Efeu - Die Kulturrundschau

Das könnte empören

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18.01.2024. "Strike Germany" unterstützen, aber ihre Romane dürfen gern weiter von deutschen Bühnen adaptiert werden - was ist bloß in Annie Ernaux gefahren, fragen sich die Feuilletons: Hat sie überhaupt begriffen, was sie da unterschrieben hat, möchte die Zeit wissen. Die Welt fragt sich derweil, ob die Sensation und die moralische Empörung, die die Correctiv-Recherche auf der Bühne des Berliner Ensembles auslöst, der Sache wirklich dienlich ist. In Paris erlebt sie noch einmal, wie Mike Kelley den amerikanischen Katholizismus aufmischte. Jenseits von Venedig macht Roman Polanskis "The Palace" richtig Spaß, versichert die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.01.2024 finden Sie hier

Literatur

Darauf, dass Annie Ernaux den Aufruf "Strike Germany" unterstützt, der fordert, staatliche deutsche Kultureinrichtungen zu boykottieren, weil die Bundesrepublik in Sachen Palästina-Solidarität sich zu wenig hervortue, hatte Claudius Seidl schon vor ein paar Tagen in der FAZ hingewiesen (unser Resümee). Nun ziehen auch die übrigen Feuilletons nach: Laut Suhrkamp hat die Literaturnobelpreisträgerin allerdings auch weiterhin nichts dagegen, wenn ihre Bücher etwa durch Theateradaptionen mittels staatlicher Förderungen unterstützt werden, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "Konsequent ist das nicht. ... Oder unterscheidet Ernaux sehr genau, welche Theater und Verlage öffentlich finanziert werden und welche nicht? Eher nicht, muss man vermuten. Ihr scheint es mehr um die Idee eines Boykotts zu gehen, um eine bloße Solidaritätsadresse. Vielleicht ist es trotz ihrer politischen Einstellung auch einfach eine gewisse Nonchalance, mit der Annie Ernaux auf Boykott-Anfragen reagiert. Sie sagt zu, danach schert sie sich nicht weiter drum. Nur gut, dass ihre Bücher umso vieles stringenter sind."

Judith von Sternburg weist in der FR auf die verbale Drastik des Aufrufs hin, der vom Hamas-Angriff am 7. Oktober zwar nicht spricht, aber sich ein Ausmerzungsszenario für Palästina-Solidarität in Deutschland und einen auch von den hiesigen Medien angeblich getragenen und vorangetriebenen "Neofaschismus" herbeifantasiert. Dass Ernaux sich diese Drastik per Unterschrift zu eigen macht, findet Iris Radisch in der Zeit sehr enttäuschend: "Diesen hetzerischen Sprachgebrauch sind wir, Pardon, liebe Annie Ernaux, eher von Putin gewohnt, wenn er über die Ukraine spricht. Oder von Pegida, wenn die deutsche Presse verleumdet werden soll." Und "niemand in Ernaux' schönem Heimatland hat sich bisher an ihrem Aufruf zum Boykott deutscher Kulturinstitutionen gestört. Warum interessiert Paris sich nicht dafür, dass die französische Literaturnobelpreisträgerin die deutsche Loyalität zu Israel zum Anlass nimmt, das Nachbarland als neofaschistisch zu diffamieren?"

Nicht nur Claudia Roth blickt derzeit mit etwas Sorge auf die Frankfurter Buchmesse im Oktober, die Italien als Gastland willkommen heißt, wo allerdings derzeit bekanntlich eine krypto-faschistische Regierung das Sagen hat, die den Auftritt für eigene Zwecke nutzen könnte, fürchtet Marc Beise in der SZ. Deshalb habe sich Roth "nach ihrer Rom-Reise vorgenommen, die weitere Planung für die Buchmesse auf Wiedervorlage zu halten. Buchmesse-Chef Juergen Boos dagegen ist ganz entspannt und weist auf die gewachsene Autonomie seiner Messe und des sie tragenden Literaturbetriebs hin. Das italienische Programm machen die Buchmesse, die deutschen Verlage mit ihren italienischen Autoren und die italienischen Verlage, die mehrheitlich eher links stehen."

