Heute in den Feuilletons

Spiel mit meinem Bongo, Baby

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.07.2010. Die taz erklärt den feinen Unterschied zwischen gewöhnlicher Diffamierung und gewöhnlichem Antisemitismus. Die FR gibt einen letzten Rat von Fritz Teufel weiter. FAZ kolportiert Klatsch über Suhrkamp. Die SZ meint: wissenschaftliche Arbeit fördert Eigensinn und Renitenz.

FR, 16.07.2010

Überwiegend ältere Herrschaften waren bei der Trauerfeier für Fritz Teufel in Berlin, erzählt Arno Widmann. "Es gab Vertreter aus allerlei Fraktionen des bewaffneten Kampfes. Manche im Rollstuhl oder am Rollator. (...) Vor ein paar Monaten, so erzählte mir eine Freundin, habe sie Fritz Teufel begleitet. Er war schwer krank, zitterte, ulkte aber weiter über Gott und die Welt. Beim Abschied sah er ihr in die Augen , nahm seine Kräfte zusammen und sagte: 'Ich kenne dich nicht so gut. Wenn du empfindlich bist, tut es wahrscheinlich schon eine Grippe, aber wenn du wirklich etwas spüren möchtest, dann nimm Parkinson.'"

Weitere Artikel: Widmann schreibt außerdem zum 25. Todestag von Heinrich Böll. Der Theologe Ulfrid Kleinert denkt über Barmherzigkeit und soziale Gerechtigkeit nach. In Times Mager rümpft Christian Schlüter die Nase über den Panik-Knopf, den Facebook jugendlichen Nutzern anbietet, die im Internet sexuell belästigt werden: das zeige nur, "wie sehr Sexualität in der Öffentlichkeit als schmutzige Sache gilt".

Besprochen werden die neue CD von Danger Mouse and Sparklehorse, Aufführungen beim Theater der Welt, ein Auftritt des Pianisten Piotr Anderszewski beim Rheingau-Festival und Paul Austers Roman "Unsichtbar" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 16.07.2010

Das Chaos der Welt hört Thomas Burkhalter aus der neuen Weltmusik, bei M.I.A. oder Terry Lynn, weniger sanfte Exotik, mehr Militanz: "Den musikalischen Zeitgeist definieren in London derzeit viele Musiker aus Afrika und der Karibik, die zur ersten, zweiten oder dritten Einwanderergeneration zählen. Unter der Szene-Bezeichnung UK Funky mixen sie Afrobeat, Breakbeat, UK Garage und karibische Stile und spielen selbstbewusst mit kulturellen Stereotypen. 'Spiel mit meinem Bongo, Baby', singt die Backgroundsängerin im Videoclip 'Bongo Jam' der Crazy Cousinz."

Weiteres: Alexandra Stäheli versucht, sich und uns das Phänomen der Twilight-Filme mit dem prekären Seelenzustand von Jugendlichen zu erklären. Naomi Bubis berichtet, dass nächste Woche der Banksafe mit den heftig umstrittenen Kafka-Manuskripten aus Max Brods Nachlass geöffnet werden soll.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Rache der Archive" zeigt das Genfer Centre de la Photographie, eine Ausstellung über Wiener Gemeindebauten im Museum Postsparkasse.

Weitere Medien, 16.07.2010

Gestern fand vor dem Bundesgerichtshof die Verhandlung in dritter Instanz im Prozess der Süddeutschen Zeitung und der FAZ gegen den Perlentaucher statt. Die im Prozess noch für gestern Abend in Aussicht gestellte Urteilsverkündung ist nun doch auf den 30. September angesetzt worden. Die meisten Medien bringen wie Spiegel Online (hier) einen Tickerbericht von der Verhandlung. Die taz berichtet selbst. Auf der Website Juwis schreibt Thomas Hartmann: "Die Richter nutzten den prominenten Einzelfall, um an grundlegende Prinzipien des deutschen Urheberrechts zu erinnern. So sind Ideen, Lösungen oder Forschungsergebnisse an sich nicht urheberrechtlich geschützt, sondern nur deren konkrete Ausgestaltungsformen. Die Informationsverbreitung und die Auseinandersetzung mit Erkenntnissen soll nicht behindert werden... Auf der anderen Seite muss der Beteiligungsgrundsatz berücksichtigt werden: Demnach sollen dem Urheber nicht die wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten seines Werkes entzogen werden."

