9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Geschichte

Die Polen waren im 20. Jahrhundert Opfer zweier totalitärer Regime. Doch prägt seit der PiS-Regierung ein "stagnierendes Pathos aus Heroismus und Märtyrertum" die polnischen Erinnerungspolitik, das verhinderte, auch polnische Verbrechen anzusprechen, konstatiert Ulrich M. Schmid in der NZZ. Die neue Regierung unter Donald Tusk versucht das zu ändern, wird aber zur Zeit noch von Präsident Andrzej Duda behindert, wogegen sich wiederum eine Reihe polnischer Historiker mit einem 'Brandbrief' richtete: "Sie wandten sich gegen das 'enge ethnische Verständnis des katholischen polnischen Volkes', das der Arbeit des IPN [das staatliche Institut für nationales Gedenken] zugrunde liege. Die Liste der Sündenfälle, die sie dem IPN vorwerfen, ist lang. Ein Mitarbeiter des IPN in Breslau (Wroclaw) war früher Mitglied einer rechtsradikalen Organisation. Auf Fotos war dokumentiert, wie er den römischen Gruß ausführte. Als Historiker präsentierte er die sogenannte Heiligkreuz-Brigade als patriotische Organisation, obwohl sie mit den Nazis kollaborierte und die polnische Heimatarmee bekämpfte. Zwei weitere Mitarbeiter des IPN behaupteten, die polnischen Juden im Jahr 1939 seien nicht Opfer, sondern Täter gewesen und hätten in den Ghettos bis 1941 deutlich besser gelebt als die polnische Bevölkerung. Ein anderer Mitarbeiter trat mit Vorträgen zum Thema 'Die bolschewistischen Wurzeln der Gender-Ideologie' auf."
Stichwörter: Polen, Erinnerungspolitik

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Geschichte

In der Weimarer Republik wurde ein Verbotsverfahren gegen die NSDAP von der preußischen Regierung unter Otto Braun eingeleitet, schreibt Pitt von Bebenburg in der FR. "Die Reichsregierung und Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) lehnten es jedoch ab, gegen die Nazi-Partei und ihre Anführer vorzugehen. Monatelang antworteten sie auf Nachfragen der preußischen Regierung, dass die Frage noch geprüft werden. Dann ließen sie die Angelegenheit im Sande verlaufen. 'Die Ermittlungsverfahren gegen Hitler, Goebbels und die NSDAP wegen Verletzung der Strafbestimmungen über Hochverrat, staatsfeindliche Organisationen etc. wurden dadurch abgeschlossen, dass die Oberreichsanwaltschaft sie in Übereinstimmung mit dem Reichsjustizministerium im Juni 1932 einstellte', fasste einer der Autoren der Denkschrift zusammen: der preußische Jurist Robert Kempner, der nach dem Zweiten Weltkrieg zu den US-Anklägern in den Nürnberger Prozessen zählte (...). Die Entscheidung war ein gravierender Fehler mit schwerwiegenden Folgen, wie Kempner ausführte. 'Adolf Hitler und seine Nazi-Partei wären nie an die Macht gekommen, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg hätte es nie gegeben', war er überzeugt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2024 - Geschichte

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Hart geht Claudia Schwartz in der NZZ mit Claudia Roth ins Gericht, der sie vorwirft, vor Antisemitismus und Israelhass die Augen zu verschließen - sei es in Bezug auf Documenta und Berlinale, beim BDS-Beschluss des Bundestags oder jüngst mit ihrem Rahmenkonzept Erinnerungskultur: "Die deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit war immer in Bewegung - es gibt die Geschichte des Nationalsozialismus, und es gibt die Geschichte seiner Aufarbeitung. Mit beiden machte jede Zeit ihre Politik. Der innenpolitische Konflikt erfährt seit Jahrzehnten immer wieder historische Umdeutung. Aufschlussreich zeigt dies Norbert Freis historische Darstellung 'Im Namen der Deutschen - Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit'. Seit der Nachkriegszeit und besonders intensiv nochmals nach der Wiedervereinigung war die 'neue Staatlichkeit' jeweils eng verbunden mit der Frage, wie es die Deutschen mit dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte halten. Wer die Erinnerungspolitik als überholt betrachtet, sollte sich gerade jetzt, wo die Sicherheit der jüdischen Bürger in Deutschland ein Dauerthema ist, nochmals vor Augen führen, gegen welche Widerstände das deutsche Bekenntnis zum Geschichtsbewusstsein eingefordert wurde."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 - Geschichte

