Efeu - Die Kulturrundschau

Dahin, wo alles herkommt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.06.2024. Die Feuilletons verabschieden sich vom Schriftsteller John Burnside: Die FAZ ist bewegt von der "berührenden Zartheit und verstörenden Intensität" seines Werks. Die NZZ taucht ab in die Abgründe seines Schaffens. Die FAZ geht außerdem im Franz-Marc-Museum auf Seelenwanderung. Die SZ fühlt den Schmerz der Welt in Isabel Ostermanns Inszenierung von "Searching for Zenobia" bei der Musiktheaterbiennale in München.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2024 finden Sie hier

Bühne

Milda Tubelytė in "Searching for Zenobia. Foto © Judith Buss

Den "Schmerz der Welt" fühlt SZ-Kritiker Egbert Tholl in Lucia Ronchettis Musiktheaterstück "Searching for Zenobia". Die Archäologin Zeina, die in der syrischen Wüste nach Spuren der Herrscherin Zenobia sucht, flieht mit ihrer Tochter, als der Krieg die Stadt verwüstet. Leider geht dem subtilen und klugen Stück in der Inszenierung von Isabel Ostermann bei der Musikbiennale München ein bisschen was verloren, bedauert Tholl, auch die Akustik in der Münchner Muffathalle ist nicht ideal. Trotzdem ist er fasziniert, wenn sich "Zenobia zu Wort meldet, die Mezzosopranistin Milda Tubelytė. Trotzig beharrt die Königin darauf, ihren Thron gegen die Römer zu verteidigen, legt Beinschiene und Brustpanzer an, die Rüstung holt sie aus dem Sand hervor wie archäologische Fundstücke. Beide Frauen haben an diesem Abend viel zu erzählen, hochvirtuos, arios die eine, ebenfalls voller Emotion die andere. Irgendwann treten sie in einen echten Dialog miteinander, das eine Leben spiegelt sich im anderen, Zeina flieht über das Meer, über das Zenobia verschleppt wurde, und die fantastische Sängerin Mais Harb faltet ein Schiffchen aus Papier."

Weitere Artikel: In der Welt schreibt Reinhard Wengiereck einen Nachruf auf den Regisseur und Schauspieler Alexander Lang. Taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller verschafft sich bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin einen Überblick über den aktuellen Zustand der Deutschen Dramatik und bespricht Texte von Amir Gudarzi, Akın Emanuel Şipal, Guido Wertheimer, Fatma Aydemir und Lukas Rietzschel.

Besprochen werden der musikalische Theaterabend "Ciao. Ein Bandprojekt" von unter anderem Emre Aksızoğlu und Knut Berger am Gorki-Theater Berlin (nachtkritik), Malte Kreutzfeldts Inszenierung von George Taboris Stück "Die Goldberg-Variationen" am Theater Chemnitz (nachtkritik), Lies Pauwels Adaption von Hermann Hesses "Steppenwolf" am Theater Basel (nachtkritik, NZZ), Pia Richters Inszenierung von Shakespeares "Die Zähmung der Widerspenstigen" am Staatstheater Kassel (nachtkritik), Elsa-Sophie Jachs Inszenierung ihrer Büchner-Kombination "Leonce und Lena und Lenz" am Theater Münster (nachtkritik), Anne Lenks Inszenierung von Lessings "Emilia Galotti" am Thalia Theater Hamburg (nachtkritik), Thomas Lufts Inszenierung von Robert Thomas' Stück "Acht Frauen" bei den Bad Vilbeler Burgfestspielen (FR), Viola Scagliones vierteiliger Tanzabend "Play_Bach" am Gallus Theater in Frankfurt (FR) und, in einer Doppelbesprechung, Milo Raus "Medeas Kinder" und Christiane Jatahys Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" bei den Wiener Festwochen (SZ).
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Musik

