Efeu - Die Kulturrundschau

Nischen rebellischer Freiheit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2024. FAZ und FR loben Tatjana Gürbacas Frankfurter Inszenierung von Fromental Halévys Oper "La Juive" in höchsten Tönen. Die CDU ruft zum Boykott einer Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück auf: Die taz kann da nur den Kopf schütteln. Die FAZ freut sich über eine geplante "Piazza auf dem Wasser" in Bordeaux. Der Freitag ist genervt von der Debatte um Jenny Erpenbeck. Zeit Online erinnert daran, wie der Film "Matrix" die Kinogeschichte umgekrempelt hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.06.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "La juive". Foto: Monika Rittershaus.

Was für eine Musik! FAZ-Kritiker Jan Brachmann findet alles gut an Tatjana Gürbacas Inszenierung von Fromental Halévys Oper "La Juive", die im Moment an der Oper Frankfurt zu sehen ist. Die 1835 uraufgeführte Oper gilt als die erste, die das Thema Antisemitismus auf die Bühne brachte - eine Zeit lang wurde sie sehr häufig gespielt, von 1936 bis heute dann fast gar nicht mehr, so Brachmann. Musikalisch ist das Ganze ein einziger Triumph, jubelt er, und hebt vor allem den von Tilman Michael geleiteten Chor hervor: "Er betet das katholische 'Te Deum', dass der Gesang selbst zum Gewölbe wird; er singt die jüdischen Pessach-Gebete in geheimnisvoller Zurücknahme, die nichts als verinnerlichte Unterdrückung ist; er raunt hinter den Solisten, die dadurch noch greller aufscheinen können; und er geifert, hetzt und bellt als christliche Bürgerschaft dem Juden Éléazar und dessen Ziehtochter Rachel hinterher wie Hunde bei der Fuchsjagd: die Stadt als Meute."

Auch Judith von Sternburg kann in der FR nur applaudieren. Toll auch, wie sich die beiden Hauptfiguren ergänzen: "Vater und Tochter sind ein gutes Team, vergnügt, zivil: Ambur Braid, Frankfurts Salome, ist eine der ausdrucksvollsten Sängerdarstellerinnen weit und breit, hochexpressiv auch ihr Sopran, dem die Finesse dabei nie abhandenkommt. John Osborn als Gast - und als Einziger im Solistenensemble schon rollenerfahren - steht ihr an natürlicher Lebhaftigkeit nicht nach. Als Tenor hat er unerschöpfliche Kraftreserven, ein fein abgedunkeltes Timbre bei mühelosen Höhen."

Weitere Artikel: Der bayerische Kulturstaatsminister Markus Blume hat nach langen Verhandlungen die Verträge von Serge Dorny als Intendant der Bayerischen Staatsoper und Vladimir Jurowski als Generalmusikdirektor verlängert (unser Resümee). Eine "richtige wie alternativlose" Entscheidung, findet Egberth Tholl in der SZ. Axel Brüggemann schreibt hingegen bei Backstage Classical, Blume habe sich hier "dilettantisch verzockt". Denn die Probleme der Belegschaft mit Dorny waren schon lange bekannt. Wäre er entlassen worden, "hätte sich Blume langfristig nach neuem Personal umschauen müssen. Zeit genug hatte er! Blume hat das schlichtweg verpennt."

Besprochen werden Michael Webers Inszenierung von Julien Greens "Der Feind" in der Naxoshalle Frankfurt (FR), Alexei Ratmanskys Choreografie "zu Strawinskys "Le Baiser de la Fée" an der Sinfonie in Amsterdam (FAZ) und Barrie Koskys Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" an der Wiener Staatsoper (SZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Entwurf für eine neue Brücke in Bordeaux. OMA Architecture.

Die Stadt Bordeaux investiert im Hinblick auf die olympischen Spiele in architektonische Großprojekte. Niklas Maak sieht in der FAZ unter diesen Modellen für die Zukunft mehr und weniger Gelungenes. Überzeugt ist er vom Brücken-Entwurf des "Office for Metropolitan Architecture" aus Rotterdam. Die Idee: "Die Brücke doppelt so breit zu machen, wie sie eigentlich sein müsste. Dadurch, dass die Planer die Brücke enorme 44 Meter breit bauen, wird sie zu etwas Neuem: zu einem öffentlichen Platz auf dem Fluss. Man hat dort jetzt Raum, um Wochen- und Jahrmärkte, Public Viewing oder Großkonzerte zu veranstalten. Die Brücke ist kein Verkehrsbau mehr, sondern eine Piazza auf dem Wasser, auf der man sich trifft und Zeit verbringt."
Archiv: Architektur

Literatur

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Michael Hametner ist im Freitag (allerdings mit nicht immer rundum bestechender Argumentation) genervt, dass Jenny Erpenbecks "Kairos" nach der Auszeichnung mit dem Booker Prize nun in Deutschland kritisch nachrezensiert und der Autorin vorgeworfen wird, die DDR zu verklären (mehr dazu hier und dort). Dabei "umfasst die Episode der Westreise zur Großmutter, von der Katharina mit Ekel zurückkehrt, wenige Seiten von insgesamt fast 400. Deshalb muss der Zeit-Rezensent sie nicht bei Karl-Eduard von Schnitzlers von Hass auf den Westen verblendetem 'Schwarzem Kanal' suchen. Eigentlich wäre über 'Kairos' als vom Roman einer fulminanten und zerstörerischen Liebe zu sprechen, an der zwei Menschen teilhaben, in die der Geist ihrer Generationen gefahren ist. Beim Gedanken, wie sehr Menschen Kind ihrer Zeit sind, kommt der Westen als Referenzebene gar nicht vor. Hans gehört in die Zeit vom Anfang der DDR, Katharina steht an ihrem Ende."