Welt, 16.07.2010

In der Randglosse meldet Paul Jandl österreichische Reaktionen auf Ai Weiweis neueste Kunstaktion: Er hat einen Vier-Tonnen-Fels aus Sichuan auf den Gipfel des Hohen Dachstein bringen lassen, der Alpenverein empört sich über die negative CO2-Bilanz. Warum liest niemand Böll? Die Welt sammelt Erklärungen bei Autoren, Kritikern und Direktoren von Heirnich-Böll-Schulen. Einen Ansturm silberhaariger Best Ager hat Richard Herzinger bei der Trauerfeier für Fritz Teufel erlebt. Zum Erscheinen von Bret Easton Ellis neuem Roman "Imperial Bedrooms" hat der Verlag ein "dreckiges kleines Online-Spiel" ins Netz gestellt, berichtet Peter Paschl entzückt. Zum "heißen Ticket des Sommers 2010" küren Manuel Brug und Stefan Keim den Schamanen, Stammesfürsten und Gründer der neuseeländischen MAU-Tanzcompany Lemi Ponifasio.

Aus den Blogs, 16.07.2010



Design kann das Leben verändern, schreibt Designlines und präsentiert die Q Drum, die den Transport von Wasser in armen Gegenden wesentlich erleichtern könnte: "Initiiert wurde das Projekt vom südafrikanischen Architekten und Ingenieur Piet Hendrikse, der eine erstaunlich einfache Lösung des Problems präsentierte: Anstatt das Wasser wie bisher in Eimern oder Kanistern zu befördern, die mit dem Körper getragen werden müssen, zeigt sich sein 'Gefäß' als eine Art verlängerter Donut, der rollend auf dem Boden transportiert wird." Hier ein Video über die Erfindung.
Stichwörter: Wasser

TAZ, 16.07.2010

Auf der Meinungsseite untersucht der Politologe und Soziologe Armin Pfahl-Traughber gängige Vorwürfe gegen Israel und erklärt unter anderem, dass die Gleichsetzung israelischer Politik mit dem Nationalsozialismus zwar absurd und zynisch sei, jedoch nicht zwingend antisemitisch. "Anspielungen im Sinne einer Gleichsetzung von Israel und Nationalsozialismus dienen der politischen Diffamierung des jüdischen Staats. Der historische Unsinn, der damit einhergeht, kann aber nur dann als Ausdruck von Antisemitismus gelten, wenn die konstitutive Eigenschaft dieser Diskriminierungsideologie nachweisbar ist: Feindschaft gegen Juden als Juden."

Im Kulturteil resümiert Rudolf Walther einen Vortrag, den der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck über Familienpolitik in Frankfurt gehalten hat, Titel: "Volksheim oder Shoppingmall?". Andreas Resch kommentiert die Reaktionen auf Polanskis Freilassung.

Besprochen werden das Album "Into the Great White Yonder" des dänischen Techno- und Houseproduzenten Anders Trentemoller und neue Alben von Mount Kimbie, James Blake und Joy Orbison.

Und Tom.

FAZ, 16.07.2010

Florian Balke gibt Klatsch über Suhrkamp, den er auf einer Frankfurter Lesung gehört hat, brühwarm weiter: "Zu hören ist, Suhrkamp wolle sich eine Unternehmensberatung ins Haus holen, vor allem aber heißt es, Ulla Unseld-Berkewicz wolle die Verlagsleitung demnächst abgeben und möglicherweise sogar die von ihr kontrollierten Anteile am Verlag veräußern. Kolportiert wurde auch, möglichen Käufern seien von Suhrkamp schon Angebote gemacht worden. Nichts davon lässt sich bestätigen, alles bleibt Spekulation." Vielleicht hätte er einfach Ulla Unseld-Berkewicz dazu fragen sollen?

