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Die Unerbittliche - zum Literaturpreis für Elfriede Jelinek

08.10.2004. "Elfriede Jelinek ist unerbittlich. Sie lässt sich nicht erweichen. Ihre großen, schön bewimperten Augen blicken das Schreckliche an und verfolgen jede seiner Bewegungen." Eine Liebeserklärung von Arno Widmann.
Die Generation Elfriede Jelineks hat die nationalsozialistischen Ideen der Eltern als einen Inkubus erfahren. Sie hatten die Eltern geliebt und mussten feststellen, dass die sie infiziert hatten mit dem NS-Virus und dass sie ihn durch die Liebe übertragen hatten. Diese Erfahrung hat Elfriede Jelinek zu einer der kältesten Beobachterinnen des menschlichen Liebeslebens gemacht.

Liebeserklärung an eine Unerbittliche von
Arno Widmann

Sie sei in einem Zustand, der es ihr unmöglich machen werde, nach Stockholm zu fahren, um den Nobelpreis persönlich entgegen zu nehmen, erklärte Elfriede Jelinek in einer ersten Reaktion. Wer sie dabei sah, mit dem wirren grauen Haar und Augen, die wie auf der Flucht schienen, wer beobachtete, wie sie die Hände um die Oberarme spannte, um sich zusammen zu nehmen, der glaubte ihr.

Das war nicht immer so. Elfriede Jelinek war lange Jahre die schönste Frau der deutschsprachigen Literatur. Hohe Wangenknochen, große Augen, eine feste Schlankheit waren die Grundlagen, auf denen sie aus besten Stoffen und deren raffinierter Verarbeitung einen cordon sanitaire schuf, dessen damenhafte Eleganz ihr ein wenig von jener Sicherheit bot, auf die sie so sehr angewiesen war. Wann immer sie damals die Labilität ihres Zustandes ansprach, winkte die vorwiegend männliche Öffentlichkeit ab und sprach je nach Bildungsgrad von "Attituden" oder "Zickereien". Elfriede Jelinek war schließlich nicht zimperlich im Umgang mit ihren zahllosen Gegnern. Ihre Intelligenz war von einer Schärfe, die selbst bei den leichtesten Streichen schon verletzte.

Wären ihre Gegner nur die alten Nazis gewesen, es hätten sich Koalitionen schmieden lassen, aber Elfriede Jelinek war nicht nur politisch kompromisslos, sie war es auch ästhetisch. Sie war darum - und ist es wohl noch immer - allein. Daran änderte auch nichts, dass schon früh sich ein Kreis der Jelinek-Verehrer bildete, der Verehrerinnen vor allem. Es waren Freundinnen, die Elfriede Jelinek auf ihren Gängen in die Öffentlichkeit begleiteten, Bewunderinnen, die schon aus Eifersucht einen zweiten Schutzwall um die gefährdete Künstlerin zogen. Es sind Autorinnen darunter und Musikerinnen. Sie sind nicht alle der Jelinek und einander treu geblieben, aber sie haben es Elfriede Jelinek möglich gemacht, über Jahrzehnte hinweg eine der produktivsten Schriftstellerinnen deutscher Sprache zu werden, zu sein und zu bleiben. Jeder Jelinekleser ist auch ihnen zu Dank verpflichtet.

Von Anfang an haben Kritik und Öffentlichkeit Elfriede Jelinek einen unermüdlichen Oppositionsgeist attestiert. Sie sei besessen von der Lust am Widerspruch, nichts habe vor ihr Bestand und die humansten Empfindungen würden in den Dreck gezogen. Ihrem Roman "Lust" warf man vor, dieselbe nicht zu wecken, sondern zu töten. Abgesehen davon, dass man nicht recht versteht, warum das ein Vorwurf sein soll, versteht man schon nicht, wie geübte Leser sich in eine solche Dichotomie treiben lassen können.

Vor Elfriede Jelineks Texten hat die Kritik sich immer wieder blamiert. Das hat einen einfachen Grund. Jelineks Prosa ist durch und durch konstruiert, sie ist in jedem Wort, in jedem syntaktischen Gelenk artifiziell. Sie überlässt sich einem Schwung nur, um ihn zu widerlegen. Sie zitiert und montiert. Sie schafft keinen Fluss, in dem der Leser baden kann. Ihre Texte sind hochmusikalisch, aber es ist die Schönheit der freien Atonalität, nicht die von Dur und Moll, und wo sie an die Strenge einer Zwölftonkomposition erinnern, da wird einem auch dieses Vergnügen bald genommen, weil sie deren Zwangscharakter offen legt.

In den Texten der Jelinek gibt es keine Gemütlichkeiten. So sehr aber der Kritiker sich durch "avantgardistische" Texte in seiner professionellen Ehre angesprochen, ja geschmeichelt fühlt, so wenig Zeit hat er doch, sich ihrer fremden Schönheit zu überlassen. Der nächste Updike wartet. Also lobt er die Avantgarde, er liest sie aber selten ohne Widerwillen und lieben tut er sie fast nie. Der Leser dagegen muss nicht lesen. Wenn er also an einen Roman, eine Erzählung, ein Theaterstück von Elfriede Jelinek gerät, wird er es beiseite legen oder lesen, und wenn es ihm gefällt, wird er mehr lesen von ihr, und er weiß schon, er wird Zeit brauchen und jeden Satz zwei Mal lesen müssen, nicht, weil die Sätze schwierig sind, sondern weil so viel in ihnen passiert. Elfriede Jelineks Prosa ist niemals nur Elfriede Jelineks Prosa. Sie fängt Wörter und Melodien ein, mit denen wir aufgewachsen sind, die uns so vertraut sind, die so sehr zu unserer Ausstattung gehören, dass wir sie nicht sehen. Melodien ist das falsche Wort. Es sind Tonfälle. Elfriede Jelinek hört sehr gut und ihre wache Intelligenz schärft dieses Gehör noch einmal. Niemand hat so früh die Plastiksprache der Jugendkultur vorgeführt wie Elfriede Jelinek und niemand hat sich so intensiv mit der falschen Gefühligkeit unserer Umgangssprache und der der großen deutschen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts auseinandergesetzt wie Elfriede Jelinek.