Dem Schriftsteller Antonio Scurati ist ein Auftritt im italienischen Staatsfernsehen RAI verwehrt worden, wo er einen kurzen Monolog zum 25. April, dem "Tag der Befreiung" vom Faschismus sprechen wollte. Darin wirft er der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein heuchlerisches Verhältnis zur Geschichte vor, berichtet Michael Braun in der taz: "Scurati trifft da den Kern der Erinnerungs- oder besser gesagt der Amnesiepolitik Melonis und ihrer Partei Fratelli d'Italia. Schon in ihrer Antrittsrede als Ministerpräsidentin im Oktober 2022 - nur drei Tage vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis Marsch auf Rom, den sie mit keinem Wort erwähnte - hatte sie zwar die Rassegesetze von 1938 gegeißelt; doch weder damals noch auch bei anderen Gelegenheiten gelang es ihr, den banalen Schluss zu ziehen, dass zu einem Verbrechen auch ein Verbrecher gehört: Über Mussolini ist Meloni nie ein böses Wort über die Lippen gekommen." Den Text Scuratis kann man hier nachlesen.

Fromm klingen die Gedanken des Historikers Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, zu den jüngsten scharfen erinnerungspolitischen Streitigkeiten in Bezug auf Holocaust und Kolonialismus auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ: Notwendig sei es, "den Modus des Kulturkampfes, der den Andersdenkenden mit binären Feindbildern und universalisierten Identitätskonstruktionen zum Schweigen zu bringen sucht, zu verlassen und stattdessen zu einer aufrichtig-reziproken Kommemoration der Opfer zu finden."

In der FAZ räumt der Historiker Jörg Bong, der im Oktober den zweiten Band seiner Trilogie über die Revolution von 1848 herausbringt (hier Band 1), mit einigen Klischees über die erste deutsche Demokratie von 1848 auf. Zum Beispiel, dass diese nur zu Chaos führte. "Es ist tatsächlich zu alldem gekommen: zu Unordnung, Chaos, Krieg, Terror, Barbarei. De facto führte der Weg, den Deutschland genommen hat - natürlich nicht 'teleologisch', aber eben faktisch -, nach der Niederschlagung des ersten demokratischen Versuchs innerhalb eines Menschenalters schon bald in mehrere Katastrophen, zwei davon global und unermesslich, zuletzt in den Faschismus und seine menschheitsgeschichtlich singuläre Barbarei. Schon insofern ist es absurd, die propagandistische Warnung von damals zu wiederholen. ... Es ist umgekehrt. Im Anschluss an die Ausradierung und Vertreibung vieler Zehntausender Demokraten - ein demokratischer Aderlass, wie es ihn in Deutschland nur Anfang der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts noch einmal gab - kommt es zur harschen Restauration und alter Despotie."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2024 - Geschichte

Der Postkolonialismus kommt  auch in der Archäologie und Altertumswissenschaft an, erzählt Gabriel Zuchtriegel, Leiter der archäologischen Stätte von Pompeji, im Gespräch mit Sabine Seifert von der taz, aber teilweise unter falschen Prämissen. In diesem Kontext erklärt Zuchtriegel auch, warum er trotz der Unterschiede zur modernen Sklaverei auch für die Antike am Begriff des "Sklaven" festhalt, nämlich um umzudenken: da waren nämlich "eigentlich wir die Sklaven. ... Die Sklaven der Römer kamen aus dem heutigen Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Es wäre eine Gelegenheit, die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. Dieser rassistische Komplex zwischen Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus, der in der Moderne so prägend ist und der es problematisch macht, das Wort Sklave zu verwenden, könnte dadurch unterwandert werden, dass wir für die Antike an dem Begriff festhalten. Wenn wir uns klarmachen: Die berühmten Wurzeln der abendländischen Kultur waren auch das. Wir waren Sklavenbesitzer, aber auch Sklaven, und unsere Kultur kommt aus einer Gesellschaft, die bis zu einem Drittel der Bevölkerung aus Sklaven bestand."

