Efeu - Die Kulturrundschau

Die lautesten, aber nicht die meisten

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13.05.2024. Der ESC ist zu Ende: Nemo gewinnt für die Schweiz als erste nichtbinäre Person - die israelische Sängerin Eden Golan belegt den fünften Platz, steht aber in der Publikumswertung fast ganz oben - immerhin eine kleine Entschädigung, meint die taz. Die Filmkritiker verabschieden sich von Roger Corman, der den wichtigsten Akteuren von New Hollywood Starthilfe gab, als sie noch "mittellose Kinoträumer" waren, wie die SZ erinnert. Die SZ entdeckt auch das versteckte Highlight der Venedig-Biennale: Christoph Büchels "bankrottes Pfandhaus" in der Fondazione Prada.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.05.2024 finden Sie hier

Musik




Der im Vorfeld vielleicht aufgeladenste Eurovision Song Contest in der Geschichte des Musikwettbewerbs ist zu Ende: Mit Nemo gewinnt die erste nichtbinäre Person den Wettbewerb und wurde vom Saalpublikum gefeiert, das bei wieder jeder sich bietenden Gelegenheit die israelische Teilnehmerin Eden Golan mit so lautstarken wie idiotischen Buhrufen mobbte (an den TV-Geräten waren sie wegen vorgeschalteter Buh-Filter nur schwer hörbar, dies änderte sich aber später bei der Punktevergabe). Das Publikum zuhause an den Empfangsgeräten machte dies immerhin ein bisschen wett, berichtet Jan Feddersen in der taz: "Erstaunlich war nicht der fünfte Platz für" die israelische Sängerin, "sondern, dass sie in der Publikumswertung die zweitmeisten Stimmen erhielt - und am häufigsten auch mit der Länderhöchstzahl von zwölf Punkten bedacht wurde. Sie lag nicht nur beim deutschen Publikum weit vorn, sondern auch in anderen Ländern, in denen starke propalästinensische Proteste und Diskurse die Öffentlichkeit bestimmen, etwa den Niederlanden, in Frankreich, Spanien und Belgien sowie in Schweden als gastgebendem Land selbst." Lena Karger (Welt) "lässt das Ergebnis hoffen, dass die Stimmen der Israel-Hetzer auf den Straßen vielleicht die lautesten, aber nicht die meisten sind".

Judith Liere trauert auf Zeit Online um die Zeit, als Eurovision-Berichterstattung sich ganz einfach noch am schönen Tand von Glitzer, Oberflächlichkeiten, von Performances und Bühnenbildern erfreuen konnte. "Die Welt ist offenbar zu kaputt, als dass man noch konsequent Eskapismus betreiben könnte." Die Tausenden antiisraelischen Hetzer, die die Bilder aus Malmö in den Tagen vor dem Wettbewerb bestimmten, trübten die Atmosphäre schon ziemlich ein, auch "auf den Pressekonferenzen waren die Anfeindungen anderer Teilnehmer gegenüber Eden Golan deutlich sichtbar." Der Abend selbst war dann aber "eine recht souveräne, ziemlich typische ESC-Sause".



Die ESC-Abstimmungen sind auch immer Ausdruck nationaler Befindlichkeiten der einen Länder gegenüber den anderen, schreibt Rahel Zingg in der NZZ. "Dass die kleine Schweiz gewonnen hat, und zwar ohne nennenswerte Lobby, heißt: Es liegt vor allem am Song und an Nemos Auftritt. Da ist Wucht, da ist Präzision, eine Dringlichkeit im Gesang: Nemos perfekter Sturm auf der Bühne. Musikalisch ist 'The Code' das ideale Eurovision-Song-Contest-Werk. Ein euphorischer Ohrwurm, der klingt, als hätten die Band Queen, Eminem und Mozart gemeinsam Pate gestanden." Auch für tazler Jan Feddersen gibt es keinen Zweifel daran, dass dieser "Sieg verdient ist. ... Dieses eidgenössische Wesen ist der perfekte Akkord gegen den Rechtspopulismus in der Schweiz."