Weiteres: Willi Winkler ist in der SZ ziemlich genervt vom Gute-Laune-Modus, in dem das Goethe-Institut per Pressemitteilung das Kafka-Jahr 2024 annonciert und darin davon schwärmt, dass man mit ganz neuen crossmedialen Konzepten Kafka jetzt aber mal so richtig durchsetzen werde. Besprochen werden unter anderem Jean Amérys Essayband "Der neue Antisemitismus" (FR), Nathan Hills "Wellness" (Zeit), Barbi Markovićs "Minihorror" (FAZ) sowie Navid Kermanis und Natan Sznaiders Mailwechsel "Israel" (NZZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Szene aus "Geheimplan gegen Deutschland". Foto: Kolja Zinngrebe

Gestern Abend brachte Correctiv seine AfD-Recherche inszeniert von Kay Voges unter dem Titel "Geheimplan gegen Deutschland" auf die Bühne des Berliner Ensembles, die nachtkritik übertrug per Livestream. In der Welt ist Jakob Hayner befremdet: Zu viel Sensation auf der Bühne, zu viel moralisches Wohlgefühl im Publikum - so wird man der Rechten nicht Herr, meint er. Zumindest gab es noch ein paar Neuigkeiten: "Da brüstet sich die Bühnenfigur Mario Müller, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des AfD-Abgeordneten Jan Wenzel Schmidt im Bundestag, einen Schlägertrupp auf einen Aussteiger aus der linken Szene angesetzt zu haben. Der soll danach der wichtige Kronzeuge in dem Antifa-Ost-Prozess um Lina E. geworden sein. Müller (wieder die Bühnenfigur, der reale Müller dementiert) hält einen Vortrag, wie man Exekutive und Judikative zusammendenken, ja fusionieren kann: 'Historisch gibt es dafür ein Beispiel: die Gestapo.' Müller will das fürs digitale Zeitalter optimieren: mit einer Plattform, auf Daten von Linken veröffentlicht werden, um sie der Verfolgung auszusetzen. Mit einem Kollegen habe Müller bereits eine solche Plattform gegründet."

Julian Warner
, seit 2013 Leiter des Brechtfestivals in Augsburg, hatte 2020 einen offenen Brief unterzeichnet, der den BDS-Beschluss des Bundestages kritisiert. Ein Lokaljournalist der Augsburger Zeitung hatte Warner in einer Polemik gegen das Festival auf die Unterschrift bezogen Antisemitismus vorgeworfen und die städtische Kulturpolitik dafür kritisiert, Warner überhaupt verpflichtet zu haben, schreibt Ulrich Seidler in der FR, der in dem Vorfall erkennen will, welche "hetzerischen Blüten" der BDS-Beschluss inzwischen treibe: "Es reicht auch nicht, dass Warner sein Mitgefühl und seine Solidarität bekennt: für 'Jüdinnen und Juden, hier, in Israel und weltweit, die tagtäglich mit Antisemitismus konfrontiert sind und durch den verbrecherischen Angriff der Hamas um Leib und Leben fürchten'. Ein weiteres Statement muss her, in dem er sich schließlich von seiner Unterschrift distanziert. Ihm sei nach der Documenta 15 und dem 7. Oktober klar geworden, dass die 'Initiative Weltoffenheit' und der Unterstützerbrief eher zu einer Normalisierung von israelbezogenem Antisemitismus beigetragen hätten. Das Argument ist schwach. Schlecht ist, dass Warners Statement unter politischem Druck zustande kam und jetzt als neuer Standard in der Diskussion gilt. Der Antisemitismusvorwurf sitzt immer lockerer."

Reiner Wandler (taz) berichtet von der Zensur in der spanischen Kultur im Zuge des Rechtsrucks. Seit den Regionalwahlen im vergangenen Mai sind in verschiedenen Kommunen und Regionen die rechte PP oder die Vox-Partei an der Macht: "Mancherorts nimmt die Zensurwut skurrile Züge an. In einem Dorf in Nordspanien traf es den Zeichentrickfilm 'Lightyear' aus dem Hause Walt Disney, weil sich darin zwei Frauen küssen. Und in einem Ort unweit von Madrid wurde das Theaterstück 'Orlando' von Virginia Woolf abgesetzt. Doch nicht nur politische Bedenken gegen alles, was nicht heteronormativ zu sein scheint, führen zur Zensur, sondern Moral und Anstand ganz allgemein. In Toledo wurde eine Theatergruppe ausgeladen, weil in einer Szene mehrere Schauspieler in Unterhosen auftreten. 'Das könnte empören', heißt es aus der Stadtverwaltung. Wohlgemerkt, die Schauspieler tragen nicht etwa sexy Boxershorts oder gar Tangaschlüpfer, nein, es sind weiße Riesen wie aus Opas Kleiderschrank."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung schreibt Ulrich Seidler den Nachruf auf den Volksbühnenschauspieler Ulrich Voß, in der Zeit erinnert Peter Kümmel an die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar.

