9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Dezember 2023

Geistige Spiegelbilder

30.12.2023. Der postkolonialen Linken, die Deutschland einen "Schuldkomplex" unterstellt, entgegnet der Historiker Frank Trentmann in der taz: Wir sollten "nicht vergessen, dass man in den heutigen Debatten zu Israel auch in anderen Ländern sehr viel um sich selbst kreist." Nicht Armut in den Herkunftsländern, sondern Arbeitskräftemangel im Westen bedingt Migration, schreibt der Soziologe Hein de Haas im Guardian. "Der Westen ist heute von innen noch mehr bedroht als von außen", glaubt Heinrich August Winkler in der FAS. Auf ZeitOnline skizziert die Soziologin Katharina Blum Russlands Abkehr vom Westen. Und die FAZ ploggt ins Jahr 2024.

Maximale Relativierung

29.12.2023. Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg, Gaza, und nun auch noch dies: Nächstes Jahr droht die Wiederwahl Donald Trumps und die Verwandlung Amerikas in eine Diktatur. In der FAZ prüft Claudius Seidl entsprechende Szenarien. In der SZ gibt Alexander Estis Masha Gessen noch ein paar Nachhilfestunden in der Kunst des Vergleichens. Nehmen wir mal an, Israel verschwände von der Erdoberfläche, das wäre das Ende jeder deutschen Schuld, so Henryk Broder in der Welt, und sehnen sich danach nicht die Rechten und die Linken in Deutschland, fragt Peter Huth ebenfalls in der Welt.

Der Rohstoff der Reue

28.12.2023. Die in Deutschland so beliebte Sünderpose ist oft nur eine Form des Paternalismus, kritisiert die Zeit. Es könnte schwieriger werden, den Wokeismus los zu werden als den Maoismus, warnt Alain Finkielkraut in der NZZ. Die FR hofft derweil auf eine Linke, die sowohl humanistisch als auch radikal ist. Im Tagesspiegel fragt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle, warum die historischen Ursachen des Nahost-Konflikts hierzulande so wenig bekannt sind. In der SZ empfiehlt der Vorsitzende des Palästina-Forums Aref Hajjaj dem Nahen Osten für eine friedliche Zukunft das Schweizer Modell.

Wetteifern, wer denn nun die größeren Opfer sind

27.12.2023. "Demokratiefeindlichkeit ist kein Teil einer Kultur", betont Ahmad Mansour, der in der NZZ hofft, dass die Gefahren durch Islamismus nun endlich erkannt werden. Das Gefühl, benachteiligt zu sein, ist tief verwurzelt im Osten, meint der Theologe Richard Schröder, der den Ostdeutschen in der FAZ rät, sich nicht mit den Westdeutschen, sondern mit den etwa zwanzig anderen einst sozialistischen Diktaturen zu vergleichen. Millionen von Menschen leben unter Bedingungen, die schlimmer sind als die in Gaza und sie suchen nicht den Trost in Terrorismus, erwidert Henryk Broder in der Welt auf Christoph Heusgen.

Kultur der kalten Augen

23.12.2023. Wenn es je einen "deep state" gab, dann den der Hamas im Gazastreifen, sagt Herta Müller in der NZZ. Und die Hamas brauche das Elend der Palästinenser, um existieren zu können. Die New York Times kritisiert die israelische Kriegsführung mit massiven Bomben in Wohngebieten. Der Spiegel sieht mehr Zerstörung als in Deutschland im Zweiten Weltkrieg - nur die Ruhrbarone bestreiten das. Marcel Beyer protestiert in der FAS gegen die deutsche Empathielosigkeit mit Blick auf Ukraine und Israel.

Denn Deutschland galt als Ruheraum

22.12.2023. In der NZZ erklärt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, warum die Palästinenser in arabischen Ländern kaum noch Rückhalt haben. Die Hamas-Teroristen richteten ihr Blutbad auch an, weil sie "keine Ausbildung, keinen Beruf, keine Perspektive" hatten, meint Christoph Heusgen in der FR. Was treibt die Hamas eigentlich so in Deutschland, fragt die FAZ. Viele linke jüdische Studenten in den USA machen jetzt eine Erfahrung, die auch Generationen vor ihnen kannten: Man ist selbst solidarisch mit linken Anliegen, aber wenn's drauf ankommt, ist keiner solidarisch mit ihnen. FAZ und taz erzählen, wie mühsam die Rückgewinnung des Rechtsstaats in Polen werden wird.