Soll man Gigi d'Agostinos Song "L'Amour toujours" verbieten, nachdem er erst im dumpfen Kirmes-Morast zu einem rassistischen Hetzsong eingedeutscht und dann in dieser Variante via TikTok schließlich von den Idioten von Sylt medienwirksam aufgegriffen wurde? Helmut Mauró hat in der SZ erhebliche Zweifel: "Dann haftet also der Songschreiber für die feindliche Übernahme seines Produkts. In Zeiten reflexartiger Moralapostelei kann das schnell fatale Folgen haben. Zum materiellen Schaden kommt ein kaum abschätzbarer Imageverlust, möglicherweise verbunden mit Absagen von Konzertveranstaltern. Für die Politik ist es kostengünstig und öffentlichkeitswirksam, ein Verbot auszusprechen. Das wirkt entschlossen und suggeriert eine Problemlösung - die aber auch in diesem Fall nichts bewirkt", wie im Fall des Oktoberfests: "Wird man denn dann einen Schritt weitergehen, und wie bei Geisterspielen in Fußballstadien, betroffene Bierzelte räumen lassen auf der Wiesn?"

Weiteres: Gerald Felber berichtet in der FAZ vom Musikfest Prager Frühling. Besprochen werden eine Disney-Doku über die Beach Boys (NZZ) das Konzert von Metallica im österreichischen Ebreichsdorf (Presse, Standard), Olivia Rodrigos Berliner Auftritt (BLZ) und Jlins "Akoma" (FR).
Archiv: Musik
Stichwörter: D'agostino, Gigi, Sylt

Literatur

John Burnside (2012). Foto: Lesekreis, unter CC-Lizenz
Der schottische Schriftsteller John Burnside ist tot. Er war "eine der bedeutendsten Stimmen der europäischen Literatur der Gegenwart, faszinierend in ihrer einzigartigen Mischung aus Introspektion und Obsession, hin- und hertaumelnd zwischen der Gewalt der Metaphysik und der Metaphysik der Gewalt", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ: "Was Burnside schrieb, war von berührender Zartheit und verstörender Intensität." Er "umkreiste in seinem literarischen Werk häufig die Widersprüche der menschlichen Natur, die ihm dazu verdammt schien zu verletzen, was sie liebt, und zu zerstören, was sie braucht, die eigene Existenz ausdrücklich eingeschlossen. Die Frage Georg Büchners, was es sei, das in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet, war auch die Frage John Burnsides." So "wurde er ein Wanderer durch die Wildnis des Herzens".

Auch SZ-Kritiker Alexander Menden hält Rückschau auf ein Schaffen in Dunkelheit: "Das Ringen mit dem Ererbten, darunter die Unfähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, steht im Kern der Existenz jener leidenden Menschen, die seine Werke bevölkern. Noch in seinem späten Roman 'Über Liebe und Magie' kam Burnside auf seine frühe Drogensucht und Aufenthalte in der Psychiatrie zurück." Ganz bei sich war Burnside "allein in der Natur", schreibt Roman Bucheli in der NZZ. "Sei es im Gedicht, wo er das Wunder der Schöpfung mit dem Zauber der Sprache noch einmal erschuf, oder sei es, wenn er im Garten saß und ins Weite sah: dahin, wo alles herkommt und wohin alles zurückkehrt."

Weitere Artikel: Leonie Gubela spricht für die taz mit dem Biografen Hans-Gerd Koch über Kafka, der heute vor 100 Jahren gestorben ist (mehr zum Todestag bereits hier). Die Welt kürt die besten Sachbücher des Monats. Auf Platz 1: "Die Tyrannei der Minderheit" von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt.

Besprochen werden unter anderem Don Winslows "City in Ruins" (vom TA für die SZ online nachgereicht), Andrzej Bobkowskis "Hinter dem Wendekreis" (Standard), Alhierd Bacharevičs "Europas Hunde" (Standard), Wolfgang Koelbls "Detroit - Amerikas Niederlage" (online nachgereicht von der FAZ), Richard Cocketts "Vienna" (Standard) und neue Krimis, darunter Ashley Kalagian Blunts "Die Dahlien-Morde" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Peter-André Alt über "In der abendlichen Sonne" von Franz Kafka.

