Dmitrij Prigow

Lebt in Moskau!

Roman
Cover: Lebt in Moskau!
Folio Verlag, Wien - Bozen 2003
ISBN 9783852562346
Gebunden, 347 Seiten, 19,50 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Erich Klein und Sanne Macht. Dmitri Prigow erzählt seine frühesten Kindheitserinnerungen: wie die deutsche Luftwaffe Moskau bombardiert, wie deutsche Kriegsgefangene in riesigen Kolonnen durch die Stadt getrieben werden, vom Leben der Pioniere und von den Formen der grenzenlosen Bewunderung für Stalin über dessen Tod hinaus. Er spricht vom besetzten Estland und den Zuständen in einer Moskauer Kommunalka, davon, warum sich Kinder zu geheimen Orden zusammenschlossen, aber auch davon, warum Chruschtschow zum Kannibalen mutiert und den Dichter Wosnessenski in einem wilden Gelage verspeist und Gorbatschow alle Alkoholiker der Stadt spurlos verschwinden lässt. Prigows Moskau ist eine Stadt in Panik ...

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 23.10.2003

Felix Philipp Ingold kann diesem als Roman bezeichneten Lebenserinnerungen des russischen Autors Dimitri Prigow nicht viel abgewinnen. Das liegt zum einen an der "graphomanischen Disziplinlosigkeit", der "schlecht kaschierten Selbstverliebtheit" und an den bemühten Witzen, schimpft der Rezensent. Schwerer aber wiegt für Ingold, dass der Autor zwei Erzählperspektiven miteinander verschränkt, die sich seiner Ansicht nach gegenseitig "stören und verunklären". Denn während der Rezensent die Rückblicke in die bis zur frühen Nachkriegszeit reichenden Erlebnisse durch die "große Detailschärfe" als "phasenweise beeindruckenden Erinnerungsdiskurs" lobt, findet er die dazwischen eingeblendeten Kommentare zur Entwicklung Russlands und zur gegenwärtigen Situation des "Kulturbetriebs" eher störend und unnötig. So entgleitet Prigow nicht allein die Vergangenheit, sondern auch ihr "Zusammenhang mit der Gegenwart", so der Rezensent unzufrieden.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 08.10.2003

Am Schluss bringt Guido Graf es auf den Punkt: "Man musste von einer Sekunde zur nächsten in eine andere Sprache hinein und ebenso schnell wieder heraus kommen." Um diese Kunst des Sprechens in allen möglichen falschen Zungen, die allein zum Überleben in der Sowjetunion taugte, geht es nach Graf in diesem Buch, das die allgegenwärtige Gegenwart der Vergangenheit behandelt. Gestört hat den ansonsten tief beeindruckten Rezensenten, dass Prigow all zu oft zur Anekdote greift, die in solcher Häufung einen "Hohlraum der Erinnerung" erzeuge. Um so wichtiger jedoch sei dann die Frage: Wer spricht? Und so führe Prigow wiederum sein Thema als ein Notwendiges vor, nämlich die Arbeit an einer Sprache, die "immer schon infiziert" war. Immerhin erstaunlich, dass man, wie Guido Graf es hier tut, solcher Schwere des Gegenstands noch höchsten "Unterhaltungswert" attestieren kann!

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 08.10.2003

Helmut Höge hat ein grundsätzliches Problem mit diesem Roman - und das hat weniger mit dem Erzählten, als mit der möglichen Rezeption - insbesondere in einem deutschen Kontext - zu tun. Der Autor Dmitrij Prigow, den Höge trotz seiner 63 Jahre zu den jungen Autoren zählt - schon allein, weil er erst seit 1989 veröffentlicht - gehört zu der Generation, "die sich am liebsten über die sowjetische Geschichte lustig macht und alles Sowjetische gnadenlos parodiert". Diese Herangehensweise erfüllt nach Höges Meinung eine durchaus wichtige, weil therapeutische Funktion in der post-sowjetischen Gesellschaft: Die Autoren "reduzieren den ganzen Muff und das Pathos aus der Vergangenheit auf einen Witz oder eine Anekdote". Der Nutzwert dieser Art von Literatur für Leser, die nicht in dieser Gesellschaft leben, ist aber in Höges Augen fragwürdig. Im konkreten Fall der deutschen Leserschaft wird der Rezensent gleich ganz streng: "Die Deutschen haben einfach kein Recht, über irgendetwas Sowjetisches zu lachen oder auch nur zu schmunzeln", behauptet unser Rezensent. Denn ohne die Sowjetunion hätte es hierzulande nie ein "Ende des Faschismus, eine soziale Marktwirtschaft, ein Wirtschaftswunder und anständige Löhne gegeben".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 25.09.2003

Während westeuropäische Autoren mit Kindheitserinnerungen und Liebeshändel der Freizeitgesellschaft Futter geben, findet anderswo Große Geschichte statt, erinnert Iris Radisch. "Wo? In Moskau natürlich." Einen großen Bahnhof bereitet Radisch also dem russischen Poeten, Konzeptkünstler, Held des literarischen Untergrunds und Häftling der sowjetischen Psychiatrie Dmitrij Prigow, der mit "Lebt in Moskau!" nur scheinbar eine Autobiografie vorgelegt habt. Eher schon einen "trunkenen Roman", in dem Ironie, Fantasie und Realität auf dasselbe hinauslaufen und in dem der kleine Dmitrij zwischen all den Tränenströmen und Leichenbergen kaum noch auszumachen sei. Doch in Wahrheit, jubiliert Radisch, ist "Lebt in Moskau!" eine "grandiose Chronik des Moskowiter Katastrophismus", in der "Chaos, Untergangseuphorie und sowjetische Musik" die tragenden Rollen spielen und in einen gewaltigen "Vernichtungswirbel" münden.
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