Der Ukrainekrieg ist für den Westen auch eine Geschichtslektion. Unter anderem lernte er, dass es auch einen Imperialismus ohne Eroberung weit entlegener Regionen gibt: Russlands Imperialismus ist ein Expansionismus. Und Völker, die sich der Subsumierung nicht einfach fügten, wurden von den Zaren und dann von Lenin und Stalin auch mit Gewalt gleichgeschaltet. Alim Alijev, Generaldirektor des Ukrainischen Instituts in Kiew und aus einer krimtatarischen Familie stammend, erzählt in "Bilder und Zeiten", der virtuellen Printbeilage der FAZ: "Die Deportation begann am 18. Mai 1944 am frühen Morgen. NKWD-Soldaten klopften an die Tür eines jeden krimtatarischen Hauses und gewährten nur fünfzehn Minuten Zeit zum Aufbruch. Die Aktion dauerte drei Tage, während derer die gesamte Bevölkerung in Viehwaggons verladen und fast drei Wochen lang über zweitausend Kilometer hinweg transportiert wurde, hauptsächlich nach Usbekistan, aber auch nach Kasachstan oder in den Ural. Die Folgen der Deportation waren schrecklich: Sechsundvierzig Prozent der Verschleppten starben in den nächsten Monaten."

Außerdem: In der NZZ erzählen Nikolai Klimeniouk und die Holocaust-Historikerin Ksenia Krimer die Geschichte jüdischen Widerstandsgeistes, vom "Muskeljudentum" des Max Nordau über jüdische Studenten, die sich gegen Antisemiten duellierten, bis zum heutigen Staat Israel.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2024 - Geschichte

Trotz der Vielfalt des jüdischen Widerstands ist dieser in der deutschen Erinnerungskultur kaum präsent, schreibt die Politikwissenschaftlerin Sarah Stemmler, die in der FR mehr Sichtbarkeit fordert und erklärt: "Laut Achim Doerfer hängt das damit zusammen, dass die Erinnerung an Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit von einer Opfer-Ikonografie geprägt ist. Der Jurist und Philosoph beschreibt, dass vor allem die Bilder von Kranken, Verhungernden und Sterbenden im kollektiven Gedächtnis verankert sind, nicht aber die Bilder von Partisan:innen oder jüdischen Soldat:innen in den Armeen der Alliierten. Stattdessen erinnern wir uns vor allem an nichtjüdische Widerständler:innen, wie die Studierendengruppe 'Die Weiße Rose'. Das ist zwar wichtig, vermittelt aber ein schiefes Bild: von einzelnen widerständigen Deutschen und passiven Opfern. Proportional betrachtet war der jüdische Widerstand viel zahlreicher. Es gibt Stimmen, die sich für einen Feiertag am 19. April aussprechen, der dem Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet ist."

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"Hasst Iran auch seine eigenen Juden?", fragt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, jüngstes Buch "Iran ohne Islam", in der SZ. Etwa 9.000 Juden leben noch im Iran, vom Regime gezwungen, sich gegen Israel zu positioneren, fährt Amirpur fort, die die Geschichte des Antisemitismus seit der Eroberung Irans durch die Muslime im Jahre 642 erzählt. Unter Chomeini setzte schließlich eine Unterscheidung zwischen iranischen Juden und "gottlosen Zionisten" ein: "Dies verhinderte nicht, dass Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse wurden, aber sie anerkannten die Legitimität jüdischer Existenz in Iran und erlaubten der Gemeinde fortzubestehen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2024 - Geschichte