Besprochen werden das Tanztheaterstück "I need a hero" des inklusiven Netzwerks "Making a difference" im Berliner Podewil (taz) und das Stück "Corps extrêmes" des französischen Choreografen Rachid Ouramdaneim im Haus der Berliner Festspiele (SZ, Tsp).
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Kunst

Zwölf Jahre nach seinem Freitod würdigt eine große Retrospektive das Werk des amerikanischen Künstlers Mike Kelley. Derzeit zu sehen in der Pariser Pinault Collection, danach in Düsseldorf, London und Stockholm gibt die Ausstellung die Möglichkeit, das Grenzsprengende in Kelleys Kunst zu entdecken, die stets Verdrängtes ans Tageslicht holte, versichert Martina Meister in der Welt: "Kelley, als fünftes Kind einer streng katholischen Unterschichtsfamilie erzogen, wird sich in den vierzig Jahren seines Schaffens an Amerika abarbeiten, am amerikanischen Traum vom Eigenheim, an der weitläufigen Spießigkeit der US-Gesellschaft, am Katholizismus, an der Erziehung zum guten Katholiken und guten Kapitalisten, an den verdrängten Traumata des Kollektivs, an den von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechterrollen. Jahre später widmete er sich den damals typisch weiblichen Tätigkeiten, dem Stricken, Nähen und Häkeln. Aus selbstgemachten, im Sperrmüll oder in Secondhandläden gefundenen Plüschtieren schuf er Altäre oder Flickenteppiche falsch verstandener Zärtlichkeit wie das Mammutwerk 'More love hours than can ever be repaid'. Es kann als eine Anspielung auf Jackson Pollocks 'drip paintings' gelesen werden, deren chaotische Dichte Kelley in Wolle und Plüsch übersetze, um die weiblichen Transferleistungen innerhalb der Familie infrage zu stellen."

Camille Pissarro: "Rue Saint-Honoré, dans l'après-midi. Effet de pluie"

Mehr als zwanzig Jahre zog sich der Restitutionsprozess um Camille Pissarros Gemälde "Rue Saint-Honoré Après-midi, Effet de Pluie" mit einem Schätzwert von 20 Millionen Euro hin, verkauft hatte es Lilly Cassirer, um dem Konzentrationslager zu entgehen, Eigentümer bleibt nach dem jüngsten Urteil eines Bundesberufungsgerichts in Kalifornien der spanische Staat, berichtet Hans-Christian Rössler in der FAZ: "Das Thyssen-Museum feierte den Gerichtsbeschluss als 'gute Nachricht', die zu mehr Rechtssicherheit beitrage. Doch Pissarros 'Regennachmittag' ist nicht irgendein Gemälde, es hat eine traumatische Geschichte. Der Streit zeigt, wie unsensibel Spanien, wo seit 2018 die Linke regiert, mit Kunstwerken umgeht, die Holocaust-Überlebenden gehörten - Lilly Cassirer musste das Bild auf ihrer Flucht für 900 Reichsmark verkaufen." Aber: "Weder die Erben noch die Madrider Kanzlei wollen die Entscheidung der Kammer in Pasadena allerdings tatenlos hinnehmen. … Die Cassirers wollen damit auch 'Spaniens anhaltendes Beharren auf der Beherbergung von Nazi-Raubkunst anfechten'."
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Musik

