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Gnadenlose Gleichmacherin

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
09.01.2019. Mit "The Castle" setzt Richard Mosse seine Protokollierung der Flüchtlingskrise mit einer unheimlichen und riesigen Wärmebildkamera fort, unter anderem an der türkischen Grenze zu Syrien, wo Flüchtlinge von Scharfschützen vom Grenzübertritt abgehalten werden. Das Buch ist trotz seiner Überfrachtung mit Texten von Judith Butler und Paul K. Saint-Amour ein Meisterwerk.
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Im Zuge des Syrienkriegs und der Flüchtlingskrise hat sich Richard Mosse auf den Weg gemacht: von Libyen übers Mittelmeer ins griechische Idomeni, vom Flüchtlingslager Berlin Tempelhof in die Wildnis von Calais, in der bis zu ihrer Räumung ein Faustrecht aus grimmiger Hoffnung, Dreck und Drogen herrschte.

Ausgerüstet war Mosse dabei mit einer Wärmebildkamera, die nach dem internationalen Waffenrecht ITAR eine Waffe ist, die vor allem dazu dient, Personen und Objekte zu überwachen, aber auch die Treffsicherheit von Raketen zu erhöhen. Der Apparat ist über siebzig Kilo schwer und vermag mit seiner Radiationstechnologie und einem gigantischen Tele-Zoom durch Rauch und Nebel hindurch Fotos auf eine Entfernung von bis zu dreißig Kilometern zu schießen.

aus: Incoming © Richard Mosse, MACK
Das erste Ergebnis dieser Reise ins Herz zivilisatorischer Finsternis war die knapp einstündige Videoinstallation "Incoming" (2017). Mosse, der sich selbst immer noch als Dokumentarfotograf sieht, obwohl er 2018 mit "Incoming" den Prix Pictet gewonnen hat und ein Hot-Spot auf der Art Basel Unlimited war, hat darin die Grenzen zwischen Dokumentation und Kunst, zwischen analogem und digitalem Raum verwischt.
Ein Prozess, der schon 2012 mit "The Enclave" begonnen hat, wo er im Kongo die an Menschen und Landschaft sichtbaren Spuren der kriegerischen Auseinandersetzungen und der von internationalen Konzernen betriebenen Ausbeutung des Landes auf Bildern mit beschädigtem Fotomaterial eingefangen hat, die wie Halluzinationen oder Manifestationen eines Drogenrausch wirken, eine Mischung aus "Apocalypse Now" und "Naked Lunch". Das surreale Setting korrespondiert dabei perfekt der hemmungslosen Entfesselung von Begierden, die um Macht und Besitz, Unterwerfung und Tod kreisen.

aus: The Enclave © Richard Mosse, Aperture
In "Incoming" ging Mosse noch weiter. "Incoming" ist einerseits ein fassungslos machendes Dokument: der uneingestandenen Kriegsführung gegen Menschen, deren einziges Unrecht darin besteht, dass sie auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Land verlassen; der totalen Überwachung, gleich, ob an Außengrenzen von Staaten, im öffentlichen Raum von Großstädten oder im Internet; der schmerzlich empfundenen Bedeutungs- und Hilflosigkeit des Einzelnen. Gleichzeitig ergibt die in Form eines Videos und eines Fotobuchs vorliegende Vehemenz der Bilder auch ein experimentelles Video, einen reflektierten Horrorfilm, ein albtraumhaftes Animé, ein finsteres Gothic-Comic-Epos, und wird damit in Summe zum wahrscheinlich bedeutendsten, zwischen dokumentarischen und künstlerischen Möglichkeitsformen oszillierenden (Kunst-)Werk der Gegenwart. 

Mit "The Castle" liegt nun Mosse' zweite Arbeit mit dem vorhandenen Bildmaterial vor. Anders als etwa bei den dicht bevölkerten Gemälden von Brueghel, bei denen sich an winzigen Details noch Individualitäten ausmachen lassen, ist die Wärmekamera eine gnadenlose Gleichmacherin: Ein Flüchtling, der sein Gesicht gegen den Zaun eines Lagers presst, ist weniger ein Mensch als ein Tier, das die Infrarotkamera eines Zoologen eingefangen hat.

Während in "Incoming" noch auf Einzelheiten gezoomt wurde - Menschen, die in den Camps um Essen und Medizin anstehen; Kinder, die Fußball spielen und sich prügeln; Muslime, die ihre Gebete gen Mekka richten -, verdichtet sich in "The Castle" alles zu riesigen "Heat Maps": abstrakte Tafelbilder aus schwarzen und weißen Punkten, Strichen und Flächen, die anonyme, abstrakte Gewebe bilden, in denen das Individuum nur noch eine austauschbare Einheit in einer Datenmenge ist.

Wer nicht die Möglichkeit hat, die riesigen Maps an einer Galeriewand zu sehen, dem bietet das hinsichtlich Druck und Papier in jeder Hinsicht edel gestaltete Buch eine ansprechende Alternative: Doppelseiten lassen sich auf eine Gesamtlänge von gut neunzig Zentimetern auseinanderfalten.


