Heute in den Feuilletons

The official return of history

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2008. Die Welt meint: Das Kindle kommt nach Deutschland. Die NZZ wirft einen Blick auf die reiche Geschichte der russisch-georgischen Beziehungen. Die FAZ erblickt im Kauskasus-Konflikt (ähnlich wie Robert Kagan in der Washington Post) eine Rückkehr zum klassischen Krieg. Die SZ erklärt, warum sie über Eichingers Baader-Meinhof-Film nicht schreiben wird. Weil sie nämlich gar nicht darf. Und dann auch nicht mehr will.

NZZ, 12.08.2008

Ulrich M. Schmid wirft im Aufmacher einen Blick auf die sehr lange und sehr komplizierte Geschichte des Konflikts im Kaukasus: "In den Jahren 1918-1921 war Südossetien Teil der kurzlebigen georgischen Republik; allerdings verhielten sich die Osseten wenig loyal zu den Machthabern in Tbilissi. Bereits in den Jahren 1919 und 1920 kam es zu Aufständen gegen Georgien. Der Vormarsch der Roten Armee wurde deshalb von den Osseten tatkräftig unterstützt. Aus georgischer Sicht präsentierten sich die Dinge anders: Die Osseten bildeten eine fünfte Kolonne, die den jungen Nationalstaat von innen heraus zersetzte. Ähnlich wie die Abchasen wurden auch die Osseten von den Sowjets für ihre Unterstützung belohnt: Im Jahr 1922 erhielten sie ein Autonomiestatut."

Weiteres: Sören Urbansky porträtiert die chinesische Stadt Qingdao. Warum Ingo Schulze mit "Adam und Evelyn" einen weiteren Wenderoman geschrieben hat, erklärt Paul Jandl. Der Schriftsteller Fakhri Saleh schreibt zum Tod von Mahmud Darwish. An Isaac Hayes erinnert Matthias Daum.

Besprochen werden Bücher, darunter Andreas Okopenkos Roman "Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden", Jon Kalman Stefanssons Roman "Sommerlicht, und dann kommt die Nacht" und die Übersetzung des ersten Bandes der Mischna, erschienen im Verlag der Weltreligionen (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Welt, 12.08.2008

Noch wird spekuliert, ob Amazon sein Kindle zur Buchmesse nach Deutschland bringt. Aber kommen wird das E-Book so oder so, meint Thomas Lindemann, und anders als bei den ersten Versuchen wird es Erfolg haben: "Mit dem Buch wird nach Musik, Kino und Hörspiel dann das letzte klassische Medium digitalisiert. Auf den ersten Blick bleibt vieles gleich - schließlich sind auf dem E-Book-Reader dieselben Sätze zu sehen wie im gedruckten Exemplar. Allerdings wird dann erstmals auch für das Buch alles virtuell - der Schriftsteller tippt es auf seinem Laptop, der Verlag bearbeitet es im Layout-Programm, Kunden lesen es auf dem tragbaren Bildschirmchen." Siehe hierzu auch einen Artikel der so lesenswerten Wirtschaftsseiten der FAZ und hier ein instruktives Werbevideo über Kindle.)

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr kommentiert Pläne der Wormser Festspiele, den "Jud Süß"-Stoff zu dramatisieren und damit nach der Nibelungen-Sage einen weiteren von Nazis kontaminierten Stoff aufzugreifen. Leni Höllerer berichtet über neueste Erkenntnisse zu den antiken Grabmalereien in Paestum, denen in Berlin zur Zeit eine Ausstellung gewidmet ist. Matthias Heine schreibt zum Tod von Isaac Hayes.

Besprochen werden eine Kirchner-Ausstellung in New York, eine neue CD von Primal Scream, der "Jedermann" in Salzburg und eine Ausstellung mit Daniele Dainellis Fotos des berühmten New Yorker Chelsea-Hotels in Berlin.

FR, 12.08.2008

In der Frage zum Lärmschutz von Orchestermusikern lässt Hans-Jürgen Linke den Dirigenten Lothar Zagrosek zu Wort kommen, der Dror Feilers Komposition "Halat Hisar" im Berliner Konzerthaus hatte aufführen wollen, nachdem sich das Orchester des Bayerischen Rundfunks geweigert hatte, es zu spielen. Jetzt rudert er aber zurück. Andreas Wilik beobachtet die Proben von Alain Platel und "Les Ballets C. de la B." aus Gent, die Bachs Matthäus-Passion für die Ruhr-Triennale erarbeiten. In Times mager beschäftigt sich Harry Nutt mit dem wachsenden Bedarf an Schokolade in China. Oliver Herwig macht uns mit dem neuesten Renner der Verpackungsindustrie bekannt: Shrink Sleeves. "Als zweite Haut legen sie sich um Brühwürste und Erdnusskerne. Shrink Sleeves passen wie angegossen. Immer. Unter ihrer prall gespannten Hülle glitzern Dinge wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg: taufrisch."