Matthias Kirsch hat sich für Zeit Online derweil den Abend vor der Arena vertrieben und die zahlreichen antiisraelischen Proteste genauer angesehen, bei denen auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg medienwirksam von der Polizei abgeführt wurde. "Den ganzen Abend, bis lange nach Mitternacht werden die Contest-Besucher aus den Ausgängen strömen, werden vor der Arena in Malmö Polizisten und Demonstrierende Katz und Maus spielen, werden junge Menschen mit sogenanntem Palästinensertuch an Kopf, Hals oder Handgelenk durch Seitenstraßen zur Arena zurückkommen, nur um wenige Minuten später wieder von einer Polizeikette zurückgedrängt zu werden. Am Ende wird die Polizei die Mannschaftswagen aus drei Nationen überall um die Arena platzieren. Damit, mit diesem eisernen Ring, ist auch der leiseste Anflug von gewaltsamem Protest, sofern man das überhaupt so nennen kann, verflogen."

Weitere Artikel: Antonia Munding wirft für Backstage Classical einen Blick darauf, wie Klassikorchester mit Menschen mit Handicaps umgehen. Walter Dobner staunt in der Presse über den kometenhaften Aufstieg des Dirgenten Klaus Mäkelä. Für Monopol spricht Thomas Abeltshauser mit Peaches, über die gerade ein (in der Jungle World besprochener) Porträtfilm im Kino läuft. Jakob Thaller porträtiert im Standard den österreichischen Rapper Money Boy, der vor ein paar Jahren als Ulk-Satireprojekt begonnen hat, nun aber tatsächlich ziemlich erfolgreich im Rap ist. Für die FAZ plaudert Christian Riethmüller mit Slash über dessen neues Solo-Album "Orgy of the Damned". In der FAZ gratuliert Max Nyffeler der Komponistin Judith Weir zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden das zweite Album von Die Partei in 40 Jahren (FAZ, mehr dazu bereits hier), ein Smetana-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (SZ), ein gemeinsames Album der Pianistin Hélène Grimaud und des Baritons Konstantin Krimmel mit Schumann- und Brahms-Aufnahmen (FAZ) sowie ein Kreisler-Abend mit Torsten Flassig und Yuriy Sych in Frankfurt (FR).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gijs Wilbrink über den Riot-Grrrl-Klassiker "Rebel Girl" von Bikini Kill:

Archiv: Musik
Stichwörter: Golan, Eden, Nemo, Esc

Literatur

Martina Läubli spricht für den NZZ mit der Literaturwissenschaftlerin Melanie Möller über den Übergriff der Moral auf die Literatur. In der NZZ versucht Paul Jandl dem Erfolg der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im nicht-deutschsprachigen Ausland auf den Grund zu gehen (mehr dazu bereits hier und dort). Die Zeit hat Carolin Würfels Gespräch mit dem Schriftsteller André Kubiczek online nachgereicht. Michael Wurmitzer plaudert für den Standard mit T.C. Boyle, der gerade einen neuen Storyband veröffentlicht hat. Nadine A. Brügger berichtet in der FAZ von den Solothurner Literaturtagen. Bernhard Schulz spaziert für den Tagesspiegel durch Kafkas Prag. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schriftsteller Adolf Muschg zum 90. Geburtstag. Außerdem gratuliert Platthaus der Schriftstellerin Eva Demski zum 80. Geburtstag. Der Standard bringt ein Gedicht von Clemens J. Setz.

Besprochen werden Miranda Julys "Auf allen vieren" (Standard) und Luca Mael Milschs Debüt "Sieben Sekunden Luft" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Arthur Rimbauds "Maibanner":

"an lichten Lindenzweigen
stirbt kränklich ein Halali
doch geistliche Gesänge hängen ..."
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Stichwörter: Muschg, Adolf

Film

Die Filmkritiker trauern um Roger Corman, der im gesegneten Alter von 98 Jahren (und bis zuletzt in seinem Beruf aktiv) den Hut genommen hat. Der Produzent hunderter, mitunter immens ertragreicher Low-Budget-Filme (den Begriff "B-Movies" lehnte er aus filmhistorischen Gründen ab) hat die Filmgeschichte vielleicht wie kein Zweiter geprägt: Er gab den wichtigsten Regisseuren von New Hollywood einst erste Jobs und damit Starthilfe, auch Peter Fonda und Jack Nicholson lernten bei ihm ihr Handwerk. "Jeder mittellose Kinoträumer, der für ein paar Dollar mit anpacken wollte", war ihm willkommen, schreibt Tobias Kniebe in der SZ. "Oft sah man das Handgemachte, Gummimaskierte, Amateurhafte. Manchmal aber auch genialisches Können. Wer am ersten Tag so fahrlässig war, gute Ideen zu äußern, schrieb am zweiten vielleicht schon das Drehbuch um und führte am dritten Tag Regie. So kamen Francis Ford Coppola, Peter Fonda, Jonathan Demme, Gale Anne Hurd, Dennis Hopper, Peter Bogdanovich, Curtis Hanson, John Sayles und Talia Shire - und gingen durch seine harte Schule."

