9punkt - Die Debattenrundschau

Aus dem Quell dieser romantischen Revolte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2024. Während der UN-Sicherheitsrat sich zur Schweigeminute für den "Schlächter von Teheran" erhebt, beantragt der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Wir verlinken zu ersten Stellungnahmen. Im RBB warnt Salman Rushdie die an den Unis protestierenden Studenten vor einem Abgleiten in den Antisemitismus. FAZ und Welt feiern 75 Jahre Grundgesetz. In der Welt wettert der österreichische Autor Richard Schuberth gegen eine Linke, die ihre Wurzeln in der Aufklärung längst gekappt hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.05.2024 finden Sie hier

Politik

Ebrahim Raisi, Präsident der Islamischen Republik, und sein Außenminister Abdollahian sind bei einem Hubschrauberunfall ums Leben gekommen. Internationale Sabotage wird eher ausgeschlossen. Raisi galt als Gefolgsmann und möglicher Nachfolger des Religionsführers Ali Khamenei und verkörperte die Tendenz des iranischen Regimes, die Machtelite auf immer weniger und immer finsterere Figuren zu beschränken, sagt der Marburger Politologe Tareq Sydiq im Gespräch mit Jannis Hagmann von der taz: "Im Iran hat man die letzten Jahre immer mehr darauf gesetzt, mit weniger Personal innerhalb der Eliten zu operieren, man hat weniger Personen aufsteigen lassen. Denn je weniger Personen im inneren Kreis, desto geringer ist das Risiko, dass es zu Konflikten innerhalb des inneren Zirkels kommt. Raisis Tod zeigt, was für Risiken mit dieser Strategie verbunden sind."

Raisi war der "Schlächter von Teheran" erinnert Daniela Sepehri ebenfalls in der taz. In den Achtzigern verhängte er Tausende von Todesurteile gegen Regimegegner, oft Kommunisten, auch bei der brutalen Niederschlagung der jüngsten Proteste war er eine wichtige Kraft. Leider wird sich mit seinem Tod und dem Tod des Außenministers nichts verbessen, so Sepehri: "Die Bevölkerung weiß, dass beide bloß Marionetten von Khamenei und der Revolutionsgarde waren. Es werden andere Marionetten an ihre Stelle treten. Verbesserung kann es nur durch den Sturz der Islamischen Republik geben."

Das hinderte den UN-Sicherheitsrat nicht daran, eine Schweigeminute abzuhalten:


Derweil meldet Spon, dass die inhaftierte Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi erneut angeklagt werden soll, diesmal weil sie "fälschlicherweise sexuellen Missbrauch von Frauen in iranischen Gefängnissen angeprangert habe, schrieb die 52-Jährige in einem bekannt gewordenen Brief aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran. Sie forderte die iranische Justiz auf, 'diesen Prozess öffentlich zu machen und die Teilnahme von unabhängigen Medien und Menschenrechtlern zu erlauben'."

Salman Rushdie hat sich selten direkt zum Nahostkonflikt geäußert, um so aufsehenerregender darum sein klares Statement im Interview mit Nadine Kreuzahler vom RBB: "Ich war die meiste Zeit meines Lebens für einen eigenen palästinensischen Staat. Seit den 1980ern schon. Aber wenn es jetzt einen palästinensischen Staat gäbe, würde er von der Hamas geführt und wir hätten einen Taliban-ähnlichen Staat. Einen Satellitenstaat des Iran. Ist es das, was die progressiven Bewegungen der westlichen Linken erschaffen möchte? Es gibt dazu nicht gerade viele tiefe Gedanken, sondern vor allem eine emotionale Reaktion auf die Toten in Gaza. Das ist ok. Aber wenn es in Antisemitismus abgleitet und manchmal sogar in Unterstützung für die Hamas, dann wird es problematisch."

Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), hat Haftbefehle gegen die Hamas-Führer Jihia al-Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyeh beantragt, aber auch gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galant. Im Interview mit Zeit online erklärt der Völkerrechtler Kai Ambos, welche Folgen das hat: Erst müssen die Richter des IStGH entscheiden, ob ein ausreichender Tatverdacht vorliegt, "aber nach meinem Eindruck gibt es enorm viele Beweise. Etwa die Aufnahmen der Hamas von ihren eigenen Massakern oder die Stellungnahmen von Netanjahu und Galant zur Belagerung Gazas unmittelbar nach dem 7. Oktober, da geht es um den Vorwurf des Aushungerns der Zivilbevölkerung.  ... Das ist ein Kriegsverbrechen. Und da werden die Aussagen von Galant und Netanjahu aus den ersten Tagen des Krieges als Beweise zitiert, wir belagern den Gazastreifen, wir schneiden alles ab, kein Strom, kein Wasser, keine Versorgung. Damit kann zwar auch ein legaler Zweck verfolgt, eben die Bekämpfung der Hamas, aber die Zivilbevölkerung darf dazu nicht instrumentalisiert werden. Allerdings muss auch vorsätzlich gehandelt worden sein, die genauen Anforderungen sind sehr umstritten." Ambos wünscht sich ausdrücklich, dass die Bundesregierung jetzt "ohne Wenn und Aber zum IStGH" steht, anderenfalls lieferten wir "seinen Hauptgegnern, vor allem den Chinesen und den Russen, praktisch eine Vorlage, noch direkter gegen den ICC vorzugehen. Insoweit finde ich die Stellungnahme des Auswärtigen Amts enttäuschend."

"Die Entscheidung ist im Grundsatz nicht unberechtigt", meint auf Zeit online Steffi Hentschke. "Nach sieben Monaten Krieg in Gaza ist offenkundig, dass sich Israel nicht ausreichend um die humanitäre Versorgung der Zivilisten in Gaza kümmert." Dennoch findet sie die Anklagen gegen die israelischen Politiker höchst problematisch, vor allem gegen den israelischen Verteidigungsminister Joaw Galant, der "seit Monaten versucht, den Schaden zu begrenzen, den der Regierungschef anrichtet". Aber auch den Strafbefehl gegen Netanjahu findet Hentschke fragwürdig, da er Hamas und Israel gleichstelle: "Die Hamas kennzeichnet ihre Kämpfer nicht. Es gibt objektiv also aktuell noch keine Möglichkeit, um zwischen Zivilisten und Terroristen zu unterscheiden. Vollkommen anders ist die Lage bei den Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober. Die Terroristen filmten ihre Taten, Überlebende und freigelassene Geiseln bezeugten die Massaker, Fälle sexualisierter Gewalt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Forensiker und Mediziner, auch die UN bestätigte sie in einem Bericht dazu."

Bereits am Samstag erläuterte Ronya Othmann im NZZ-Interview am Beispiel des Genozids an den Jesiden, was ein Genozid ist - sicher nützlich im Blick auf die heutigen Vorwürfe gegen Israel: "Der IS ist systematisch vorgegangen, in jedem Dorf wurden die Leute versammelt, meistens in der Schule. Die Männer wurden von den Frauen getrennt, erschossen und in Massengräber verscharrt. Die älteren Frauen haben sie teilweise auch erschossen und die Frauen und Kinder verschleppt. Mädchen ab neun Jahren und Frauen wurden vergewaltigt. Auch dass man die Kinder aus der Gemeinschaft genommen und die Jungen zwangskonvertiert hat, ist ein Indiz. Da steckt eine Systematik dahinter. Der IS hat aus seiner Absicht, die Jesiden auszulöschen, kein Geheimnis gemacht."

In der Welt kritisiert Alan Posener die Doppelmoral Spaniens, das einerseits Waffenlieferungen an Israel blockiere, andererseits muslimische Länder wie Pakistan, Malaysia und Kuwait mit 58 Prozent seiner Waffenexporte versorge. "Die hypermoralische Haltung der spanischen Linksregierung wirkt schon gar nicht überzeugend, wenn man bedenkt, dass Spaniens Großkunde Pakistan zusammen mit Birma, China, Eritrea, Iran, Kuba, Nicaragua, Russland, Saudi-Arabien, Tadschikistan und Turkmenistan laut US-Außenministerium zu den elf 'Countries of Particular Concern' gehört, in denen es besonders schlecht um die Glaubensfreiheit bestellt ist. Mit den anderen Menschenrechten sieht es nicht besser aus."
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Geschichte