Entscheide dich weiterzuleben

21.12.2023. In der SZ erzählt die Psychologin Ayelet Gundar-Goshen, wie sie Überlebenden des 7. Oktober hilft. Die taz blickt auf die Wahlerfolge des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić zurück - für die EU ist das Land verloren. Die SZ fordert die Mainstream-Parteien auf, von der AfD zu lernen, zumindest in den sozialen Medien. taz und FAZ berichten über Antisemitismus an Schulen und Uni. Der Spiegel fragt: Warum verabscheuen die Polen Russland, während die Ostdeutschen Russland lieben?

Nichts anziehen, was an Hochzeit erinnern könnte

20.12.2023. In der Heinrich-Böll-Stiftung trieb Masha Gessen ihre kruden Thesen weiter, berichtet die taz: Der größte Unterschied zwischen den Nazi-Ghettos und Gaza sei, dass in Gaza die meisten noch lebten und man noch rechtzeitig einschreiten könne. "Kultur braucht Spinner", meint derweil SpiegelOnline. Im Guardian meint Arendt-Biografin Samantha Rose Hill, dass Arendt den nach ihr benannten Preis heute nicht bekäme. Es gibt keine Kollektivschuld, aber doch die Mithaftung einer Nation für Gewaltverbrechen, die von ihrer politischen Führung begangen werden, schreibt Ralf Fücks mit Blick auf die Palästinenser in der FAZ. Und auf SpiegelOnline fragt Mikhail Zygar: Wo ist Alexej Nawalny?

Ohne Freiheit bleibt einem nichts mehr

19.12.2023. Alle reden über die Vertreibung von 750 000 Palästinensern durch die Israelis. Für die 900 000 Juden, die aus islamisch dominierten Staaten vertrieben wurden, interessiert sich niemand, stellt der Historiker Volker Weiß in der SZ fest. Beim Thema NS-Raubkunst versagt der deutsche Staat, kritisiert in der Welt der Historiker Julien Reitzenstein. Die FAZ wundert sich über die vielen Busse mit bosnischen Kennzeichen am Wahltag in Belgrad. Und: Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Die Linie Machiavelli-Spinoza-Marx

18.12.2023. Die Ukraine steht kurz davor, den Krieg zu verlieren, und der Westen ist schuld daran, ruft in der Welt ein verzweifelter Garri Kasparow. In der NZZ erklärt die Psychologin Anna Schor-Tschudnowskaja das Konzept des "Homo postsovieticus". Masha Gessen hat am Wochenende den Hannah-Arendt-Preis erhalten. Eine politische Diskussion fand während der umstrittenen Preisverleihung nicht statt, berichtet die taz. Und: taz, FAZ und SZ würdigen den verstorbenen Philosophen Antonio Negri als temperamentvollen Vertreter einer undogmatischen Linken.

Es ist ein bisschen wie ein kontrolliertes Experiment

16.12.2023. Die heute kulminierende Masha-Gessen-Woche zeigt: Ein Interview im Spiegel, in der Zeit, oder eine Einladung in eine Talkshow sind das neue "Ich-werde-mundtot-gemacht". Heute früh bekommt sie also den Hannah-Arnedt-Preis für "politisches Denken".  Sie beteuert im Gespräch mit FR, SZ und Spiegel, nicht gleichgesetzt, sondern verglichen zu haben. Sonst erkenne man nicht, dass Israel Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. In keinem der Gespräche werden den Verbrechen der Hamas mehr als zwei Zeilen gewidmet. Außerdem: Detlef Pollack glaubt in der taz zwar nicht an Gott, aber an Religion. SZ und FAZ thematisieren die antisemitischen Ausschreitungen an Unis.

Sphäre der Verleugnung

15.12.2023. Masha Gessen bekommt ihren Preis und ihre Preisverleihung, nur etwas anders. Die Böll-Stiftung verwahrt sich dagegen, "Masha Gessen diesen Preis absprechen, gar aberkennen" zu wollen. Gessen freut sich unterdessen über die all die Journalistenanfragen, die they und them erhalten. Der Historiker Volker Weiß macht in der SZ  "brachiale Fehler" in Gessens New-Yorker-Essay aus. Und der von der FR befragte Hannah-Arendt-Biograf Thomas Meyer sieht in Gessens Gaza-Ghetto-Gleichsetzung "eine völlige Entgleisung".

