9punkt - Die Debattenrundschau

Ikonographie des Schreckens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.03.2024. Wüssten die Westeuropäer, was die Russen über sie sagen, wären sie auf die eigene Sicherheit ernsthafter bedacht, warnt die litauische Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė in der FAZ. In der FR setzt Olivia Mitscherlich-Schönherr indes auf eine Doppelstrategie, die militärischen Einsatz und politische Verhandlungen verbindet. In der Zeit erklärt der Terrorismus-Experte Guido Steinberg, weshalb der afghanische IS-Ableger ISPK Russland angegriffen hat: Dschihadisten denken pragmatisch. Nicht mal eine Wahlniederlage Putins hätte in Russland etwas geändert, glaubt der russische Journalist Vladimir Esipov bei Spon.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2024 finden Sie hier

Europa

Wüssten die Westeuropäer, was die Russen über sie sagen, würden sie sich mehr Sorgen machen und aufrüsten, mahnt die litauische Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė in der FAZ: "Europa hört nicht und liest nicht, was Russland und die Russen über sich und den Westen zu sagen haben. Wenn dann doch einmal eine Übersetzung vorliegt, hält Europa das für eine Übertreibung, einen Bluff, weil es zu verrückt scheint, um es für wahr zu halten. Etwa im Fall der Erklärung des russischen Propagandisten Wladimir Solowjow im russischen Staatsfernsehen, in der er gesagt hat, dass Deutschland irgendwann unter russischer Flagge stehen werde, dass die Russen wieder nach Berlin kommen, dieses Mal aber nicht gehen würden. Das ist kein Scherz - es ist eine Botschaft des Kremls an sein eigenes Volk und darüber hinaus ein aufrichtiger Wunsch vieler Russen, denen fast ein Jahrhundert lang in Schulen, durch Kino, Musik und Theater beigebracht wurde, Deutschland mit Faschisten und Feinden gleichzusetzen. Wenn die deutsche Öffentlichkeit nur die Sprachbarriere überwinden und in den düsteren Ecken der russischen sozialen Medien und Foren stöbern könnte, um die Stimmung der Gesellschaft gegenüber Deutschland zu spüren, wäre sie auf die eigene Sicherheit ernsthafter bedacht."

Die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr warnt in der FR davor, Vorstöße in der Debatte um das Vorgehen im Ukraine-Krieg "moralisch abzukanzeln", wie das in der Vergangenheit geschehen ist. Die deutsche Öffentlichkeit müsse von ihrer Empörungshaltung abrücken und sich realistisch mit möglichen Kriegsszenarien auseinandersetzen. Sie fordert eine "Doppelstrategie", die militärischen Einsatz und politische Verhandlungen verbindet. "Beides gehört unbedingt zusammen: eine härtere Gangart gegenüber Russland einzuschlagen, auch eine Entsendung von Bodentruppen nicht auszuschließen - und zugleich die internationalen Verhandlungen mit Russland unter Regie des globalen Südens voranzutreiben. Nur wenn beide Strategien von Anfang an konsequent verschränkt werden, können sich ihre Schwächen ausgleichen. Trotz direkter Konfrontation ließe sich auch der Kontakt mit Russland ausbauen - und auf diese Weise Eskalationsdynamiken einhegen. Und zugleich ließe sich aus einer Position der militärischen Stärke der Boden für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ebnen - ohne Kiew in Fremdherrschaft zu zwingen."

Die Argumente des SPD-Abgeordneten Rolf Mützenich für das "Einfrieren" (unsere Resümees) des Ukraine-Kriegs werden nicht besser, konstatiert Matthias Naß auf Zeit Online. In einem Interview in der SZ führte Mützenich seine Überlegungen aus, die laut Naß auf zwei großen Fehleinschätzungen beruhen: Zum ersten hoffe Mützenich zu Unrecht auf China als Vermittler: "Beide, China und Russland, wollen die vom Westen geprägte internationale Ordnung überwinden. Zusammen stemmen sie sich der dominierenden Supermacht USA entgegen. Es liegt nicht im Interesse Xi Jinpings, Putin zu schwächen, indem er ihn zum Nachgeben in der Ukraine bewegt." Auch Korea als Vorbild für ein gelungenes "Einfrieren" anzuführen, sei Unsinn: "Zwar schweigen, bis auf vereinzelte Zwischenfälle, seit nunmehr sieben Jahrzehnten die Waffen. Doch politisch gelöst ist nichts. Seitdem sich Nordkorea Nuklearwaffen zugelegt hat, steigen die Spannungen wieder."

Bereits am 20. März hat eine Historikergruppe um Jan C. Behrends, Heinrich August Winkler und Martina Winkler einen Brief an den SPD-Parteivorstand verfasst, in dem sie eine Aufarbeitung der SPD-Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte fordern, Rolf Mützenichs Äußerungen über das "Einfrieren" des Ukrainekriegs verurteilen und von Olaf Scholz eine klare Position gegenüber Russland fordern: "Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände."

