9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2024 - Europa

Die EU muss sich reformieren, sonst geht sie zugrunde, warnen in der taz Sylvie Goulard und Daniel Cohn-Bendit, beide ehemalige Europaabgeordnete. Abschaffen wollen sie vor allem das Einstimmigkeitsprinzip. Und sie plädieren für ein föderales Europa: "Angesichts der russischen Bedrohungen und der Gefahr eines US-Isolationismus sollten wir uns reinen Wein einschenken: Es gibt keine politische Macht ohne solide Finanzen (wie es in Frankreich gern geglaubt wird) noch wirtschaftliche Macht, ohne Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen (wie es die Deutschen lange Zeit gehofft haben). Und ganz zu schweigen von der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Demokratisierung der Entscheidungsprozesse: kein demokratisches Europa ohne die Zustimmung der Bürger, kein Europa ohne ein Wir-Gefühl, das die Abgabe und das Teilen von Souveränität rechtfertigt." Denn genau dies begünstige den Vormarsch von Links- und Rechtsextremen, "getragen von nationalistischen und protektionistischen Versprechen. Ihre genialen Ideen würden uns zum Völkerbund zurückführen, mit dem uns allen bekannten Erfolg. Auch die traditionellen Parteien sind weit davon entfernt, etwas für die europäische Einigung zu riskieren und ziehen sie sich lieber in ihr bequemes Schneckenhaus zurück."

Immer wieder hört man, die Medien sollten der AfD keine Bühne bieten und sie ignorieren. In der SZ findet der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Müller das eher fatal, er plädiert für die inhaltliche Auseinandersetzung und hat Vertrauen in die Bürger: "Die große Mehrzahl unterscheidet nicht zwischen 'Pass-' und 'Biodeutschen', hat mit einem ethnischen Volksbegriff nichts am Hut und sieht nicht in jedem Migranten einen potenziellen Vergewaltiger. Sie leugnet nicht den menschengemachten Klimawandel und ist gegen die unterwürfige Anbiederung an Putin. Sie will weder einen EU-Austritt noch die Abschaffung von Euro oder Nato. Sie erachtet den Nationalsozialismus nicht als 'Vogelschiss' der deutschen Geschichte und hat kein Problem, Tür an Tür mit Fußballnationalspielern jeder Herkunft zu wohnen. Wer erlebt hat, wie der frühere Geschichtslehrer Höcke im TV-Duell mit Mario Voigt versuchte, Ahnungslosigkeit bei der Verwendung von Nazi-Parolen vorzutäuschen und herumeierte, als er mit seinen Aussagen zu einer Politikerin mit Migrationshintergrund konfrontiert wurde, sollte das paternalistische Vogel-Strauß-Argument vergessen, man dürfe der AfD keine Bühne bieten. Kritik verdienen nicht Debatten mit der AfD, sondern die Unfähigkeit, dabei fundiert zu argumentieren."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2024 - Europa

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Im vergangenen Jahr hat der Historiker Jörn Leonhard das Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" veröffentlicht. Mit einem "Einfrieren" jedenfalls nicht, sagt er im SZ-Gespräch mit Blick auf die Ukraine: "Putin könnte die Pause nutzen, um weiter aufzurüsten ..." Den Europäern macht er Vorwürfe: "Es ist unerträglich, dass die Europäer und eben auch Deutschland der Ukraine - also allen Menschen, die in der Ukraine leben, leiden und sterben - Versprechungen gemacht haben, die nicht eingehalten wurden, etwa bei der Lieferung von Munition. Wenn der Glaube an die verlässliche Hilfe schwindet, dann kann auch die Bereitschaft zur Verteidigung gegen den Aggressor insgesamt zusammenbrechen. Und dann könnte der Krieg tatsächlich schnell zu Ende gehen - mit einem Sieg Russlands."