Die Schriftstellerin Arundhati Roy wird in Indien wegen einer Rede, die sie vor bald 14 Jahren auf einer Konferenz in Kaschmir gehalten hat, angeklagt, berichtet Martin Kämpchen in der FAZ: "Warum der alte Fall ausgerechnet jetzt wieder aufgewärmt wird, darüber spekuliert die indische Presse im Augenblick." In der taz bringt Natalie Mayroth weitere Hintergründe.

Besprochen werden unter anderem Franz Suess' Comic "Drei oder vier Bagatellen" (taz), Hugo Loetschers "So wenig Buchstaben und so viel Welt. Reise-Essays und Reportagen" (NZZ), Peter Webers "Der Wettermacher" (online nachgereicht von der Zeit), Olga Ravns "Meine Arbeit" (FAZ) und Anthony Passerons "Die Schlafenden" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Erpenbeck, Jenny

Musik

Das Kiewer Symphonieorchester, das die letzten Jahre teilweise unter ungünstigen Bedingungen in Gera untergebracht war, findet künftig in Monheim am Rhein Unterschlupf, berichtet Michael Ernst in der FAZ. Manuel Brug wirft für die Welt einen Blick auf die Folgen der MeToo-Vorwürfe an François Xavier Roth für den Klassikbetrieb. Jo Angerer informiert im Standard über den russischen Popstar Shaman, der sein Publikum für Putins Sache einpeitscht (mehr dazu zum Beispiel hier). Frederik Hanssen blickt für den Tagesspiegel ins kommende Saisonprogramm des Rundfunkchors Berlin.

Besprochen werden ein von Daniel Harding dirigiertes Konzert der BR-Symphonieorchester in Wien mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes (FR), ein von Lorenzo Viotti dirigiertes Konzert der Wiener Philharmoniker (Standard) und das Album von "Below the Waste" von Goat Girl (taz).
Archiv: Musik
Stichwörter: Symphonieorchester Kiew

Film

Szene aus "Matrix", 1999

Titus Blome blickt für Zeit Online auf den SF-Actionfilm "Matrix" der Wachowskis zurück, der vor 25 Jahren in die Kinos gekommmen ist, die Filmwelt ordentlich umgekrempelt und nebenei noch die Geschichte des Internets des letzten Vierteljahrhunderts vorhergesagt hat: Die techno-euphorischen Heilsversprechen, die in den späten Neunzigern mit dem Internet verknüpft waren, fühlen sich heute "naiv an. Unternehmen und Regierungen haben das Internet erschlossen und unter sich aufgeteilt, fast alle ursprünglich weißen Flecken auf der digitalen Karte sind eingefärbt, die Nischen rebellischer Freiheit geschrumpft. 'Matrix' sah diese Gefahr schon vor der Jahrtausendwende. In dem Film ist Technologie nicht nur Werkzeug der Revolution, sondern auch Mittel autoritärer Kontrolle. Mit der Matrix versetzen die Maschinen die gesamte Menschheit in einen passiven Zustand, überwachen sie und ernten ihre Energie. Wäre der Film nicht 25 Jahre alt, wäre er wohl eine arg platte Metapher für das datenhungrige Geschäftsmodell heutiger Plattformunternehmen."

Besprochen werden die zweite Staffel von "House of the Dragon" (online nachgereicht von der Welt, Presse) und Olmo Cerris in der Schweiz startender Dokumentarfilm über den Schweizer Terroristen Bruno Bréguet (NZZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Science Fiction Film, 90er

Kunst

Sophia Süßmilch: "Then I'll huff and puff and I'll blow your house in." 2024. Courtesy of Sophia Süßmilch. Foto: Lee Everett Thieler.

Es gibt Zoff um eine Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück, die sich mit dem Thema Erziehung und Kindsein beschäfigt, berichtet kopfschüttelnd Harff-Peter Schönherr in der taz. Der CDU-Kreisverband und Fraktion riefen nach einem Besuch der Ausstellung "Kinder, hört mal alle her" zum Boykott auf. Es sei inakzeptabel "dass unter dem Deckmantel der Kunst derartige groteske und verstörende Darstellungen öffentlich gezeigt werden", zitiert Schönherr das Statement. Besonder erzürnt hat die Politiker wohl eine Performance der Künstlerin Sophia Süßmilch in der ehemaligen Dominikanerkirche, die "auf kannibalische Szenografien einer Hexenversammlung zurückgreift". Zur Schau gehören außerdem, so der Kritiker "'Kannibalistische Choräle', in denen böse und komisch von 'Säuglings-Sauerbraten' und 'Steak aus Stiefkind' die Rede ist. Auch kann, wer ein Fernglas zur Hand nimmt, in 20 Metern Höhe Meerschweinchenrezepte lesen. Riesige Rattenschwänze hängen von der Decke, zudem das 'Guinea Pig of Death' zum Anbeten. Auf schwarzen Stoffbahnen liegen Kugelobjekte, wie aus Haut genäht. Ein paar Püppchen wirken creepy. Aber schockierend? Eher nicht."

Weiteres: In der FAZ informiert Hubertus Beutin über den jünsten Stand bei der Sammlung Bührle (mehr bei der NZZ). Nicola Kuhn meldet im Tagesspiegel, dass das Brücke-Museum in Berlin den Preis "Museum des Jahres 2023" der deutschen Sektion des Kritikerverbands Aica bekommt. Besprochen werden die Ausstellung "Poesie der Zeit" in der Akademie der Künste Berlin (taz) und die Ausstellung "Sarah Lucas. Sense of Human" in der Kunsthalle Mannheim (taz) und die Andy-Warhol-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie (SZ).
Archiv: Kunst