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Der britische Journalist Sathnam Sanghera hat ein Buch über das britische Empire geschrieben. Im NZZ-Gespräch erklärt er, wie widersprüchlich dessen Vermächtnis ist: "Man kann nicht abstreiten, dass es die Verbreitung der Demokratie gefördert hat - zum Beispiel in Indien oder Australien. Das Empire schuf auch massive geopolitische Instabilität in Palästina, Nigeria, dem Irak oder dem Sudan. Das Empire war involviert in den Sklavenhandel, aber später auch an dessen Abschaffung beteiligt. Es hat die freie Presse und gleichzeitig deren Zensur verbreitet."


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In ihrem Buch "Eisernes Schweigen" erzählt Traudl Bünger von ihrem Vater, dem rechtsradikalen Aktivisten Heinrich Bünger, der im Rahmen des Südtirolkonflikts 1962 einen mörderischen Bombenanschlag in Verona verübt hat. Im FAS-Gespräch versucht sie dessen Motive zu ergründen: "Bei allem, was ich über meinen Vater weiß, komme ich nicht umhin, anzunehmen, dass es ihm auch um das deutsche Volk und um Deutschland gegangen ist. Die Ostgebiete zum Beispiel waren immer ein Thema für ihn, zeit seines Leben ist er 'zu den Polen' gefahren und nicht 'nach Polen'. Ich hatte mit einem Historiker Kontakt, der die These vertritt, dass Teile der frühen Rechtsradikalen der jungen Bundesrepublik ihre Sehnsucht nach einem großen Deutschland, nach den Ostgebieten mit Südtirol sublimierten. An die Ostgebiete kam man nicht ran. Aber in Südtirol, da gab es den Konflikt, auf den man sich draufsetzen konnte. Südtirol wäre dann also eine Art Ersatzbefriedigung für die verlorenen Ostgebiete gewesen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2024 - Geschichte

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Paul Middelhoff führt für die Zeit ein Gespräch mit dem Historiker Daniel Marwecki, der wie in seinem Buch "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson" darauf beharrt, dass die deutsch-israelische Aussöhnung beidseitig eiskalte Interessenpolitik gewesen sei. Das Reden von der Staatsräson ist darum für ihn mehr oder weniger vorgeschützt und hat möglicherweise keine bindende moralische Wirkung. Marwecki kritisiert sowohl den iraelischen Krieg gegen die Hamas, als auch den grassierenden linken Antisemitismus. Am Ende warnt er "Die komplexe Realität anzuerkennen, würde die Vergangenheitsbewältigung erheblich erschweren. "

Außerdem: Anne Rabe bespricht in der FAZ eine Ausstellung über Vertragsarbeiter in der DDR im Berliner Haus der Kulturen.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.04.2024 - Geschichte

Vergangene Woche hatte der Althistoriker Mischa Meier in der FAZ Putin mit dem Hunnenfürsten Attila verglichen, um vor Appeasement zu warnen (Unser Resümee). So ein Vergleich ist wenig zielführend, konstatiert heute ebenfalls in der FAZ der Althistoriker Hartwin Brandt: "Die Hunnen im fünften Jahrhundert waren, wie Meier selbst richtig herausstellt, ein labiles und dynamisches Gebilde; ihr Name bezeichnet eine nicht fest ansässige, auf kurzfristige Bereicherung ausgerichteten, nicht mit einem staatlich-institutionellen Unterbau versehene 'Kriegerkoalition'. Theodosius II. schließlich war nach allem, was wir wissen, ein schwacher, von einflussreichen Personen am Hof gelenkter Kaiser, dessen 'Herrschaft' über ein ohnehin von Desintegrationsprozessen gebeuteltes Restreich vor allem von notorischen innerrömischen Auseinandersetzungen um Religionsfragen geprägt war. Wie gering und oberflächlich die Parallelen zu den heutigen Verhältnissen und hier in Rede stehenden, fürchterlichen Ereignissen in Osteuropa ausfallen, liegt auf der Hand. Die verhängnisvollen Auswirkungen einer Appeasement-Politik lassen sich gewiss eindrücklicher von neu- und zeithistorischer Seite erhellen, wie der aufsehenerregende Brief von Historikerinnen und Historikern mit SPD-Parteibuch an den SPD-Parteivorstand (...) gezeigt hat."

