Kathrin Röggla

Laufendes Verfahren

Roman
Cover: Laufendes Verfahren
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023
ISBN 9783103971552
Gebunden, 208 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

"Kein Schlussstrich!" Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines "Wir" ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind "wir" eigentlich, wenn jedes "Wir" durch den Prozess in Frage gestellt wird?

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.10.2023

In Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess sieht Rezensent Julian Weber das Dokumentarische im Vordergrund. Die skandalösen Hintergründe des Prozesses kann Röggla kaum aufarbeiten, bemerkt Weber, für vieles sind die Beweise verschwunden. Sie konzentriert sich auf die Schilderung des Prozesses: Die Figuren sind "eine kritische Masse", ein "Wir", das von der Zuschauertribüne über den Prozess diskutiert, erklärt der Kritiker. Dieses, so Weber, wird zur wichtigen Instanz, vor allem um das Ungesagte, zum Beispiel das Schweigen der Hauptangeklagten zu besprechen, was Weber für einen gekonnten Kniff hält. Beobachtungen, die im Buch zunächst banal erscheinen, wie ein mit Pflaster verklebtes Hakenkreuz-Tattoo, erweisen sich später als "penibel, peinsam, oft auch unheimlich zu lesen", staunt er. Das hier ist kein "Gerichtsdrama", sondern dekliniert juristische Formalitäten durch: Keine leichte Lektüre, meint der Kritiker, und das ist auch gut so.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.08.2023

Rezensentin Judith von Sternburg findet Kathrin Rögglas Buch über den NSU-Prozess enttäuschend. So gut Sternburg die Idee findet, das Thema ohne Betroffenheitston und aus ungewohnter Perspektive anzugehen, nämlich aus Sicht eines "Wir", das den Prozess von der Zuschauertribüne im Oberlandesgericht München aus mitverfolgt, so wenig überzeugt sie das Resultat, Rögglas "Rollenspiel". Das liegt vor allem daran, dass das im Text verwendete Futur II Sternburg zu allwissend und geradezu resignativ vorkommt. Für eine genaue Analyse, neue Erkenntnisse oder Emotionen taugt diese Zeitform jedenfalls nicht, bedauert die Rezensentin. Was bleibt, sind "launige Dialoge" und einige wenige erhellende Passagen über die Eltern der Täter, so Sternburg.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 10.08.2023

Dass Kathrin Röggla das Format der Gerichtsreportage einmal komplett durchrüttelt, mag Rezensentin Maja Beckers so gar nicht gefallen: Röggla beobachtet den NSU-Prozess in München durch die Linse der Zuschauer im Gericht, die zu einem konturlosen Wir verschmelzen, das Beckers weder etwas Neues über den Prozess verrät noch über die Menschen, die ihn besuchen. Die generischen Figuren erhalten generische Namen wie "Bloggerklaus", fügt die Kritikerin noch hinzu, und sollen wohl eine bestimmte Stimmung einfangen, die für sie aber überhaupt nicht trägt. Die Frage, wohin dieses Buch eigentlich genau will, bleibt für sie offen.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 04.08.2023

Rezensent Ulrich Rüdenauer hält Kathrin Rögglas sprachkritischen Ansatz bei ihrem Versuch, den NSU-Prozess noch einmal zu erfassen, für durchaus produktiv. Rögglas Beschäftigung mit dem Thema in Archiven und vor Ort im Gerichtssaal führt zu einer überraschenden Perspektive auf die Ereignisse und das Verfahren, findet der Rezensent. In der Wir-Form spürt die Autorin sprachskeptisch den Narrativen eines "Beobachterkollektivs" aus Juristen, Journalisten und Zuschauern nach, erläutert er. Das ist nicht immer leicht zu verstehen, und mitunter verschwindet das Grauen der Taten hinter der Metaebene, räumt er kritisch ein, doch wird der polyphone Text der Komplexität des Verfahrens durchaus gerecht, meint er.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.08.2023

Kathrin Röggla nimmt ihre Leserschaft mit in den Gerichtssaal - was erst ziemlich abstrakt klingt, ist aber wahnsinnig spannend, eine gekonnte Beobachtung des deutschen Justizapparats und manchmal trotz eines aufgeladenen Themas auch wirklich komisch, hält Rezensent Andreas Platthaus fest. Namen wie "Bloggerklaus" und "Gerichtsopa" klingen etwas absurd, sorgen aber dafür, dass Röggla über den NSU-Prozess schreiben kann, ohne Klarnamen benennen zu müssen und, wie der Kritiker lobend anmerkt, Typisierungen jener Leute vornehmen kann, die den Prozess als Zuschauer besuchen, wie es auch die Autorin selbst jahrelang getan hat.  Nicht allen Typen werden wir beim Lesen immer zustimmen, warnt er vor, aber dennoch liefern die vielen Perspektiven einen umfassenden Blick auf "den Rechtstaat und seine Grenzen" - und das auf nur 200 Seiten, bemerkt Platthaus anerkennend. Ob Röggla auch zu dem Prozess selbst etwas zu sagen hat, verrät uns der Kritiker allerdings nicht.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 02.08.2023

Rezensent Paul Jandl ärgert sich gründlich über diesen Roman, der versucht, das NSU-Verfahren auf 200 Seiten literarisch zu verarbeiten. Über den Hintergrund des Prozesses erfährt man fast nichts, kritisiert er. Schon das Wir, das ihm hier als Erzähler entgegentritt, mag er nicht. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Prozessbeobachtern mit wechselnder Besetzung die Namen tragen wie "Omagegenrechts", "Bloggerklaus" oder "Grundsatzyildiz" und so fröhlich wie ahnungslos über die Verhandlung diskutieren. Es "menschelt" kräftig im Roman, der seine kleine Welt sauber in "Demokratieverteidiger" und "Demokratieverächter" eingeteilt hat, so Jandl, dem die Eitelkeit dieses Verfahrens nicht entgeht. Intellektuell und literarisch dürftig, urteilt der unversöhnliche Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.08.2023

Völlig nach hinten losgegangen ist Kathrin Rögglas Versuch, den NSU-Prozess in eine Romanhandlung zu packen, stöhnt Rezensent Ronen Steinke. Klischeehafte, flache Figuren, eine Ich-Erzählerin, die in schnoddrigem Ton und "ein bisschen aufgeblasen" im Pluralis Majestatis das Verfahren gegen die NSU-Täter kommentiert: da kann Steinke nur den Kopf schütteln. Selbst wenn dieses hier sprechende "literarische Wir" eine Kritik an den "desinteressierten Deutschen" darstellen soll, verfehlt der erzählerische Kniff seine Wirkung, so Steinke, denn dem "locker-komischen Sound" der Erzählung wird an keinem Moment etwas entgegengesetzt, die Trauer der Angehörigen der Opfer wird nur beiläufig erwähnt und auch über die Täter erfährt der Leser fast nichts, so Steinke.
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