Buch in der Debatte

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In seinem aktuellen Buch "Die russische Tragödie - wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde" zeichnet der russische Journalist Vladimir Esipov Russlands Weg in die Diktatur nach. Die Brutalität in Russland wird immer demonstrativer, sagt er im Spiegel Online-Gespräch zu den grausamen Bildern, die von den misshandelten Terrorverdächtigen kursieren, aber auch zur Forderung, die Todesstrafe in Russland wieder einzuführen: "Die Todesstrafe ist längst da: Bei Antiterroreinsätzen dürfen Sicherheitskräfte Verdächtige 'liquidieren', wenn sie glauben, dass diese Terroranschläge planen." Eine Wahlniederlage Putins hätte übrigens nichts geändert, meint er: "Am Ende geht es um ein politisches System ohne freie Medien, ohne freie Justiz, ohne freies Parlament. Um einen Staatsapparat, der Macht und Eigentum schon seit den Neunzigern in einer Hand bündelt. Es gibt in Russland keine Beamten, die Bestechung aus Überzeugung ablehnen. Es werden auch nicht wie in Deutschland aufwendig Steuern umverteilt. Selbst wenn Putin morgen zurückträte, müsste sein Nachfolger sich genauso benehmen, damit das Land regierbar bleibt."

Im Zeit-Gespräch hat der Nahost- und Terrorismusexperte Guido Steinberg wenig Zweifel daran, dass der afghanische IS-Ableger ISPK für das Attentat in Moskau verantwortlich ist. Weshalb gerade Russland, dass die Hamas hofiert, im Fadenkreuz dschihadistischer Terroristen steht, erklärt er damit, dass es zwischen Hamas und IS tiefe ideologische Differenzen" gibt. "Russland hingegen hat der IS schon vor über einem Jahrzehnt als Feind ausgemacht. Ein Grund dafür ist die massive militärische Unterstützung Russlands für das syrische Regime, ein anderer die Kriege in Tschetschenien seit den 1990er-Jahren. Deshalb gab es in der Vergangenheit schon Anschlagsplanungen des IS in Russland. Im Falle des ISPK kommt ein weiteres Motiv hinzu: Der ISPK ist ein Bündnis aus pakistanischen, afghanischen und zentralasiatischen Kämpfern, und gerade für die zentralasiatischen Kämpfer ist Russland ein wichtiges Feindbild, weil Russland die Regime in Zentralasien stützt. Dazu kommt, dass es in Russland viele Zentralasiaten gibt, allein rund eine Million tadschikischer Arbeiter zum Beispiel, und das macht das Land für den ISPK zu einem verhältnismäßig einfach zu erreichenden Ziel. Dschihadisten denken nicht ausschließlich ideologisch, sondern auch pragmatisch: Sie schlagen zu, wo sie können."

"Warum greifen die Terroristen jetzt an?", fragt Jörg Lau ebenfalls in der Zeit: "An Gründen und Motiven mangelt es ihnen selten. In der neuen Weltordnung, die sich gerade herausbildet, häufen sich jedoch vor allem die Gelegenheiten. Es gibt noch keinen guten Namen für diese globale Ordnung oder Unordnung, manchmal ist von einer multipolaren Welt die Rede - ohne feste Blöcke, ohne westliche Vorherrschaft, ohne amerikanischen Weltpolizisten. Das ist nicht per se schlecht. Eine gerechtere globale Machtverteilung wäre zu begrüßen. Doch wo Macht neu verteilt wird, da steigt auch die Risikobereitschaft der radikalsten Akteure. So war es bei der Hamas, als sie Israel überfiel; bei den Huthis, als sie Schiffe im Roten Meer attackierten - und nun offensichtlich beim ISPK, der Putins Fokussierung auf den vermeintlichen Feind Ukraine ausgenutzt hat. Die Einhegung der Gewalt ist die Aufgabe der kommenden Jahre. Sie wird umso schwieriger, weil der gefährlichste Akteur von allen, Wladimir Putin, selbst zum Terroristen geworden ist - zum Staatsterroristen."

Die schamlose Zurschaustellung der übel zugerichteten Terror-Verdächtigen in Moskau zeigt vor allem, was der russische Staat von Menschenwürde hält, meint Roland Bucheli in der NZZ. In den Medien kursieren neben den schlimmen Aufnahmen aus dem Gerichtssaal nun auch "weit schrecklichere Bilder, die auf staatliche Quellen zurückgehen müssen und über Telegram-Kanäle verbreitet wurden. Darauf sieht man unter anderem, wie einem Häftling sein abgeschnittenes Ohr in den Mund gestopft wird. (...) Unverfrorener könnte ein Staat der Weltöffentlichkeit nicht demonstrieren, dass ihm der Mensch, und sei er ein angeklagter Terrorist, nichts bedeutet. So wie das Individuum an der Kriegsfront bloß Kanonenfutter ist, so ist der Mensch an der Heimatfront und im Krieg der Bilder nur Material. Die Ikonografie des Schreckens kennt eine Fülle von Bildern von lebenden oder ermordeten Gefangenen, die sich ins kollektive Bildgedächtnis eingebrannt haben. Stets erzählen sie die gleiche Geschichte einer demütigenden Entmenschlichung."