Deutschland feiert 75 Jahre Grundgesetz und Bundesrepublik. Linke und Rechte haben viel an ihnen auszusetzen, aber trotz vieler Mängel gibt es keinen Grund von "BRDnoir" zu sprechen, meinen der Historiker Friedrich Kießling  und der Rechtsprofessor Christoph Safferling in der FAZ. Und übrigens knüpft das Grundgesetz an eine lange Tradition an: "Das neue politische System war vor 75 Jahren keineswegs etwas Äußerliches, vom 'Westen' nach Deutschland Importiertes, wie es heute vor allem von den Vertretern der AfD und ihren Anhängern wieder verbreitet wird. Es knüpfte vielmehr an zahlreiche eigene Traditionsstränge an und steht gleichzeitig am Beginn der Bemühungen, die Konsequenzen aus den nationalsozialistischen Verbrechen zu ziehen."

Zum gleichen Thema besucht Welt-Autor Thomas Schmid die Herreninsel im bayerischen Chiemsee, wo das Grundgesetz maßgeblich formuliert wurde. "Üppiges Bayern. Auf dieser Insel fiel im ehemaligen Augustiner Chorherrenstift die Vorentscheidung dafür, dass die Grund- und Menschenrechte Verfassungsrang haben sollen. Und dafür, dass die Republik föderalistisch verfasst sein soll. Das waren die wichtigsten Ergebnisse des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, der vom 10. bis 23. August 1948 tagte. Hier und nicht in Bonn wurde der Grundriss der Bundesrepublik entworfen."
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Ideen

In einem ausufernden Essay für die Berliner Zeitung beklagt der Autor Ingar Solty von der Rosa-Luxemburg-Stiftung die angebliche Militarisierung deutscher Diskurse im Zeichen der "Zeitenwende". Wie bei dieser Zeitung inzwischen so häufig, weiß man kaum noch, ob man diese Rhetorik der "Linken" oder der "Rechten" zurechnen soll:  "Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von 'Gut' (wir, na klar!) und 'Böse' (die anderen, was sonst?), von (westlicher) 'Zivilisation' und (östlicher) 'Barbarei', bloß dass die Grenze vom 'Ostproblem' (Walther Harich) weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei nicht schon an der Grenze zu Polen beginnt. Es ist die Rückkehr der 'Erbfeinde' (einst Frankreich, heute Russland und China) und die Rückkehr der 'Bürde des weißen Mannes' (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen."

Im Interview mit der Welt kritisiert Richard Schuberth, der hier als "intellektueller Nonkonformist der Linken" vorgestellt wird, scharf den Teil der Linken, der von Putin nicht lassen will und die Massaker der Hamas verharmlost: "Die Linke hatte nur so lange Bestand, da sie das Projekt der Aufklärung dem bürgerlichen Mainstream streitig machte. Sobald aber die skeptische Prüfung durch kritische Vernunft als westlicher Partikularismus oder gar rassistischer Chauvinismus gebrandmarkt wird, sind dem Wahn die Stadttore geöffnet und auch die Linke kann sich endlich vertrumpisieren. Dann ist wirklich alles möglich: Queerfeministinnen können mit klerikalfaschistischen Massenvergewaltigern kuscheln, antisemitische Woodstocks stattfinden und der Nationalsozialismus wird bloß der hamasartig übertriebene Widerstand eines Volkes gegen den Terror eines französisch-angelsächsisch-jüdischen Universalismus gewesen sein. Aus dem Quell dieser romantischen Revolte gegen die Aufklärung trinken die dümmeren Stränge der Linken Schulter an Schulter mit den Rechten seit 200 Jahren."

Auf Zeit online antwortet ein entsetzter Christian Bangel der Schriftstellerin Grit Lemke, die, ebenfalls in der Zeit, den Westdeutschen "Kolonialisierung" der Ostdeutschen vorgeworfen hatte. "Was bewirkt man bei diesen Menschen, wenn man ihnen sagt, sie seien vom Westen kolonisiert worden? Kolonisatoren sind per definitionem illegitime Herrscher. Sollte man das von der Bundesrepublik übernommene demokratische System also abwählen, gar gewaltsam beseitigen? Der AfD-Politiker (der übrigens gar nicht so selten auch aus dem Westen kommt) zeigt an dieser Stelle lächelnd auf sein Vollende-die-Wende-Plakat."
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Stichwörter: Zeitenwende, Hamas, AfD, Universalismus