Bei geschichtedergegenwart.ch beleuchtet der Historiker Florian Wagner mit Blick auf die "Remigrationspläne" der AfD die historische Symbiose zwischen rechtem Denken und einer aktualisierten Form von Siedlungskolonialismus: Die Vorstellung von Rassentrennung taucht in rechten Ideologien verklausuliert unter dem Begriff des "Ethnopluralismus" auf, erklärt er: "Dieser Siedlungskolonialismus ist genauso völkisch-rassistisch wie es der Nationalsozialismus war. Er propagiert und praktiziert das Weißsein als einzig erhaltenswerte Lebensform, die vor Nicht-Weißen getrennt oder 'segregiert' werden müsse und dürfe, um die Kontamination und potenzielle Degeneration der weißen Rasse zu vermeiden. Diese zutiefst kolonialrassistische Weltsicht gilt nicht nur Rechtsextremen als normal, sondern auch vielen moderateren Unterstützer:innen eines 'Ethnopluralismus'. Auch darum bestand die Hoffnung unter Rechtsextremen, dass ihr Remigrationsplan in der deutschen Gesellschaft konsensfähiger war als eine direkte Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Deportationen."

Matthias Heine zeichnet in der Welt die Geschichte der deutschen Rechtschreibreform nach und erinnert daran, dass diese ihre Ursprünge bei den Nazis hatte. Mehrere Anläufe gab es im Dritten Reich, die Sprache zu modifizieren, so Heine, bis die Reform angesichts der sich verschlechternden Kriegslage als nicht "kriegswichtig" eingestuft und fallen gelassen wurde. Mit Hitlers Tod war die Geschichte allerdings nicht beendet, erfahren wir von Heine: "Anfang der Fünfzigerjahre kamen die alten Bekannten in einer 'Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege' 1954 zusammen. ... Die Reformvorschläge, die die Wissenschaftler nun in einer gemeinsamen 'Stuttgarter Erklärung' formulierten, griffen die Ideen von damals wieder auf. Mit der Erklärung beginnt die Vorgeschichte der Rechtschreibreform von 1996 offiziell. Dass sie schon 1933-1945 begann, wurde von den Reformern 1996 gerne verschwiegen und jede Erinnerung daran - etwa durch den Historiker Christian Meier, damals Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung - als skandalöser Nazivergleich abgetan."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2024 - Geschichte

Im März hatte das russische Außenministerium die Bundesregierung aufgefordert, die Belagerung Leningrads als Genozid anzuerkennen - ein neuer Schachzug in Putins geschichtspolitischem Kampf, schreiben die Osteuropa-Historiker Felix Ackermann und Gundula Pohl in der FAZ: "Diese geschichtspolitische Wahnidee teilt Putin mit seinem belarussischen Diktatorenkollegen Alexandr Lukaschenko. Beide bemühen sich um eine Verschiebung der Bedeutung des 27. Januars, der als Tag der Beendigung der Blockade Leningrads begangen wird, um sich von einer gesamteuropäischen Erinnerung an den Nationalsozialismus zu distanzieren. Weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit weihten sie 2024 an diesem Datum gemeinsam eine Gedenkstätte für die Opfer des nationalsozialistischen Genozids während des Großen Vaterländischen Krieges ein. ... Lukaschenko nutzte die Großveranstaltung zum ideologischen Schulterschluss innerhalb des russisch-belarussischen Unionsstaats. In seiner Rede machte er deutlich, dass sich die staatliche Genozid-Erinnerung auch gegen Protestierende in Belarus richtet, denen er die Kollaboration mit dem imaginierten Kollektiven Westen vorwirft."
Stichwörter: Belarus