Sören Ulrik Thomsen

Store Kongensgade 23

Cover: Store Kongensgade 23
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783518225523
Gebunden, 126 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Gibt es ein bestimmtes Jahr oder einen bestimmten Ort im Leben eines Menschen, der sich im Laufe der Zeit als der wichtigste erweisen wird? Für den dänischen Lyriker und Essayisten Søren Ulrik Thomsen liegt dieser Ort in Kopenhagen, in der Store Kongensgade 23. Voller Erwartung zieht er 1972, er ist 16, mit der Familie vom Land in die Großstadt, bereit für alles, was vor ihm liegt: Kultur, die erste Liebe, die Anfänge des Schreibens. Gleichzeitig leidet seine Mutter an einer schweren Depression mit langen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. In dieser Spannung zwischen Glück und Unglück, zwischen Aufbruch und Rückzug denkt Thomsen über das Leben nach, darüber, warum man schreibt, über die Angst vor dem Alter. Und über eine Wohnung, in der er nur ein Jahr lang wohnte, die für ihn aber, obwohl sie der Vergangenheit angehört, der Ort ist, von dem seine ganze Zukunft ausgehen wird.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.02.2024

Dieses Buch von Søren Ulrik Thomsen bewegt sich zwischen Essay und Autofiktion, erklärt Rezensentin Johanna-Charlotte Horst, Anlass des Schreibens ist der Tod der Mutter des Autors, die jahrelang schwer psychisch krank war. Thomsen widmet sich deshalb auch den verschiedenen Behandlungsmethoden, denen sich seine Mutter unterzogen hat, eine recht radikale Psychiatriekritik, die Horst nur bedingt teilen kann. Die Überlegungen zum Erinnern und zum Älterwerden, die der Autor mit der titelgebenden Adresse verknüpft, an der er als Jugendlicher für kurze Zeit gelebt hatte, überzeugen sie in ihrer nachdenklichen Behutsamkeit da schon eher. Zum Teil ist das Buch für die Kritikerin zu sehr "alter Mann", aber wer sich davon nicht abhalten lässt, wird hier in "charmanter Kürze" Anregungen zur Reflexion finden, meint sie.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 21.12.2023

An Kierkegaards Diktum eines nur rückwärts zu verstehenden, aber vorwärts zu lebenden Lebens muss Rezensentin Meike Feßmann bei der Lektüre von Soren Thomsens Essay denken: Ein Jahr hat Thomsen als Jugendlicher an der titelgebenden Adresse gelebt und in dieser Zeit Prägendes erlebt. In "immer neuen Schleifen" umkreist er mit Mitte 60 die eigene Jugend, das nahende Alter, die schweren Depressionen der Mutter und die Angst vor dem, was ihn mit zunehmendem Alter erwarten könnte. Und doch hat Thomsen, wie offenbar schon seine Mutter, auch eine "Neigung zur Freude", notiert Feßmann. Ein Buch voll existenzieller Fragestellungen und "poetischer Ambivalenz", hält die begeisterte Kritikerin fest.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 09.12.2023

Rezensent Peter Urban-Halle scheint Sören Ulrik Thomsens Buchs nicht recht greifen zu können; zu viele unterschiedliche Richtungen sieht er hier angelegt: Einerseits wolle Thomsens Essay eine Art "Herkunftserforschung" sein, es geht viel um die Eltern - eine nach dem Umzug in die Großstadt Kopenhagen schwer depressive Mutter und ein sie treu unterstützender Vater. Andererseits widme sich der Autor kaum seiner Kindheit oder frühen Jugend, sondern nur einem einzigen Jahr im späten Teenageralter, wundert sich der Kritiker. Auch die Mischung aus dem Interesse an tiefenpsychologischem Eintauchen und einer wissenschaftlich-rationalen Distanzwahrung scheint den Kritiker zu irritieren, besonders auch in Kombination mit einem "oft unklaren" Satzbau. Das von Thomsen selbst geäußerte Bestreben, etwas zu schreiben, mit dem er sich selbst "überrasche", wird für den Kritiker nicht eingelöst; weder einem "Rausch der Poesie noch einer Poesie des Rausches" begegnet er hier. Am Ende scheint er Thomsen doch eher als Klassiker denn als Romantiker einzuordnen - wie spannend er das aber letztlich findet, wird nicht ganz klar.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 09.12.2023

Søren Ulrik Thomsen nähert sich in seinem Buch einem Ort, der ihm zeitlebens wichtig geblieben ist, so Rezensent Nico Bleutge: einer Wohnung, in der er als 17-jähriger im Jahr 1972 einzog und danach ein Jahr lang lebte. Die Familie war damals, lernen wir, aus der Provinz in die dänische Hauptstadt Kopenhagen gezogen, die Wohnung steht für ihn auch für den Rausch der Großstadt, aber zugleich für ein "Gefühl der Verlorenheit", das mit der psychischen Krankheit der Mutter des Autors zu tun hat. Diese Krankheit, möglicherweise eine Depression, führte einst zu langen Psychiatrieaufenthalten, sie wurde aber schließlich geheilt, Jahrzehnte später wird bei ihr dann allerdings Parkinson diagnostiziert, resümiert Bleutge. Außerdem wird Thomsens Familiengeschichte thematisiert, in der der Autor nach möglichen Gründen der Krankheit der Mutter sucht, auch über die Psychoanalyse denkt er nach. Weniger autofiktional als essayistisch schreibt Thomsen laut Rezensent, die Prosa ist voller Abschweifungen, nähert sich der Vergangenheit tastend und reflektiert auch den Akt des Schreibens. Manchmal schrammt das Buch nur haarscharf an der Polemik vorbei, heißt es weiter, aber insgesamt ist es von einer beziehungsreichen, komplexen Sprache geprägt, die der Übersetzer Hannes Langendörfer alles in allem kompetent ins Deutsche überträgt, schließt Bleutge.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 30.11.2023

Ganz beeindruckt zeigt sich Rezensent Eberhard Rathgeb von dem schmalen Bändchen, das der Däne Soren Ulrik Thomsen hier vorgelegt hat: Titelgebend ist die Adresse, an der er als Jugendlicher ein Jahr gelebt hat, zu einer Zeit, in der sich Entscheidendes in seinem Leben abspielt. Zwischen "scheinbarer Beiläufigkeit und durchdringendem Ernst" changiert diese Erzählung, die die schwere psychische Erkrankung der Mutter in den Blick nimmt, ihre lange Krankengeschichte mitsamt Elektroschocks, aber auch die eigene Psychoanalyse des Autors, schildert Rathgeb. Hier wird, findet er, das "Dunkel des inneren Raumes" ausgeleuchtet, dem sich Thomsen in seinem feine Netze zeichnenden Buch widmet, dessen Lektüre der Kritiker am besten als langsamen, bedächtigen Genuss empfiehlt.