Besprochen werden Karlheinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums (die Arno Widmann zeigte, dass der Westen nur sehr selten seinen Idealen entsprochen hat), Guy Helmingers Familienroman "Morgen war schon" und Andrew Vachss' Krimi "Der Fahrer" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

TAZ, 12.08.2008

Maxi Obexer berichtet von dem Krach, den es in Bozen seit Eröffnung des neuen Museums für Gegenwartskunst um Martin Kippenbergers knallgrünen Frosch am Kreuz gibt. Natürlich beleidigt er die religiöse Gefühle: "Wer bis dahin noch dachte, die paar Verzückten, die sich täglich im Büßerhemd vor dem Museion einfinden, werden sich wieder beruhigen, sieht sich getäuscht. Die mögen zwar eine Minderheit darstellen, doch gehört es zum Wesen religiös Beleidigter, kräftig und immer im Namen einer großen Gesamtheit auszuholen. Auch die Schützen marschieren auf in Tracht und Lederhose und fordern, den Frosch abzuhängen."

Weiteres: In seiner Berliner Ökonomie widmet sich Helmut Höge der Klassenjustiz. Julian Weber verabschiedet Isaac Hayes. Besprochen werden die Ausstellung mit politischen Fotomontagen der 30er Jahre "Hitler blind und Stalin lahm. Marinus und Heartfield" im Kölner Museum Ludwig und Juan Alberto Cedillos Buch "Die Nazis in Mexiko".

Und Tom.

FAZ, 12.08.2008

Zwei Artikel beschäftigen sich mit dem Krieg im Kaukasus.

Kerstin Holm sieht schwarz nach dem Erstschlag von Zauberlehrling Saakaschwili: "Der Versuch des georgischen Präsidenten Saakaschwili, die schleichende Annexion Südossetiens durch Russland per Blitzkrieg aufzuhalten, hat die ohnehin schwachen Restliberalen in Russland praktisch mundtot gemacht." Der Politologe Andreas Herberg-Rothe sieht nach einer Episode mit Terror und "asymmetrischer Gewalt" die Staaten als Akteure klassischer Kriege zurückkehren: "Die Auseinandersetzungen zwischen diesen Welt- und Großmächten sowie ihre gemeinsamen Aktionen zur 'Ordnung der Welt' werden die kommenden Jahrzehnte dominieren." Noch interessanter ist vielleicht sogar Robert Kagans Artikel aus der Washington Post mit einer ähnlichen These: "Russia's attack on sovereign Georgian territory marked the official return of history, indeed to an almost 19th-century style of great-power competition."

Weitere Artikel: Im Aufmacher wendet sich Regina Mönch gegen Pläne, die Havel bei Berlin auszubauen, die irreparable Schäden an der Berlin-Potsdamer Gartenlandschaft nach sich ziehen könnten. In der Leitglosse attackiert Lorenz Jäger einen kleinen Verriss des Buchs "Human Smoke" (Auszug) von Nicholson Baker durch Daniel Kehlmann in der Juni-Ausgabe von Cicero. Edo Reents schreibt zum Tod des großen Isaac Hayes. Auf einer Seite wird ein Kapitel aus dem Roman "Alles über die Welt" von Klaus Ungerer vorabgedruckt. Peter C. Bol schreibt zum Tod des Archäologen Hans von Steuben. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, die sich unter anderem mit den Auswirkungen der Olympischen Spiele auf Chinas Zukunft auseinandersetzen. Die "Forschung und Lehre"-Seite befasst sich unter anderem mit amerikanischen Forschungen zu "Übergewicht als Diskriminierungsgrund".

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen und Druckgrafiken, die der Sammler Christoph Müller dem Kupferstichkabinett in Berlin schenkte (und die er in Führungen zweimal wöchentlich erläutert, mehr hier), eine CD mit Chormusik von Hugo Distler, eine Ausstellung über islamische Buchkultur in Leipzig, zusammen besprochen mit "Überraschenden Ansichten aus der Türckischen Cammer" im Dresdner Grünen Gewölbe, Sieben "Schubert-Szenen" bei den Salzburger Festspielen (ein neuartiges Konzert-Konzept, das Gerhard Rohdes Zustimmung findet), "Travelling. Paris ", eine Filmarbeit des belgischen Romanciers Jean-Philippe Toussaint, die in Paris gezeigt wird, und Ereignisse des Festivals "Wege durch das Land", das zugleich mit neuer Literatur und Ostwestfalen-Lippe bekannt machen soll.