Ein scharfes Denkvermögen

14.12.2023. Masha Gessen bekommt den Hannah-Arendt-Preis - aber nicht die geplante Preisverleihung am Freitag, denn Böll-Stiftung und Stadt Bremen haben sich von der Veranstaltung zurückgezogen, melden Zeit online und taz. Der "Verein Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V." nimmt das mit Bedauern zur Kenntnis und kündigt eine Preisverleihung für Samstag an. FAZ-Redakteur Claudius Seidl findet den Satz "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland", der im neuen CDU-Grundsatzprogramm stehen soll, "unscharf und unverschämt zugleich". Der Historiker Jörn Leonhard erzählt in der Zeit, wie schwierig es ist, Kriege zu beenden, vor allem in den Köpfen.

Welcher Fluss und welches Meer?

13.12.2023. Masha Gessen, die gerade erst im New Yorker den Gaza-Streifen mit den Ghettos der Nazis verglich, soll am Freitag den Hannah-Arendt-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung erhalten. Im ZeitOnline-Gespräch beruft sie sich auf Arendt, die auch Vergleiche mit den Nazis gezogen habe. "Ist dies das 'politische Denken', das die Böll-Stiftung mit Preisen auszeichnet", fragt Perlentaucher Thierry Chervel.  In Yascha Mounks Blog Persuasion blickt Aaron Sarins auf den Antisemitismus in China. Außerdem: Im Guardian fragt Timothy Garton Ash, wie die EU ohne einen einzigen Hegemon funktionieren soll.

Was über Jahrzehnte als Wind gesät wurde

12.12.2023. Die Infamie, mit der die Verharmlosung von Antisemitismus verschärft wird, hat schon eine neue Qualität, kommentieren die Salonkolumnisten Masha Gessens Artikel im New Yorker. In der NZZ glaubt der Politologe Martin Wagener nicht, dass Deutschland Ernst macht, wenn Israel die Gretchenfrage nach der Schutzzusage stellt. Der Tagesspiegel warnt davor, sich davon blenden zu lassen, dass sich Rechte als Beschützer Israels aufspielen. Die taz begrüßt den Vorstoß der CDU, darüber zu diskutieren, dass nur "Muslime, die unsere Werte teilen" zu Deutschland gehören. Und netzpolitik fürchtet, dass wir dank KI bald nicht mehr unbeobachtet im Park sitzen können.

Kommen Sie raus!

11.12.2023. Die deutschen und polnischen Erinnerungspolitiken sind "rechts" und verstellen den Blick auf israelische Verbrechen, behauptet Masha Gessen im New Yorker. In der taz geißelt Laith Arafeh, Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland, die Selbstverteidigung Israels in Gaza als Verbrechen. Die NZZ erinnert an die Demonstrationen auf dem Maidan, die vor zehn Jahren die Demokratisierung der Ukraine einleiteten. In Oslo fragte die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi laut FAZ aus dem Evin-Gefängnis heraus, wann der Westen endlich die Demokratiebewegung in Iran unterstützen will. Und die in Afghanistan, setzt Hourvash Pourkian in hpd nach. Und die in Hongkong, fordert Agnes Chow im Spiegel.

Erst kommt die Macht, dann die Moral

09.12.2023. Morgen erhält die erneut inhaftierte iranische Journalistin Narges Mohammadi den Friedensnobelpreis, sie hat massive Gesundheitsprobleme, weiß Mariam Claren in der FR. Die Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge wäre der Selbstmord Israels, sagt Michael Wolffsohn im taz-Gespräch, in der NZZ plädiert er für eine "sanfte Befriedung" der Palästinenser nach der Zerschlagung der Hamas. Ebenfalls in der taz fragt der Historiker Philipp Lenhard, weshalb es die Linke so kalt ließ, als die Palästinenser gegen die Elendsherrschaft in Gaza auf die Straße gingen. Und in der SZ ruft der Verfassungsrechtler Christoph Möllers: Keine Angst vor einem AfD-Verbot.

Makroaggressionen

08.12.2023. Auch die von George Soros gegründete Central European University in Wien macht laut Standard durch antisemitische Umtriebe von sich reden. FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube staunt zugleich mit Blick auf die "Kontextualisierungen" der Uni-Präsidentinnen in Amerika über die Dummheit der Eliten. Die taz berichtet über einen Brandbrief des UN-Generalsekretärs António Guterres an den UN-Sicherheitsrat: Israel soll sofort mit dem Krieg aufhören. Russland ist das andere große Thema heute: der Historiker Alexey Tikhomirov weist in der FAZ auf das vielleicht größte Problem Russlands mit seinem Krieg gegen die Ukraine hin: die Demografie.

