Bodo Kirchhoff

Wo das Meer beginnt

Roman
Cover: Wo das Meer beginnt
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2004
ISBN 9783627001155
Gebunden, 307 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Wer bin ich, wenn ich begehre? Und welche Grenzen überschreite ich dabei? Kardinalfragen für Viktor Haberland seit einem Vorfall am Ende der Schulzeit mit Tizia, seiner Partnerin bei den Proben zum Sommernachtstraum. Damals kam es zu einer außerordentlichen Lehrerkonferenz, und nur ein alter, einzelgängerischer Lehrer machte sich für den Jungen stark. Inzwischen ist Haberland Anfang dreißig und bereitet für ein deutsches Kulturinstitut in Lissabon einen Abend unter dem Thema Das traurige Ich vor. Auftreten soll unter anderem ein Hirnforscher mit seiner Neurologie der Romantik und eine Schauspielerin, die Gedichte vorträgt...

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 23.03.2005

Bodo Kirchhoff ist ins Unterhaltungsgenre abgewandert, stellt Martin Lüdke dennoch positiv überrascht fest. Kirchhoff scheine seine monomanische Fixierung auf Sex, Liebe und Gewalt so weit erzählerisch abgearbeitet zu haben, dass er sich auf eine neue - literarische - Versuchsanordnung einlassen konnte, die Lüdke durchaus Respekt abverlangt. Die Motive - Liebe, Sexualität, Gewalt - sind geblieben, neu hinzugekommen, merkt Lüdke an, sei das Alter. Die Erzählung käme etwas schwerfällig in Gang, gewänne dann aber zunehmend an Fahrt und Spannung, wenn die verschiedenen Erzählstränge auf den einen Abend zuliefen, an dem die Ereignisse eines lang zurückliegenden Abends rekonstruiert werden sollen, an dem angeblich ein Mädchen von einem Mitschüler vergewaltigt worden sein soll. Hier werde ein neues Formprinzip sichtbar, dass eine Reflexion auf die eigenen Voraussetzungen erkennbar werden lasse und Kirchhoffs Figuren nach den Ursachen ihrer Beschädigung suchen lasse: damit stelle der Autor eine soziale Diagnose und keinen pathologischen Befund mehr, wirft sich Lüdke für Kirchhoff in die Bresche.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 06.10.2004

Die Konstruktion von Bodo Kirchhoffs neuem Roman ist überaus kompliziert, berichtet Rezensent Ulrich Rüdenauer: Lehrer macht Schüler zu seinem Handlanger, zum Objekt der erotischen Begierde, die eigentlich ein "Verfallensein ans Wort" ist; der Lehrer zeichnet auf, der Schüler jedoch wird zum Ich-Erzähler der Geschichte, die wiederum das vorliegende Buch ist, der Lehrer stirbt. Mit anderen Worten: "Im neuen Roman von Bodo Kirchhoff lässt sich die Entstehung eines Buches verfolgen und das Verschwinden des Autors." Hätte schief gehen können, meint Rüdenauer - doch es gelinge "grandios", weil Kirchhoff seine Figuren nicht nur - seinem Leitthema gemäß - sexuellen und gewaltsamen Obsessionen unterwerfe, sondern diese auch in "genau protokollierender, also rücksichtsloser, rhythmisch dahinfließender Sprache" erfasse. Das Begehren macht das Ich, und das radikal genaue Erzählen davon die Literatur, schreibt Rüdenauer. Und: Kirchhoff habe soviel zu erzählen, dass er manchmal allzu freigebig Geschichten verstreue. Aber kann man das einem Erzähler wirklich vorwerfen?

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 05.10.2004

Während Bodo Kirchhof im "Schundroman" noch erfolgreich an einer Ironisierung des Kitsches entlang getänzelt ist, hat er die Grenze zum "Nippes" in seinem neuen Roman "Wo das Meer beginnt" nun eindeutig überschritten, stichelt Andrea Köhler. Worum geht's? Der Erzähler Viktor Haberland veranstaltet in Lissabon eine Konferenz über die Liebe, dabei kommt die angebliche Vergewaltigung einer Mitschülerin in der Oberstufe zur Sprache, und schließlich notiert Haberland die Lebenserinnerungen seines Lehrers. An diesem letzten Punkt hätte das Buch einsetzen sollen, meint Köhler, "es wäre vielleicht mehr als ein Musterbeispiel tadelloser Schreibfertigkeiten geworden". Die Lebenserzählung des Lehrers in ihrer "ausbalancierten Melodie" erscheint der Rezensentin dann auch als der "überzeugendste" Part an dem Werk. Der Rest kann zwar als "Persiflage" auf das Genre des Campus-Romans verstanden werden, fügt Köhler etwas müde hinzu, aber das rettet das Buch in ihren Augen auch nicht mehr.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 02.10.2004

Bodo Kirchhoffs "Schundroman" war noch ein "kleiner Geniestreich", erinnert sich Rezensent Sebastian Domsch, aber mit "Wo das Meer beginnt" endet die freiwillige Ironie und der unfreiwillige Kitsch beginnt. Wieder gehe es um Liebe, und zwar um das, was aus den ersten körperlichen Annäherungsversuchen zweier Teenager hervorgeht, nämlich Wirrnis: Als sie entdeckt werden, wirft das Mädchen dem Jungen mehr oder weniger Vergewaltigung vor. Ein Lehrer, der aus früheren Kirchhoff-Romanen bekannte Dr. Branzger, verteidigt den in Verruf geratenen Schüler und rettet ihn vor dem Rauswurf. Jahre später begegnen sich die drei Protagonisten noch einmal und es kommt zu einer Rekonstruktion der Vergangenheit - und das gleich mehrfach. So kann sich der Rezensent des Eindrucks nicht erwehren, dass Kirchhoff mangels erzählerischer Qualität zur erzähltechnischen Verkomplizierung greift und damit versucht, Mittelmaß als Literatur zu tarnen - schließlich wisse jedes Kind, dass wahre Literatur schwer und mühsam zu lesen ist.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 10.09.2004

Wer Bodo Kirchhoff als Provokateur kennt und schätzt, wird auch mit dem neuen Roman auf seine Kosten kommen; daran lässt Hans-Peter Kunisch keinen Zweifel aufkommen. Auch hier verfolge Kirchhoff seine "Politik der Zuspitzung" in Sachen Sex und Gewalt, mit Hilfe einer Reihe von Provinzchargen im Biedermeier-Setting. Aber Kunisch hat auch anderes, mehr in diesem Roman entdeckt. Erzählt wird die Geschichte von Viktor Haberland und Tizia Jentsch, einmal zu Zeiten des Ersten Golfkriegs, dann des Zweiten Golfkriegs. Damals spielten die beiden zusammen in der Schule den "Sommernachtstraum", die Fortsetzung im Heizungskeller endete im Debakel. Tizia beschuldigt Haberland der Vergewaltigung. Nun sollen sich die beiden im Goethe-Institut von Lissabon wieder begegnen. Die Frage, meint Kunisch, lautet nicht nur, was zwischen den beiden gewesen sei, sondern auch was werden kann. "Dramaturgisch glänzend" findet der Rezensent die Geschichte erzählt, und das im gewohnt eleganten Parlando, das jeden Abgrund "gespenstisch und doch auch leicht" erscheinen lassen. Und nebenbei sei Kirchhoff eine seiner vielschichtigsten Figuren überhaupt gelungen, die des misanthropen Lehrers Branzger mit einer Leidenschaft zur Wahrheit.
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