Hans Joachim Schädlich

Anders

Roman
Cover: Anders
Rowohlt Verlag, Reinbek 2003
ISBN 9783498063542
Gebunden, 220 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Es geht in diesem Roman um die Identität des Individuums; ein besonderes Interesse das Autors gilt Menschen, die beim Wechsel politischer Herrschaftssysteme einen bewussten "Rollentausch" vollziehen. Zwei pensionierte Meteorologen fordern sich gegenseitig heraus, 'Fälle' zu recherchieren, einander Geschichten zu erzählen über Menschen, die sich anders darstellen als sie sind, die hinter Masken leben. Oder über solche, die wirklich anders werden, die einen echten inneren Wandel vollzogen haben.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 24.02.2004

Ist dieser Roman in Wirklichkeit ein brisantes politisches Dossier, fragt Meike Fessmann. Denn unüblicherweise stünde nicht der Verlag, sondern der Autor als Rechteinhaber im Impressum des Buches, als befürchte der Verlag juristische Folgen. Trotzdem liegt für Fessman "das Risiko dieses Buches anderswo", ohne dass sie genau verriete, worin es nun ihrer Meinung nach besteht. Der Leser ihrer Rezension ahnt es, wenn Fessmann von dem Roman als "Dokument einer Verunsicherung und auch eines großen Zorns" spricht. Ein Zorn über die sich ewig wiederholende Geschichte, vermutet die Rezensentin, denn Verrat sei überall: im Westen wie im Osten, im Sozialismus wie im Nationalsozialismus, unter Freunden und sogar in der Familie. Es gebe viele solcher Fälle von Verrat, und diese "Fälle" sammelten die beiden männlichen Protagonisten des Romans, von Beruf Meteorologen, also Fachleute für das Atmosphärische, die vom Sammeln und Analysieren ihrer Fälle ganz besessen seien (Auch der Fall des Germanisten Hans-Ernst Schneider alias Hans Schwerte wird noch mal behandelt). Stilistisch zeigt sich Schädlich auf der Höhe seiner Kunst, lobt Fessmann, indem er die dialogisierenden Männer in eine Art Dreiecksbeziehung mit einer Frau treten lasse und damit eine weitere Ebene einziehe, in der jeder über jeden spricht und jeder zugleich als das Alter ego des anderen verstanden werden könne. Etwas ratlos lässt Fessmann jedoch die Wut zurück, mit der Schädlich seinen Lesern seine Fälle "vor die Füße schleudert".
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.01.2004

Sebastian Domsch hatte mehr erwartet und macht aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Zwei pensionierte Meteorologen referieren einander "Fälle" realer Wendehälse, vom SS-Mann und Germanistikprofessor Hans Ernst Schneider bis hin zu Gregor Gysi - und weiter? Das Material, das hier zusammengetragen wird, sei zwar erschütternd, aber nicht neu. Vor allem fragt sich Domsch, worin der literarische Mehrwehrt der Sammlung besteht, die der Roman kaum künstlerisch transzendiere, dazu sei die "Romandecke" über dem historischen Material einfach zu dünn. In Vorträgen wechseln die "Fälle" einander ab, Dialoge finden kaum statt, von Deutung ist keine Spur. Und auch wenn der Roman schließlich selber in der Einsicht mündet, das die schiere Anhäufung von Daten ohne Nutzen bleibt, so hätte sich der Rezensent doch gewünscht, dass sie den Autor schon vor der Niederschrift ereilt hätte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 14.01.2004