Die italienische Philosophin Donatella di Cesare muss sich vor Gericht verantworten, weil sie den italienischen Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida mit einem "Gauleiter" verglichen hatte. Im Zeit-Online-Interview warnt sie vor einer "Orbanisierung Italiens": "Giorgia Meloni will im Grunde in Italien eine dritte Republik gründen - mit starken autokratischen Zügen. Die erste Republik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vom antifaschistischen Grundsatz getragen, auf den sich fast alle in Italien einigen konnten. Die zweite Republik begann mit dem Berlusconismus 1994 und neuen populistischen Elementen. Meloni will den antifaschistischen Grundsatz nun endgültig überwinden. Sie stellt für mich eine Kehre dar. Zurzeit ist etwa eine konstitutionelle Reform in Planung: Es gibt den Vorschlag, den Präsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, was eine Schwächung des Parlaments bedeuten würde. Dazu insistiert Meloni dauernd auf der ethnischen Reinheit des Volkes, die auf gar keinen Fall kontaminiert werden dürfe. In ihrer Version von Italien gibt es eine unmittelbare Beziehung zwischen der Regierungschefin und dem Volk. Wozu die Presse? Wozu die Journalisten? Wozu die Intellektuellen? Ich und das Volk, das ist das Modell."

Die aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza offenbaren eine Spaltung innerhalb Europas Rechter, konstatieren die Politikwissenschaftler Oliviero Angeli und Jakub Wondreys in der Welt: "Die Trennlinie zwischen Rechtsextrem und Rechtsaußen lässt sich ideologisch vor allem unter zwei Gesichtspunkten erklären: Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Rechtsextreme Parteien machen in der Regel kein Hehl aus ihren antisemitischen Neigungen. Weitaus salonfähiger als der Antisemitismus, von dem sie sich zumindest vordergründig emanzipiert haben, ist für Rechtsaußenparteien hingegen Islamfeindlichkeit. So nutzten einige dieser Parteien - wie in der Vergangenheit die postfaschistische Alleanza Nazionale in Italien - ihre Hinwendung zu Israel demonstrativ als Zeichen internationaler Verlässlichkeit. Auch deshalb stehen Parteien wie die Alternative für Deutschland und VOX in Spanien fest an der Seite Israels und deuten den Konflikt in Gaza vor allem als Krieg gegen Islamismus."

Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne die Bredouillen Erdogans: Bei den Kommunalwahlen hatte er jüngst auch verloren, weil ihm die Islamisten Israel-Nähe vorwarfen. Darum empfing er jüngst den Hamas-Führer Ismail Haniyya. Aber nun dies: "US-Präsident Biden empfing Erdogan in den viereinhalb Jahren seit seinem Amtsantritt aller Erwartungen Ankaras zum Trotz bisher nicht im Weißen Haus. Nachdem Ankara seine Blockadehaltung in der Nato aufgegeben hatte, war es ihm in Folge der Wiederannäherung gelungen, einen Termin für den 9. Mai im Weißen Haus zu bekommen. Die um einige Punkte in der Wählergunst willen veröffentlichten Bilder der Freundschaft mit Haniyya aber gefährdeten diesen Termin nun."

Dass sich Frank Walter Steinmeier bei seinem Türkei-Besuch mit Orhan Pamuk, Menschenrechtlern und dem Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu traf, war eine wichtige Geste, dass er hingegen die demokratisch gewählten Vertreter der Kurden ignorierte, "ist nicht allein mit Blick auf die türkische Innenpolitik ein schweres Versäumnis", ärgert sich Deniz Yücel in der Welt: "Seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem Krieg im Gazastreifen herrscht in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft eine aggressive antiisraelische Stimmung, wovon auch Steinmeier einen Eindruck bekam. Fast überall, wo er in den vergangenen Tagen auftauchte, kam es zu propalästinensischen Protesten. Nicht aber von den Kurden. Sie haben den islamistischen Terror in Gestalt des 'Islamischen Staates' am eigenen Leib erlebt, den IS unter hohem Blutzoll niedergerungen, um hernach vom Westen wieder einmal verraten zu werden. Womöglich traf Steinmeier aus diplomatischer Rücksichtnahme keine Vertreter der Kurden. Ein Treffen wäre ein Zeichen gewesen, sie zu übergehen ist es ebenfalls."

FAZ-Korrespondent Friedrich Schmidt schildert seltsame Verwerfungen im russischen Geistesleben. Der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, kurz RGGU, deren Präsident heute der rechtsextreme Eurasianist Alexander Dugin ist, soll eine "Politische Hochschule Iwan Iljin" angegliedert werden, benannt nach dem nationalistischen Exilphilosophen und Sympathisanten der Nazis. Dummerweise ist Iljin auch ein Lieblingsphilosoph Wladimir Putins, der Iljins Gebeine 2005 exhumieren ließ und nach Moskau zurückbrachte. Gegen die Benennung der Hochschule nach diesem "Faschisten" begehren nun die Kommunisten in der Duma auf - und bemühen dabei genau jene "antifaschistische" Rhetorik, die Putin gegenüber der Ukraine entwickelt hat: "'Unser Land kämpft heute auf allen Fronten mit der Erscheinung des Faschismus und Nationalismus', schrieb der Abgeordnete Wladimir Issakow in einem Gesuch an die Generalstaatsanwaltschaft, die Ansichten Iljins als 'Rehabilitierung des Nazismus' zu prüfen. Es gebe, so Issakow, 'keinen ukrainischen oder deutschen Faschismus, das ist alles eins', daher könne man Iljin nicht 'reinwaschen'."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.04.2024 - Europa