Ohnehin haben Menschen aus Zentralasien in Russland unter rassistischer Hetze durch Politik und die Russisch-Othodoxe Kirche zu leiden, aber nach dem Anschlag durch vier mutmaßliche Attentäter tadschikischer Herkunft nehmen die Schikanen noch zu zu, berichtet Barbara Oertel in der taz: "Nicht nur Polizei und Sicherheitsdienste machen vermehrt Jagd auf Migrant*innen aus Zentralasien. Auch die Bevölkerung lässt ihre Wut an ihnen aus. In den sozialen Netzwerken kursieren Forderungen, Menschen aus Zentralasien in Massen zu deportieren oder sogar umzubringen. Doch bei Worten bleibt es nicht. So wurden Tadschik*innen angegriffen, von Vermietern aus ihren Wohnungen geworfen oder Taxifahrten wieder storniert, wenn sich herausstellte, dass der Fahrer Tadschike ist."
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Gesellschaft

Die Diversität der britischen Elite ist einmalig, keine Regierung in Großbritannien wird mehr von einem weißen Mann geführt - und niemand macht viel Aufhebens darum, hält Eva Ladipo in der FAZ fest: "Der wichtigste Grund für diese britische Gelassenheit und für die Durchlässigkeit der Elite liegt wahrscheinlich in der Vergangenheit. Ohne den relativ farbenblinden britischen Pragmatismus hätte das Empire niemals funktioniert. Das vergleichsweise kleine Königreich in der Nordsee hätte kein Weltreich regieren können, wenn es die Machthaber der Kolonien nicht auf besonders perfide und effiziente Weise für sich gewonnen hätte. Natürlich basierte das Empire auch auf Gewalt und Unterdrückung. Entscheidend aber war die Kooperation der fernen Eliten - und die gewannen die Briten, indem sie schon vor Jahrhunderten Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer Kultur und anderer Religion in ihr ureigenes Klassensystem aufnahmen. Die Sprösslinge der kolonialen Eliten wurden auf den besten britischen Schulen und Universitäten ausgebildet und dadurch mit großer Selbstverständlichkeit Mitglieder der Upper Class. Was zählte, war der familiäre Hintergrund, das soziale Prestige, Bildung und Reichtum."

Als wohltuend empfand Rüdiger Schaper im Tagesspiegel die Rede von Meron Mendel in der Berliner Akademie der Künste anlässlich einer Tagung unter dem Motto "The Climate we live in". Mendel betonte, so Schaper, die Verantwortung beider Seiten: "In der internationalen Kunstwelt sieht Meron Mendel 'ein hohes Maß an Arroganz und Ignoranz'. Er beschreibt, wie die Freiheit der Kunst von zwei Seiten bedroht wird. Von den radikalen pro-palästinensischen Aktivisten, die kritische Stimmen aus Israel unterdrücken. Und von deutschen Amtsträgern, die 'mit guter Absicht völlig falsch handeln'. Beide Seiten, sagt Mendel, bedienen die Logik des Boykotts. Dies sei antidemokratisch und ein fataler Fehler."
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Wissenschaft

Über die israelische Regierung möchte Asher Cohen, Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem, im Zeit-Interview nicht sprechen. Deutlichere Worte richtet er hingegen an die amerikanischen Universitäten: "Wir dachten, in der wissenschaftlichen Community hätten wir Verbündete, aber die Statements der Unipräsidenten klangen furchtbar kalt. Ich hatte ein langes Zoom-Gespräch mit Claudine Gay, der damaligen Harvard-Präsidentin. Ich glaube ihr, dass sie das alles nicht böse gemeint hat. Und dennoch ... Bis heute hat keine einzige Unileitung aus den USA mich oder die anderen israelischen Universitäten besucht. Mich hat das sehr getroffen. Die Deutschen waren da übrigens ganz anders."
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Medien

Niklas Bender wirft in der FAZ einen Blick auf das französische Verlagswesen und zeigt auf, wie der Medienmogul Vincent Bolloré rechtsextremen Politikern dabei hilft, "publizistisch salonfähig" zu werden. Isabelle Saporta, die Leiterin des wichtigen Pariser Verlages Fayard muss ihren Posten verlassen, Ziel ist die Vereinigung von Fayard mit dem Kleinverlag Mazarine, geleitet von der rechtaußen stehenden Lise Boëll, so Bender. Deren aktuelles Projekt: "ein Buch von Jordan Bardella, Präsident des Rassemblement National und dessen Spitzenkandidat für die Europawahl im Juni. Der 29 Jahre junge Strahlemann führt in den Umfragen mit gut 31 Prozent vor Emmanuel Macrons Kandidatin Valérie Hayer (18). Mit der Veröffentlichung von 'Jordan - venu d'ailleurs, devenu d'ici' (Von anderswo gekommen, ein Hiesiger geworden) soll Bardella an staatsmännischer Seriosität gewinnen - in einen großen Verlag hat es bisher kein RN-Politiker geschafft."
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