© Richard Mosse, MACK

Bei einem Thema von solcher Dringlichkeit und einem Kunstwerk adäquaten Rangs macht es Sinn, sich die den Bildern zur Seite gegebenen Texte näher anzuschauen. Um es vorwegzunehmen: Sie erfüllen die in sie gesetzten Erwartungen mehr schlecht als recht.
Der in trockenstem Wissenschafts-Englisch verfasste Text von Paul K. Saint-Amour "Mapping Heat in Time" zeichnet eine Entwicklungslinie von mittelalterlichen Stadtansichten über die im Ersten Weltkrieg von Flugzeugen aus aufgenommenen "Photo-Mosaike" feindlicher Gebiete bis hin zu Google Earth. Signifikant ist dabei wie so oft der Umstand der Entwicklung ziviler Technik aus der Kriegsführung - die Luftüberwachung und die angewandte Fototechnik fanden später in der Demografie, der Stadtplanung und der Überwachung des öffentlichen Raums Verwendung.

Eine besondere Verwandtschaft gibt es dabei zwischen Google Street View und den "Heat Maps". In beiden finden sich - der willkürlich eingefrorenen Bewegung und der nachträglich zusammengefügten Ausschnitte geschuldet - Schemen von Personen, die keinen Kopf oder keine Beine haben, in der Körpermitte der Länge nach durchtrennt oder anderweitig verzerrt sind. Saint-Amour nennt das eine durch Technik exekutierte "optische Gewalt", die die physische und psychische Gewalt, vor der die Flüchtlinge einerseits geflohen sind, und die sie andererseits auf ihrem Weg nach Europa erwartet, sowohl abbildet als auch doppelt.

Aus der totalen Überwachung entwickelt Saint-Amour am Ende den überspannten Begriff des "Staats-Rassismus", der die individuellen Unterschiede zwischen den Überwachten nivelliert und sie rudimentär in solche einteilt, die des Schutzes wert sind und solche, die es nicht sind. Überspannt deshalb, weil das Attribut "rassistisch" in aktuellen Debatten bis zur Unkenntlichkeit verwendet wird, und weil man dementsprechend jede auf Umfragen und Näherungswerten basierende Prognostik mit gutem Recht schon "rassistisch" nennen könnte.

© Richard Mosse, MACK

Der zweite Text "Survivability, Vulnerability, Affect" stammt von Judith Butler. In der Tradition aller längeren Texte von Butler ist er langatmig und bar jeder Eleganz - ob das eine gute Wahl für ein ohnehin schon aufgrund des fotografischen Materials schwer verdauliches Fotobuch ist, sei dahingestellt.

Ihn zu lesen bedeutet auf jeden Fall, zu einem Goldsucher zu werden, der sich mit seinem Sieb an einem Flussbett in der Hoffnung abplagt, dass ein Nugget hängen bleibt. Nuggets gibt es auf den knapp zehn eng gesetzten Seiten durchaus - etwa wenn Butler den grundsätzlich prekären und verletzlichen Zustand des "Ich" und seine unauflösbare Vernetztheit und wechselseitige Abhängigkeit mit potenziell allen anderen, existierenden "Ichs" deutlich macht. Aber gleichzeitig schüttelt man den Kopf darüber, wie Butler zuerst skrupulös herausarbeitet, wer unter welchen Umständen überhaupt sinn- und nicht zuletzt verantwortungsvoll "Ich" oder "Wir" sagen kann - um auf den nächsten Seiten selbst locker "Wir" im Sinne von "alle US-AmerikanerInnen" zu sagen und eigentümliche Nebensätze einzuschieben wie "(...) dass Nationen wie Israel argumentieren, ihr Überleben würde durch Krieg (!)  gewährleistet".
Eine Vorgehensweise, bei der ein cholerisches Naturell wie Wittgenstein wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen und die Hannah Arendt in einem Gespräch mit Günter Gaus zwischen zwei Zigarettenzügen zerpflückt hätte.

Im dritten und mit Abstand kürzesten Text "The Keep" berichtet Mosse unpathetisch von den schwierigen Umständen seiner Arbeit, den Skrupeln und der Scham, die ihn dabei immer wieder befallen. Besonders eindrücklich ist dabei jene kurze Schilderung, als Mosse einem Hinweis nachgeht und nachts heimlich einen Überwachungsposten der türkischen Armee an der türkisch-syrischen Grenze mit seiner Wärmekamera beobachtet. Nach einiger Zeit hört er Mündungsfeuer und versucht mit Hilfe der Kamera vergebens, die Quelle der Schüsse ausfindig zu machen. Der Schlepper, der ihn dorthin geführt hat, erzählt ihm, dass das im Grunde jede Nacht so gehe und dabei drei Tage zuvor die Vision der AfD - Politikerin Beatrix Storch wahr wurde: Eine Mutter und ihr kleines Kind wurden erschossen, als sie den Grenzfluss Orontes zu überqueren versuchten. Mosse sagt, es gebe glaubwürdige Zeugen für diesen Zwischenfall, und er wäre bei weitem nicht der einzige dieser Art.
Wie auch immer: Wenn man bedenkt, dass die EU der Türkei seit 18. März 2016 jährlich einen Milliardenbetrag für den Schutz ihrer Grenzen bezahlt, sind die geschilderten Verhältnisse schlicht ein ungeheurer Skandal.

Peter Truschner

truschner.fotolot@perlentaucher.de


 
Richard Mosse, The Castle. 232  Seiten, 24.5 x 32 cm, gebunden. MACK, London 2018, 45 Euro. ISBN: 978-1-912339-18-1. Buch beim Verlag.