"In der abendlichen Sonne
sitzen wir gebeugten Rückens ..."
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Film

Ruth Maria Kubitschek (2011). Foto: Udo Grimberg, unter CC-Lizenz
Auch die Schauspielerin Ruth Maria Kubitschek ist gestorben. In der SZ erinnert sich Philipp Bovermann wärmstens an ihre bekanntesten Fernsehrollen. Vor allem eine Szene aus "Kir Royal" ist ihm im Gedächtnis geblieben, in der Verlegerin Friederike von Unruh (Kubitschek) vor ihrem Klatschreporter auf einen Tisch steigt: "Sie möchte einen Krampfaderndoktor aus dem Schussfeld ihres Reporters und dessen Schmuddelgeschichten bringen. Das seien doch tadellose Beine, sagt sie, und stellt eins davon schräg. Aber möglich sei das nur dank der Hilfe des Herrn Doktors. Sie fährt mit einem Finger ihr Bein von der Wade an aufwärts und erklärt, sachlich und staubtrocken, wie er das gemacht habe. 'Ader verödet, kleinen Schnitt hier, kleinen Schnitt da, kleinen Schnitt im Schritt - na ja, das können Sie jetzt nicht so gut sehen.' Dann schlägt Friederike von Unruh den Stoff ihres Rocks wieder zurück und blickt auf den Reporter herab, dem sie das vom Tisch geräumte Blumenbouquet in die Hand gedrückt hat. Noch Fragen?" Weitere Nachrufe schreiben Manuel Brug (Welt) und Andreas Kilb (FAZ).

Außerdem: In der SZ erinnert sich der Regisseur Jan Bonny an seine Gymnasialzeit in Düsseldorf. Silvia Hallensbleben schreibt in der taz zum Tod von Thomas Heise (weitere Nachrufe hier und dort).

Besprochen werden Todd Haynes' "May December" (Jungle World, unsere Kritik), Michael Fetter Nathanskys Beziehungsdrama "Alle die Du bist" (taz) und die Netflix-Serie "Eric" mit Bendict Cumberbatch (FAZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Kubitschek, Ruth Maria

Kunst

Hilma af Klint, No. 131, 9 December 1916, The Hilma af Klint Foundation and Wassily Kandinsky, No. 24, 1916, Franz Marc Museum, Stiftung Etta und Otto Stangl

"Frische, überraschende Sichtweisen auf den Expressionismus" werden FAZ-Kritikerin Britta Sachs in einer Schau im Franz-Marc-Museum in Kochel am See geboten. Zu ihrem Abschied lud die Direktorin Cathrin Klingsöhr-Leroy drei Kuratorinnen ein, so Sachs, die einen eigenen Fokus auf Marcs Werk und das seiner Zeitgenossen entwickeln: "In einem kleinen Kabinett geht es um die Seele; hier bekommt Marcs Bruder im Geiste, Wassily Kandinsky, seinen Auftritt. Wie er hegte auch Hilma af Klint die Überzeugung, dass ungegenständliche Malerei die Möglichkeit birgt, die Seele in Bewegung zu setzen. Eine Aquarellserie der esoterischen Schwedin, auf der, fast biologistisch erscheinend, eine Winzform wie befruchtend in eine größere eindringt, stellt die Kunsthistorikerin und af-Klint-Biographin Julia Voss neben 'Improvisationen' Kandinskys, wo rundliche Farbformen mit Linien in unbestimmtem Raum schweben. Verstärkung bekommen die beiden durch ihre Zeitgenossin Wilhelmine Assmann. Das ehemalige Dienstmädchen, das seinen kleinen Sohn verloren hatte, zeichnete in Trance wuchernde Gebilde, überzeugt, dass das Kind ihr dabei die Hand führte."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Herkunft, Familienleben" im Museum für Photographie Braunschweig (taz).
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