Corman "begriff B-Movies als ästhetischen Freiraum", schreibt Ekkehard Knörer in der taz. "Wo nicht viel Geld im Spiel ist, ist mancherlei möglich. Die Prämisse war trotz Nudity, Gewalt und schneller Kicks gerade das Gegenteil der Verachtung von Kunst: Noch und gerade im Billigen, Schnellen, Schmutzigen kann man eigensinnigen Leuten Freiheiten lassen und falsche Rücksichten auf den guten Geschmack hinter sich." Ein hemdsärmeliger Draufgänger war er aber nicht, erinnert sich Daniel Kothenschulte in der FR: "Wer ihn traf, erlebte das denkbare Gegenstück vom Klischee eines Filmproduzenten. Corman war ein gebildeter Gentleman, der mit sanfter Stimme über die Farbgestaltung seiner selbst inszenierten Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen mit Vincent Price plaudern konnte. Mit seinem Verleih brachte er in den Siebzigern Werke von Fellini, Kurosawa oder Schlöndorffs 'Katharina Blum' in amerikanische Kinos." Weitere Nachrufe schreiben Bert Rebhandl (FAZ), Daniela Sannwald (Welt) und Pamela Jahn (NZZ).

Einen seiner letzten öffentlichen Auftritt hatte Corman, körperlich schon sichtlich gebrechlich, aber geistig noch hellwach, vor einem halben Jahr in einem Youtube-Video, für das er sich durch das Archiv des US-BluRay-Labels Criterion wühlt:



Außerdem: Sissy Rabl beschäftigt sich für die Presse mit der Kostümausstattung der Serie "Bridgerton", die eher auf Pomp als auf historische Authentizität Wert legt. Besprochen werden Oskar Roehlers "Bad Director" (taz, mehr dazu bereits hier) und Wes Balls' neuer "Planet der Affen"-Film (NZZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Corman, Roger

Kunst

Gebannt blickt Nicola Kuhn für den Tagesspiegel in der Berlinischen Galerie in die entstellten Gesichter der "Gueules Cassées" von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. So nannte man die von Sprengstoff zerfetzten Gesichter der Veteranen, von denen viele aus den damaligen französischen Kolonien stammten. Der französisch-algerische Künstler Kader Attia hat "ihnen dieses Denkmal gewidmet. Die erlittenen Verletzungen sind bei ihm noch frisch, die Verstümmelungen sichtbar. Nach Kriegsende sollte es noch dauern, bis sich die Medizin auch darum kümmerte. Die ästhetische Chirurgie profitierte von ihren Erfahrungen. Attias Konzept der 'Reparatur' aber besteht gerade nicht im Verbergen, sondern Erinnern an die geschlagenen Wunden. Geboren als Kind algerischer Einwanderer in Daubigny bei Paris und aufgewachsen in Frankreich wie Algerien hat er ein Gespür für den weiterhin pochenden Schmerz."

Till Briegleb entdeckt für die SZ das versteckte Highlight der Venedig-Biennale: Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hat die Fondazione Prada zu einem "bankrotten Pfandhaus" umgebaut, in dem sich "abertausende Exponate von Waffen bis zu Schmuddelheftchen, von ramponiertem Trödel bis zum echten Tizian" versammeln. Damit spielt er auf die Geschichte der Stiftung an, die von 1834 bis 1969 eine "Kreditanstalt für Arme" war, wie der Kritiker weiß: "Die versammelten Rückstände, die Büchel unter diesem Werktitel hier nun zu verramschen vorgibt, erzählen allerdings vordringlich vom Scheitern dieser Bemühung. Denn hätte der Tausch Pfand gegen Geld wirtschaftlichen Erfolg gebracht, wären die Einlagen wieder ausgelöst worden. Dass sie in den prächtigen Räumen mit ihren bemalten Decken und Wänden nun meist achtlos gestapelt herumliegen wie in einem Vorstadtflohmarkt (sogar das Tizian-Porträt der Königin von Zypern, die hier einst wohnte, hängt an einer vergilbten Supermarktverkleidung zwischen Kleiderbügeln, Eispickel und Trockenhaube) ist eine typisch ironische Spitze Büchels."