Udo Badelt freut sich im Tagesspiegel auf das aus dem Vollen des Berliner Konzertbetriebs schöpfende Programm des Kissinger Sommers. Wenn Till Lindemann sich in seinem neuen Video als Vergewaltiger inszeniert, dann wirkt er auf NZZ-Kritiker Ueli Bernays "nurmehr wie ein Trotzkopf". Ljubiša Tošić bringt im Standard alles, was man wissen muss über Arnold Schönberg, der in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Sleater-Kinneys neues Album "Little Rope" (Tsp) und Danny Browns Album "Quaranta" (es gelingt der "Spagat zwischen Tradition und Innovation, zwischen Humor und Ernsthaftigkeit", schreibt Victor Efevberha in der taz). Hier das aktuelle Video:

Archiv: Musik
Stichwörter: Schönberg, Arnold

Film

Unzeitgemäß, aber in seiner Mechanik komisch: "The Palace" von Roman Polanski

In der SZ verteidigt Fritz Göttler Roman Polanskis neue, nicht nur beim Filmfestival Venedig, sondern jetzt auch zum Kinostart ziemlich verrissene und allem Vernehmen nach ziemlich derbe Satire "The Palace". Ohne den Druck eines Festivals im Rücken jedoch "kann man den Film gelassener sehen, sogar Spaß an ihm haben", meint er. "Das Lachen bleibt einem oft im Hals stecken, so absurd und klamottig, derb und zotig ist das alles - so wie das Kino einst angefangen hatte, bevor Chaplin, Laurel & Hardy und Keaton dem Slapstick Eleganz verpassten. ... Gnade aber verlangt der Film gar nicht, nur die Bereitschaft, sich auf die schöne Mechanik des Komischen einzulassen. Vielleicht ist das der simple Affront, auf den Polanski aus war: einen Film abzuliefern, der - keine sogenannte ehrenwerte Abschiedsvorstellung - alle Festivalstandards ignoriert." Karsten Essen vom Filmdienst indessen hält den Film "angesichts der Unmenge an Unzeitgemäßem sowie vieler handwerklicher Fehler" für "schlicht aus der Zeit gefallen". Perlentaucher Michael Kienzl hingegen findet: "So schlecht ist der Film nun auch nicht. Im Vergleich zu Ruben Östlunds thematisch ähnlich gelagerter Reichensatire 'Triangle of Sadness' kann man Polanski seine klassizistische Genügsamkeit zugute halten." Allerdings wirke Polanskis Schabernack "ein bisschen zu steif, gediegen und angestaubt, um das Potenzial wirklich auskosten zu können".

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek unterhält sich für die Welt mit der Schauspielerin Hannah Herzsprung. In Hollywood halten Stars bei Preisverleihung immer häufiger die Hand vor den Mund, bemerkt Silke Wichert in der NZZ. David Steinitz amüsiert sich in der SZ (online nachgetragen vom Tages-Anzeiger) darüber, dass die Serie "Better Call Saul" es mittlerweile zwar auf 53 Emmy-Nominierungen gebracht hat - aber noch nie auch nur einen einzigen Emmy gewonnen hat. Eva Dinnewitzer erklärt in der Presse, warum sich derzeit alle nach dem muskelgestählten Körper von Jeremy Allen White umdrehen. Der unter anderem für die beiden Meta-Medien-Komödien "Piratensender Powerplay" und "Die Einsteiger" (beide mit Thomas Gottschalk und Mike Krüger) bekannte Regisseur Siegfried Rothemund ist tot, melden die Agenturen. Im Dlf Kultur erinnert Ulrich Mannes von der (nach Rothemunds Pseudonym benannten) Filmzeitschrift SigiGötz-Entertainment an den Filmemacher.

Besprochen werden Yorgos Lanthimos' "Poor Things" (Perlentaucher, FR, FAS, Standard, mehr dazu hier), Behrooz Karamizades "Leere Netze" ("ein eindrucksvoller Film über die Perspektivlosigkeit" im "Leben junger Erwachsener im Iran", schreibt Fabian Tietke in der taz), die DVD-Ausgabe von Erblin Nushis "I Love You More" ("den Namen Erblin Nushi muss man sich merken", versichert Ekkehard Knörer in der taz), Will Glucks Hochzeitskomödie "Wo die Lüge hinfällt" (FR), die ARD-Serie "Oderbruch" (taz) und die auf Disney gezeigten Serie "The Artful Dodger" (FAZ) und "Cristóbal Balenciaga" (Presse). Außerdem informiert das SZ-Team, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Der Filmdienst bietet hier seinen Überblick über alle aktuellen Filmstarts mit Filmkritiken.
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