Sibylle Cramer fühlt sich bei der Personenkonstellation in diesem Roman an das Bildschema "Maskenzug mit Zuschauern" erinnert: zwei Herren, pensionierte Meteorologen, und ihre gemeinsame Freundin beobachten und kommentieren die "Klimastürze der Machtgeschichte", schreibt Cramer, wobei die Figuren ihr besonderes Augenmerk auf die Aktivitäten von solchen Menschen richteten, die in politisch gewandelten Zeiten ihr Talent zum Überleben durch Anpassen und Täuschen entwickelten. Drei konkrete Fälle recherchiert das Trio: die Verfälschung historischer Tatsachen im KZ-Roman des kommunistischen Schriftstellers Bruno Apitz; den "politschen Mummenschanz" eines gewissen Dschidschi, in dem Cramer Gregor Gysi sieht; und den Fall des NS-Funktionärs Hans Ernst Schneider, der zum linksliberalen Germanisten Hans Schwerte mutierte. Durch die erst kürzlich erfolgte Veröffentlichung des Germanistenlexikons erhält Schädlichs Buch ungeahnte Aktualität, stellt Cramer fest. Für sie besitzt der Roman über die erzählerische Ermittlung hinaus Bedeutung: er stelle ein "poetisch-philosophisches Wahrheitsspiel" dar, das nach dem Vorbild platonischer Dialoge die "Einheit der Gegensätze" als konstitutive Denkfigur erkoren habe. Cramer scheint es beim Lesen Spaß gemacht zu haben.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.10.2003

Helmut Böttiger greift ganz hoch bei seiner Beurteilung: Hans Joachim Schädlich, schreibt er, "ist der große Lakoniker unter den deutschen Gegenwartsautoren", seine Fiktionen "sind von einer Rigorosität, die nur noch bei Uwe Johnson einen Vergleich findet". Was er damit meint: Schädlichs Sprache ist "einfach, aber scharf und sezierend", sein neuer Roman eine kalte Versuchsanordnung, die das nicht zu verheimlichen suchen; jegliche "Betroffenheit", jegliche "vordergründige Emotionalität" ist ihr "bis in die Satzstruktur" ausgetrieben. Der neue Roman "Anders", beschreibt Böttiger, besteht hauptsächlich aus artifiziellen Dialogen zwischen zwei pensionierten Meteorologen, die einmal mehr "abseits innerer Erregtheiten (...) heftige Stürme" begutachten, nämlich "Biografien von Menschen, deren Identität einen bestimmten Knick bekommen hat": Die von Jerzy Zweig zum Beispiel, dessen Geschichte von Bruno Apitz in "Nackt unter Wölfen" als Beleg für den kommunistischen Widerstand im KZ Buchenwald erzählt wurde - nach Recherchen des Ich-Erzählers stellt sie sich als Mythos heraus, denn der dreijährige jüdische Junge wurde von kommunistischen Kapos nicht einfach so vor der SS gerettet, sondern gegen einen Zigeunerjungen ausgetauscht, der statt seiner im Transport zu den Gaskammern landete. Oder die von Hans Ernst Schneider/Hans Schwerte, dem SS-Offizier, der in der Bundesrepublik zum liberalen und hochgeehrten Germanistikprofessor avancierte. Am Ende geht der Ich-Erzähler nach Australien; "zurück bleiben die Verwerfungen, die Geschichtsbrüche, die entsetzlichen Verrenkungen menschlichen Verhaltens", schreibt der tief beeindruckte Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 07.10.2003

Hieße der Autor dieses Buches nicht Hans Joachim Schädlich, Martin Krumbholz hätte es, teilt er mit, viel schneller als misslungen abgetan. So aber machte er sich alle Mühe, ohne jedoch zu einem anderen Urteil zu gelangen. Um "Maskenmenschen" gehe es, um "gespenstische Identitätswechsel" in der jüngeren deutschen Geschichte wie den des SS-Offiziers Schneider, der später als angesehener Germanist Schwerte das Bundesverdienstkreuz entgegennahm, um das gesellschaftliche Phänomen eines "radikalen Opportunismus", vorgeführt anhand authentischer Fälle im Zwiegespräch zweier Erzähler mit verteilten Rollen - einer berichtet, der andere stellt in Frage, dekonstruiert. All das hat sich Krumbholz allerdings erst ab Kapitel 18 erschlossen, bis dahin tappte er im Dunkel dieser "Gruselkomödie", und bis zum Schluss hat er keinen positiven Anhaltspunkt dafür gefunden, dass es Schädlich gelungen ist, aus seinem Material einen Roman zu machen - er bringe es lediglich in Dialogform.