnungen der "weltneugierigen" jüdischen Studentin, die die Besatzung der Niederlande durch die Nazis dokumentiert. Die junge Frau verbindet intellektuelle Reflexion und Alltagsbeobachtungen in "existenziellen Selbstbehauptungen von Körper und Geist", berichtet Martin. Der Kritiker ist zutiefst berührt und beeindruckt vom großen Mut und der Hilfsbereitschaft, die aus diesen Zeilen sprechen. Diese enden 1943, als Etty mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet wurde.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 26.04.2023

Es wurde höchste Zeit, dass diese Sammlung der Tagebücher und Briefe Etty Hillesums nun auch auf Deutsch veröffentlicht wurde, freut sich Rezensent Paul Jandl. In dieser "vorzüglich kommentierten" Ausgabe sind die Gedanken und Korrespondenzen einer jungen Frau zu lesen, die den Kritiker in ihrer Unkonventionalität und Menschlichkeit erstaunen und bewegen. Die aus einer assimilierten jüdischen Familie stammende Etty schildert ihr Leben in den von den Nationalsozialisten besetzten Niederlanden, so der Kritiker. Hillesums Schreiben vereint Intellektuelles und Esoterisches, einen tiefen Gottesglauben mit profunden literarischen und philosophischen Kenntnissen, staunt Jandl, aber auch ganz Privates kommt zur Sprache. So versucht die junge Frau sich in ihrem Tagebuch auch über ihr Verhältnis mit dem umstrittenen Psychologen Julius Spier klar zu werden, schreibt der Kritiker. In ihren Texten bewegt sie sich zwischen "seelenvollem Verströmen" und "Samaritertum", beobachtet Jandl, immer wollte sie helfen, ihre eigenen Wunden vernachlässigte sie dabei. Das "Schrift gewordene Leben" Ettys endet im September 1943, lesen wir, drei Monate bevor sie mit ihrer Familie in Auschwitz ermordet wurde.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 22.04.2023

Längst überfällig war es, dass das Werk der in Auschwitz ermordeten Amsterdamer Jüdin Etty Hillesum auch auf Deutsch in Gänze vorliegt, findet Rezensent Marc Reichwein. Hillesum stammt aus einer assimilierten Familie, weiß Reichwein, und hatte zunächst Jura studiert, bis die Nazis ihr mit der Besetzung der Niederlande das Leben immer schwerer machen. Das protokolliert die junge Frau minutiös-akribisch in Heften und Briefen von 1941 bis zu ihrer Deportation 1943, über die sie noch im Zug einen letzten Brief an eine Freundin schreibt. Nicht nur als "Seismograph der wachsenden Diskriminierung" liest der begeisterte Rezensent die Notate, auch als intellektuelle wie intime Persönlichkeitswerdung - und vor allem als Zeugnis dafür, dass kein unterdrückendes Regime die Freiheit des menschlichen Geistes zu zähmen vermag. Zum Glück war Hillesum weitsichtig genug, ihre Aufzeichnungen vor der Vernichtung bei Freunden in Sicherheit zu bringen, schließt Reichwein.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.03.2023

Längst überfällig ist diese Gesamtausgabe der in Auschwitz ermordeten niederländische Jüdin Etty Hillesum auf Deutsch, findet Rezensentin Elisabeth von Thadden. Merklich berührt und beeindruckt ist sie von Tagebuch und Briefen der zum Todeszeitpunkt erst 29-Jährigen, die Themen wie die Suche nach Gott, Mystik, Ethik und die Erforschung des eigenen Selbst vereinen. So zitiert Thadden verschiedene Passagen, die zeigen, wie mutig und vorausschauend Hillesum war, als sie ihre Texte vor der Deportation bei Freunden unterbringt, Passagen, die sich zu einem zentralen Leitsatz verbinden: Das Leben ist im Angesicht der Shoah "trotzdem sinnreich." Erschütternde und zugleich kluge und lebendige knapp tausend Seiten, die die Kritikerin unbedingt empfiehlt.