Tess Gunty

Der Kaninchenstall

Roman
Cover: Der Kaninchenstall
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2023
ISBN 9783462003000
Gebunden, 416 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Die ätherische Blandine, die eine Obsession für Hildegard von Bingen entwickelt hat und durch das System gefallen zu sein scheint, lebt nur durch die dünnen Wände eines schäbigen Apartmentkomplexes in einem ehemaligen Industrieort in Indiana von ihren skurrilen Nachbarn getrennt: einer Frau, die online Nachrufe schreibt, einer jungen Mutter mit einem dunklen Geheimnis, und jemandem, der im Alleingang einen Feldzug gegen Nagetiere führt. Willkommen im Kaninchenstall. Ein Roman über den amerikanischen Rust Belt und seine Bewohner, die keineswegs alle über einen Kamm zu scheren sind, wie man fälschlicherweise annehmen könnte.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.08.2023

Spektakulär, nämlich mit einer Art Seelenwanderung, beginnt laut Rezensent Thomas Hummitzsch Tess Guntys in den USA gefeierter Debütroman über das Leben einer jungen Frau im amerikanischen Rust Belt. Der Kaninchenstall des Titels bezeichnet eine heruntergekommene Wohnanlage, berichtet Hummitzsch, der vor allem von Guntys dichter Milieuschilderung beeindruckend ist. Das gesamte Personal ist von der um sich greifenden Ödnis infiziert, findet der Rezensent, wobei die Hauptfigur Blandine durchaus nach Auswegen suche - und sie unter anderem im Leben der religiösen Mystikerin Hildegard von Bingen findet. Auch #MeToo spielt in ihre Geschichte hinein, lernen wir. All das wird in einem sprachlich disparaten, alle Diskurse unserer Zeit in sich aufnehmenden und dennoch das Gespür für Konkretion nie verlierenden literarischen Stil präsentiert, weiß Hummitzsch zu berichten. Ein Buch, so schließt er, das viel will und dem, auch wenn es sicherlich nicht immer perfekt austariert ist, das Meiste gelingt.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 21.07.2023

Rezensentin Miriam Zeh fühlt sich wohl in Tess Guntys an allen Ecken und Enden überquellendem Debüt, in dem mehr eben tatsächlich meist mehr ist. Der 2022 mit dem National Book Award ausgezeichnete Roman entwirft rund um die Hauptfigur Blandine Watkins ein reichhaltiges Figurenensemble, das im ökonomisch abgehängten Rust Belt des amerikanischen Mittleren Westens angesiedelt ist. Die Hauptfigur selbst fühlt sich nicht wohl in dieser Welt und flüchtet in Mystizismus, resümiert Zeh. Auch von Guntys - von Sophie Zeitz angemessen ins Deutsche übertragenen - Sprache ist die Rezensentin ausgesprochen angetan. Insgesamt ist Gunty ein eindrucksvolles Gesellschaftspanorama gelungen, das einen am Ende sogar ein bisschen hoffnungsvoll zurücklässt, schließt die Kritikerin.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 08.07.2023

Tess Guntys Debütroman geht für Rezensentin Juliane Liebert nach hinten los. Denn der Versuch, ein "Panoptikum" der amerikanischen Gesellschaft zu schaffen - erzählt wird etwa aus der Sicht einer Waisen, eines älteren Ehepaars oder dem Sohn einer verstorbenen Hollywoodschauspielerin - scheitere schon daran, dass alle Erzählperspektiven gleich klingen, stellt Liebert fest. Überhaupt seien es zu viele Figuren, sodass überhaupt kein Platz mehr für "so etwas wie Plot" bleibt, findet sie. Was die Kritikerin aber am meisten stört und schier in den Wahnsinn treibt, sind die Stilmittel der Wiederholung und Aufzählung, die den gesamten Roman durchfluten - insbesondere der "Merismus", eine im Grunde überflüssige Anhäufung von Substantiven, um etwas anderes zu umschreiben, wie Liebert erklärt. Was hier stark an den unablässigen Datenstrom des Internets erinnert, taugt leider nicht für einen Roman, sondern bläst einem nur das "Hirn aus dem Schädel", stöhnt die Kritikerin. Trotz vereinzelter "funkelnder Ideen" kein gelungenes Debüt für Liebert.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 06.07.2023

Rezensent David Hugendick hält nicht viel von Superlativen, vor allem dann nicht, wenn einmal pro Jahr der oder die neue David Foster Wallace ausgerufen wird. Aber Tess Gunty ist mit ihrem gefeierten Debütroman ziemlich nahe dran, gesteht der Kritiker. Schon weil der Roman in seiner Opulenz und mit seinem Sprachwitz so viel Spaß macht, dass Hugendick gern über kleinere Mängel hinwegsieht. Erzählt wird die Geschichte der spätpubertären, aber hochintelligenten Blandine, aufgewachsen in einer "deindustrialisierten Zombiestadt" in Indiana, die sich stark zu den Mystikerinnen des Mittelalters, allen voran zu Hildegard von Bingen hingezogen fühlt. Blandine sehnt sich nach Qualen, ihre Geschichte erscheint Hugendick wie ein "Coming of Todestrieb". Aber damit nicht genug: Es tritt eine Reihe skurriler Nebenfiguren auf, darunter eine Gruppe Jugendliche, die Tiere opfert, oder ein Rentnerpaar mit Hass auf Nagetiere, resümiert der Rezensent. Aber hier wird keinesfalls mal wieder die Tragödie des Rust-Belts der USA erzählt, versichert Hugendick: Vielmehr hüpft die Autorin flirrend, assoziations- und überraschungsreich über die Scherben jener Existenzen, pfeift auf stringenten Plot und ökonomisches Erzählen und jongliert mit den Genres von Realismus über Comic bis zu Kommentaren aus Online-Foren. Das ist "Prosa mit ADHS" im besten Sinne, freut sich der Kritiker, der das ein oder andere dekorative Rauschen in diesem herrlich verschwenderischen Roman gern verzeiht.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 01.07.2023

Rezensent Wieland Freund hält Tess Guntys Debütroman für sehr ehrgeizig. Unter einem mächtigen Gesellschaftsroman macht es die Autorin nicht. Allerdings gelingt es Gunty laut Freund durchaus, die vielen Fäden ihrer Erzählung zusammenzuhalten und die in einem fiktiven sterbenden Kaff in Indiana spielende Geschichte um Arbeitslosigkeit, Drogen, Digitalisierung und den Versuch der Revitalisierung einer Region zu verdichten. Herauskommt laut Freund ein Buch, das Suspense und einen digitalen Naturalismus auf raffinierte Weise vereint.