Weiteres: Wie einige seiner Kollegen steht Philipp Meier in der NZZ dem neuen "Code of Conduct" (unser Resümee), der für die nächste Documenta ausgerarbeitet wurde, kritisch gegenüber: "Mit diesem Manöver gaukelt die Documenta ein probates Instrument zur Verhinderung von Diskriminierung und Antisemitismus vor. Damit aber ist vor allem ein fauler Kompromiss mit jenen lautstarken Kritikern gefunden, die im Namen der sogenannten Kunstfreiheit Tausende von Unterschriften gegen klare und verbindliche Verpflichtungen gesammelt hatten." Im Tagesspiegel ist Dorothea Zwirner hin und weg vom neu eröffneten "Archiv der Avantgarden" (unser Resümee) in Dresden. Besprochen werden die Ausstellung "Gastarbeiter 2.0 - Arbeit Means Rad" in der nGbK Berlin (taz) und die Ausstellung "Die neue Generation kubanischer Fotograf:innen" im Willy-Brandt-Haus in Berlin (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Game on: Zauberflöte" am Theater Freiburg. Foto: Laura Nickel.

Viel Spaß hat SZ-Kritiker Egbert Tholl mit Marco Stormans ganz spezieller Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte" am Theater Freiburg. Der Clou: Oper als Computerspiel, das Publikum kann entscheiden, wie es weitergeht - auch musikalisch. Tholl erklärt, wie's funktioniert: "Auf der Bühne das Personal, hergerichtet wie Videospielfiguren, das Orchester vorn, oben, wundervoll im Klang. Das Material: Mozarts Musik aufgeteilt auf 25 Module, die je nach Publikumsentscheid zum Einsatz kommen. Da könnte die 'Rache-Arie' auch dreimal kommen, am Premierentag ist es ganz anders, das Publikum hat keine Lust auf Wasser- und Feuerprobe, ahnt aber nicht die Folgen: Die Königin der Nacht gewinnt, sie singt von den 'Strahlen der Sonne, Sarastros Welt geht unter, 'Rex tremendae' aus dem Requiem besiegelt dessen Schicksal." Auch nachtkritiker Jürgen Reuß lässt sich von den NPCs (Non-Player-Characters) Königin der Nacht und Monostatos amüsiert durch den Abend führen - trotz der großen organisatorischen Schwierigkeiten im Vorfeld der Premiere ist hier ein witziges, vielleicht etwas albernes, Event entstanden.

Weitere Artikel: Die Schauspielerin Ursina Lardi, die dieses Jahr den Alfred-Kerr-Darstellerpreis beim Berliner Theatertreffen vergibt, unterhält sich in der FAZ über die Herausforderungen ihres Berufes, falsche Schönheitsideale und erklärt, wie man einen Oktopus spielen kann. Im tagesspiegel teilen Matthias Pees, Leiter der Berliner Festspiele, Redakteur Rüdiger Schaper und die Schauspielerin Valery Tscheplanowa ihre Einschätzung zur Frage: Ist das Berliner Theatertreffen nach 71 Jahren noch zeitgemäß?

Jette Steckels Inszenierung von Tschechows Stück "Die Vaterlosen" an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik, BlZ), Claudia Rüll Calame-Rossets Inszenierung von Helgard Haugs Stück "All right. Good night" am Theater Lindenhof Melchingen (nachtkritik), Simon Solbergs Inszenierung seines Stücks "Archetopia" am Theater Bonn (nachtkritik), Henri Hüsters Adaption von Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop" am Theater Paderborn (nachtkritik), Kaija Saariahos Oper "Emilia", inszeniert von Immo Karaman am Staatstheater Mainz (FR), Leonie Böhns Inszenierung von "Räuberinnen" nach Friedrich Schiller am Gorki-Theater in Berlin (taz) und Laurence Dales Inszenierung des Händel-Pasticcios "Sarrasine" bei den Händel-Festspielen in Göttingen (FAZ).
Archiv: Bühne