Elfriede Jelinek wird wahrgenommen als Kritikerin, als oppositionelle Intellektuelle, als Einklägerin politischer Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit. Das ist alles richtig. Das ist so richtig, dass sogar Elfriede Jelinek selbst immer wieder an diese Rolle glaubte. Sie war - oder ist sie es noch? - Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs. Das hatte einen kuriosen Charme als sie als Klimtsche Schönheit die Wiener Öffentlichkeit verwirrte. Sie wurde von der österreichischen Rechten angefeindet wie niemand sonst. Aber es ging dabei weniger um ihre politischen Auffassungen. Haider und seine Kameraden hassten und hassen die Frau. Sie hassen die Wachheit, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Elfriede Jelinek den Aufstieg der vulgär-charmierenden Niedertracht Haiders beobachtete. Sie würden Elfriede Jelinek weniger hassen, wenn sie ihnen nicht auch das Spiegelbild ihrer Mannsrolle entgegen hielte. Kein Quadratzentimeter dieser Spezies, der von Elfriede Jelinek nicht bis hinein ins Knochenmark seziert und der Öffentlichkeit vorgeführt wurde.

Sie ist unerbittlich. Sie lässt sich nicht erweichen. Ihre großen, schön bewimperten Augen blicken das Schreckliche an und verfolgen jede seiner Bewegungen. Sie schließt ihre Augen, um sich in Erinnerung zu rufen, um sich vorzustellen, was sie gesehen hat. Sie lässt nicht nach. Ihr Griff lockert sich nicht. Sie verbeißt sich. Sie tut das, obwohl sie weiß, dass das selbst ihren Freundinnen oft zuviel wird, dass sie ihr mehr Lockerheit wünschen, etwas Entspannung, Lässigkeit. Aber nichts ist Elfriede Jelinek ferner als Lässigkeit. Sie hat Witz und sie lacht gerne, aber das Lässige liebt sie nicht.

Elfriede Jelinek wurde am 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren. Man muss daran erinnern, um sie zu begreifen. Es gab keinen Nationalsozialismus mehr, als sie geboren wurde. Aber sie wuchs unter Nazis auf. Diese Generation erfuhr, als sie der Kindheit entwuchsen, dass ihre lieben Eltern, dass der Lieblingsonkel, dass die geliebte Tante begeisterte Anhänger der Idee gewesen waren, Juden, Nicht-Arier, alles "unwerte Leben" auszurotten, um Platz zu schaffen für die eigene Art. Es waren einem - dank der Reeducation - andere Ideale nahe gebracht worden, aber im intimen Familienleben, da, wo das Gemüt sich heranbildet, da galten bei der Mehrheit der Bevölkerung noch die Vorstellungen der Nazis. Sie umstanden einen mit elterlicher Autorität. Sie wiesen einen ins Leben ein. Sie sagten, was richtig war und was falsch. Sie taten es mit kräftigstem Selbstbewusstsein. Ihr Glaube an die eigene Urteilskraft schien ungebrochen. Sie signalisierten ihren Kindern, dass "man es zwar nicht sagen dürfe, aber was wahr ist, bleibt wahr", die Nazis immerhin Arbeitsplätze geschaffen und die Kriminalität abgeschafft hätten.

Man versteht diese Generation nicht, wenn man ihren Konflikt mit den Eltern nur als Generationenkonflikt begreift. Es ging um etwas ganz anderes. Jeder Text von Elfriede Jelinek macht das deutlich. Es geht nicht um uns und die Nazis. Es geht um den Nazi in uns. Diese Generation hat die nationalsozialistischen Ideen der Eltern als einen Inkubus erfahren. Sie hatten die Eltern geliebt und mussten feststellen, dass die sie infiziert hatten mit dem NS-Virus und dass sie ihn durch die Liebe übertragen hatten. Es ist diese Erfahrung und nicht soziologische Schulung, die Elfriede Jelinek zu einer der kältesten Beobachterinnen des menschlichen Liebeslebens gemacht hat.

In Wahrheit gilt die Unerbittlichkeit, mit der Elfriede Jelinek ihre Gegner verfolgt, nicht diesen, sondern sich selbst. Darum ist sie so schutzbedürftig. Nicht vor ihren Gegnern muss sie sich schützen, sondern vor der Schärfe des eigenen Verstandes, vor dem eigenen Genie. Elfriede Jelinek entlarvt immer auch sich selbst. Ihre Texte ziehen auch ihr die Haut ab. Das gibt ihnen ihre Kraft. Aber, wenn es wahr ist, dass der Mensch seine Stärke in früher Kindheit, aus der Erfahrung von Liebe und Geliebtwerden bezieht, dann ist die Autorin Elfriede Jelinek damit beschäftigt, diesen Vorrat zu zerstören. Nicht aus Mutwillen, nicht aus kindischem Trotz heraus, sondern weil sie es nicht erträgt, sich auserwählt zu fühlen, seit sie weiß, dass damit die Vernichtung der anderen mit gemeint war. Aber sie ist auserwählt, diese Geschichte von der Einheit von Liebe und Vernichtung und von Selbstliebe und Selbstvernichtung nicht nur zu erzählen, sondern zu leben. Wir, ihre Leser, lieben - auch wir können nicht anders - sie dafür.