Die Burkadebatten in Europa sind für Karen Krüger vor allem Ablenkungsmanöver und Symbolpolitik. Auf differenziertere Problemlagen können man so gerade nicht reagieren: "Es kostet Mühe und Zeit, von Fall zu Fall Entscheidungen zu treffen, bei der Ausbreitung des radikalen Islam bei Predigern und Internetseiten anzusetzen, die Stellung der wenig privilegierten muslimischen Frau durch die Verbesserung ihrer Bildungschancen zu stärken oder jene muslimischen Richtungen zu unterstützen, deren Vorstellungen mit unserem Demokratieverständnis vereinbar sind."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier freut sich, dass mit einem Vergleich zwischen Amazon und dem Börsenverein die Buchpreisbindung nun auch online bis auf weiteres unangefochten scheint. Von der Münsteraner Tagung "Beyond Tradition?", in der es um Traditionskritik in der Religion ging, berichtet Oliver Jungen. Jean Nouvels nur einen Sommer lang stehenden Pavillon für die Londoner Serpentine Gallery hat sich Gina Thomas angesehen. Jan Brachmann schreibt den Nachruf auf den Dirigenten Charles Mackerras. Auf der Medienseite schildert Mark Siemons, wie man in China auf eine deutsche Studie über die Chinawahrnehmung reagiert - und dass es in China wiederum selbstkritische Reaktionen auf die einseitige Darstellung dieser Studie gibt.

Besprochen werden das Sting-Konzert mit Orchester in der Metropolitan Opera in New York, eine Ausstellung mit Werken von Uwe Henneken im Haus Salve Hospes in Braunschweig, Rosa von Praunheims Film "New York Memories" und Bücher, darunter Anke Stellings Roman "Horchen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.07.2010

Von einer Podiumsdiskussion zur Geschichte der Berliner Humboldt-Universität zu DDR-Zeiten berichtet Jens Bisky. Es ging um eine Institution zwischen Anpassung, Indoktrination und (meist vorsichtigem) Aufbegehren: "Auch an den Hochschulen lief es nicht nach Plan: Eigensinn und Renitenz wuchsen nach, kritische Geister fanden hier und da einen Unterschlupf. Es muss an den Gegenständen und der Logik der Wissenschaft liegen: So wie diese eine bestimmte Lebensform voraussetzt, fördert wissenschaftliche Arbeit die Entstehung eines bestimmten Habitus." (P.S.: "Eine Akademikerin meinte in der Diskussion, sie sage zu Bologna immer 'vierte sozialistische Hochschulreform'.")

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck hat in Salzburg den dortigen Noch-Intendanten Jürgen Flimm getroffen, der sich auf seinen vorzeitigen Weggang Richtung Berlin freut, aber auch nichts Schlechtes über Salzburg sagen will. Claus Biegert schildert die politischen und historischen Hintergründe der Beinahe-Nichtteilnahme der "Nationalmannschaft" des "indianischen Völkerbunds der Irokesen" an den Lacrosse-Weltmeisterschaften in Manchester. Mit dem Theologen Christoph Kähler, der die "Durchsicht" - von einer Revision möchte er nicht sprechen - der Lutherbibel leitet, unterhält sich Rudolf Neumaier ("Oder Lukas 12, 6: Hier diskutieren wir, ob wir vom Groschen oder vom Pfennig reden.") Von der manchmal offenbar geradezu jazzkonzertartigen Ted-Konferenz (Website) in Oxford berichtet weiterhin Andrian Kreye. Wolfgang Schreiber verfasst den Nachruf auf den Dirigenten Charles Mackerras. Auf der Literaturseite unterzieht Burkhard Müller das Werk des vor fünfundzwanzig Jahren verstorbenen Heinrich Böll einer Generalrevision. Viel bleibt nicht seiner Ansicht nach, ein paar der frühen Erzählungen durchaus, das Romanwerk aber könne man komplett vergessen.

Besprochen werden die Ausstellung "Une ville pour l"impressionnisme" in Rouen, Ferzan Ozpeteks Filmkomödie "Männer al dente" und Paul Austers neuer Roman "Unsichtbar" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).