SZ, 12.08.2008

Wolfgang Schreiber klickt sich bei Youtube durch Schnipsel von Konzerten mit klassischer Musik - von Gould, Kempff, Gilels, Richter, Argerich, Kissin, Michelangeli, Horowitz, Pogorelich zu Barenboim und Lang Lang und erlebt sein blaues Wunder: "Wer sich entschließt, noch neugieriger zu klicken, kann Gespenstisches, Wechselbäder in deutscher (Musik-)Geschichte erleben. Der hört und sieht Furtwängler bei der Probe zu Schuberts Unvollendeter, beobachtet ihn beim Finale von Beethovens Neunter 1942 und auch, wie Goebbels ihm dafür dankbar die Hand schüttelt. Kommunikationslos einsam dirigiert Karajan das Stück, ekstatisch Bernstein. Und dann taucht ganz kurz der 'Führer' selbst auf, 1937 in Bayreuth, mit Winifred W. Fassungslos will man dann nur noch zum Donauwalzer, wie ihn so authentisch-nostalgisch nur Erich Kleiber vor dem Zweiten Weltkrieg dirigieren konnte, in Schwarzweiß."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Slavenka Drakulic geißelt die Doppelzüngigkeit der Kroaten beim Umgang mit ihrer faschistischen Geschichte: "Verherrlichung von Kriegsverbrechen, Terrorismus und Faschismus sind zwar offiziell verboten", um die EU zufriedenzustellen, sie werden aber, "wenn man sich in der Öffentlichkeit dazu bekennt, toleriert". Jonathan Fischer schreibt zum Tod des Soulsängers Isaac Hayes. Alex Rühle hat ein neues Obama-Video bei Youtube gesehen - unterlegt mit Rick Astleys Popsong "Never gonna give you up". Die Erben von Kirchners Gemälde "Berliner Straßenszene" haben eine Dokumentation der Geschichte des Bildes erstellen lassen, die belegt, "was Gegner der Kirchner-Rückgabe immer wieder polemisch bestritten haben: Die Hess-Familie wurde von den Nazis verfolgt und ihre Firma war nicht bereits vor 1933 überschuldet", berichtet Stefan Koldehoff, der zugleich den Unwillen deutscher Museen beklagt, von den Nazis beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren. Das Opernhaus in Sydney muss umgebaut werden, um gravierende Mängel zu beheben, die durch Sparen an der Innenausstattung entstanden sind, berichtet Thomas Thieringer. Nicolai Brandes schreibt zum Ende der Amtszeit des Generalsekretärs der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder, Luis Fonseca. Janine Schlemmer, die Enkelin des Malers Oskar Schlemmer, hat damit begonnen, Leihverträge der Werke ihres Großvaters zu kündigen, berichtet Adrienne Braun. Hintergrund ist der Erbstreit mit Janines Tante, der Schlemmer-Tochter Ute Jaina.

Online berichtet Franz Baden über einen Knebelvertrag, den Journalisten unterschreiben sollen, die den von Bernd Eichinger produzierten Kinofilm "Der Baader Meinhof Komplex" in der Pressevorführung sehen wollen. "Es geht um eine 'Work-in-progress!'-Sondervorführung am 14. August, 10 Uhr, in der Zentrale der Constantin Film. In dem Text einer Vereinbarung heißt es einleitend: 'Die Filmsichtung wird unter folgenden Voraussetzungen stattfinden.' Und dann folgt, dass bei etwaigen Veröffentlichungen über Inhalte des Films vor dem 17. September eine saftige Konventionalstrafe fällig wird - über jeweils 50.000 Euro durch den Journalisten und das Medium." Interviews zum Film, die man sich autorisieren lassen muss, "sind frühestens zum 12. September freigegeben". Die Süddeutsche will aus diesem Grund auf jede Berichterstattung über den Film verzichten.

Besprochen werden ein Bach-Konzert des Geigers Christian Tetzlaff bei den Salzburger Festspielen ("Zu Recht tosender Beifall", notiert Harald Eggebrecht) und Bücher, darunter David Foster Wallaces Erzählungsband "Vergessenheit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).