Abgelenkt und frustriert und genervt

07.12.2023. Großes Aufsehen erregen auf Twitter Äußerungen amerikanischer Unipräsidentinnen, die auf die Frage, ob ein Aufruf zum Genozid an Juden den Richtlinien ihrer Unis widerspricht, antworten, das komme auf den Kontext an. Die Präsidentinnen finden in Deutschland Unterstützung von Annika Brockschmidt, Philip Sarrasin und Patrick Bahners. In der taz fürchtet Irina Scherbakowa von Memorial, dass Putin seinen Krieg gegen die Ukraine so lange andauern lassen will wie möglich. Der Vorwurf des Antisemitismus gegen Achille Mbembe und viele andere sei rassistisch, findet Stefan Weidner bei qantara. Sein Beweis ist, dass Hubert Aiwanger weiter im Amt ist. Und Anne Rabe attackiert auf Twitter Christoph Hein.

Das waren doch die Hühner

06.12.2023. Die russische Aktivistin Sasha Talaver berichtet in der taz, wie die russisch-orthodoxe Kirche gegen das selbst von Putin unterstützte Recht auf Abtreibung vorgeht. In der FR ist die Soziologin Julia Bernstein entsetzt über das Ausmaß antijüdischer Ressentiments in Deutschland. "Selbst, wenn es um Solidarität gehen sollte, redet Deutschland eigentlich nur über sich selbst", klagt die palästinensische Journalistin Alena Jabarine in der SZ. Der Spiegel schaut angewidert auf eine "weltweit gleichgeschaltete junge Elite", die sich mit Menschenschlächtern identifiziert, "weil diese vermeintlich vergleichbare Unterdrückungserfahrungen gemacht hätten." Und die FAZ überlegt, wo sie am sinnvollsten ihr Gras anbaut.

Für Betroffene da sein, Nazis besuchen, whatever

05.12.2023. Die taz erzählt, wie Dänemark mit Zwangsumsiedlungen seine Einwandererghettos auflösen will. Die FAZ erzählt von russischen Soldatenehefrauen, die ihre Männer von der Front zurückfordern. In der NZZ unterhalten sich Mirna Funk und Abdul Kader Chahin über Antisemitismus in Deutschland und die westliche Sympathie für Palästinenser, die sofort endet, wenn diese von anderen als von Israelis getötet werden. Im Tagesspiegel erklärt der Historiker Konstantin Sakkas, was der Einsatz "menschlicher Schutzschilde" im Krieg völkerrechtlich bedeutet. Und in der taz erklärt die kenianische Klimaaktivistin Dianah Mugalizi, warum afrikanische Frauen in der Klimapolitik so wenig mitmischen: Sie arbeiten zwar auf dem Land, besitzen es aber nicht.

Überall Zäune

04.12.2023. Der Vorwurf, Israel betreibe einen Genozid in Gaza dient vor allem einem, meint der britische Schriftsteller Howard Jacobson im Observer: der Annullierung des Holocaust. Im Spiegel kann sich der israelische Historiker Tom Segev keine Zweistaatenlösung vorstellen, solange Israelis und Palästinenser ihre Identität durch das Land definieren. Omri Boehm hält dagegen an der Idee einer Konföderation zwischen Palästinensern und Israelis fest. Im Tagesspiegel fragt der Vorsitzende der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Nazih Musharbash, wo Deutsch-Palästinenser hierzulande trauern können. KI zerstört das Internet, warnt die NZZ.

Erklären, kontextualisieren, differenziert betrachten

02.12.2023. In der Jungle World blickt Steffen Klävers nochmal auf den "Historikerstreit 2.0" zurück. In der taz fragt der israelische Konfliktforscher Yuval Kremnitzer, ob ein "Conflict Management" nach dem 7. Oktober überhaupt noch denkbar ist. In der NZZ erinnert Boris Schumatsky an den  Antisemitismus in der Sowjetunion, dessen Traditionslinien bis in die Gegenwart reichen. Die taz erzählt, warum die iranische Aktivistin Masih Alinejad ein Gespräch im Auswärtigen Amt abbrach.

Es ist kein Dada-Stück

01.12.2023. "Radikale Muslime und verbohrte Linke mobilisieren zum Druck auf europäische Regierungen - ein Paradebeispiel für Unterwanderung", warnt Ahmad Mansour in der taz. Auch die Regierungen tragen ihren Anteil am Freiraum der Extremisten, meint Boualem Sansal in der Welt. Ein Großteil der Palästinenser will gar nicht gegen die Hamas aufbegehren, schreibt Mirna Funk in der NZZ. Die Deutschen stehen auch den Palästinensern gegenüber in der Schuld, glaubt der Sinologe Heiner Roetz in der FR. Russlands Kampf gegen Homosexuelle wird immer schlimmer und grotesker, hält die taz fest.