In den Niederlanden blickt man gerade etwas verdutzt auf Deutschland, das die Teil-Legalisierung von Cannabis vorantreibt, ohne die organisierte Kriminalität auf dem Schirm zu haben, konstatiert Thomas Kirchner in der SZ. "Experimente sollten gut durchdacht und vorbereitet sein. Keinesfalls sollte man mögliche Folgen einfach ausblenden, nur weil sie nicht ins Konzept passen. Die Kriminalität, die mit dem Drogen-Business einhergeht, ist mehr als ein Randphänomen. In den Niederlanden brutalisiert und zersetzt sie die Gesellschaft. Das muss in Deutschland nicht so kommen. Aber dafür braucht es eine Reform der Reform. Schon bald. Nicht erst, wenn es zu spät ist."

In der NZZ skizziert die russisch-deutsche Schriftstellerin Sonja Margolina die Geschichte der Abtreibungspolitik und der sexuellen Aufklärung in der Sowjetunion. Dabei scheint Putin auch in diesem Punkt eher bei Stalin zu liegen, der das Abtreibungsrecht 1936 aufhob. "Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Abtreibung komplett verboten wird. Doch jetzt schon wird ein bürokratisches Karussell aufgebaut, das eine rechtzeitige Unterbrechung der Schwangerschaft unmöglich macht. Die reproduktive Gewalt ist Bestandteil der neuen Familienpolitik in Russland. Dass diese zur Stärkung der Familie führen wird, glauben selbst diejenigen nicht, die sich in Loyalität gegenüber Putin ergehen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.04.2024 - Europa

Seit "im Kreml nicht mehr die KPdSU im Sattel sitzt, sondern ein 'Racket-Staat' aus autoritärer Führung, mafiösem Kapital und großrussischen Nationalisten" hat ein großer Teil des rechten politischen Flügels der USA ihre Haltung zu Waffenlieferungen geändert, beobachtet der Historiker Volker Weiß in der SZ. Vielleicht, weil sie in "der großrussischen Oligarchie das eigene Begehren wiedererkennen?" Und nicht nur in den USA kann Weiß verfolgen, wie sich die Rechten einen dubiosen Friedensdiskurs aneignen: "Das gilt indessen nicht nur für die ehemaligen US-Falken, auch die deutsche Friedenstaube ist kaum wiederzuerkennen. Seit Jahren taucht das Symbol in immer zweifelhafteren Kontexten auf. 'Frieden schaffen ohne Waffen', das Leitmotiv der Friedensbewegung in den Achtzigerjahren, wird mittlerweile ohne jede Ironie von Björn Höcke verwendet. Hier ist der Wunsch nach Appeasement ebenso groß wie im Gefolge Trumps. Die 'Deutschland zuerst'-Fraktion hat ihre Liebe zu Putin entdeckt, da dessen Interessen den eigenen Wünschen am nächsten kommen. Moskau-Treue ist heute kein Vorwurf mehr, der allein nach links zielt. "

Muss das nicht eigentlich zu einem diplomatischen Eklat führen? Heute trifft unser glückloser Bundespräsident Steinmeier auf seiner Türkei-Reise Tayyip Erdogan. Aber Erdogan hat viel Besuch in letzter Zeit: Am Wochenende empfing er den Hamas-Führer Ismail Haniya wie einen Staatsgast (mehr hier). Zuvor hielt Erdogan eine Rede, in der er nicht zum ersten Mal Israel mit den Nazis verglich: "Brüder und Schwestern, sie haben 14.000 Kinder getötet! Sie haben Hitler schon längst übertroffen. Trotz derjenigen, die den Tod von 14.000 Kindern ignorieren und versuchen, sich bei Israel einzuschmeicheln, indem sie die Hamas als Terrororganisation bezeichnen, werden wir weiterhin mutig - und unter allen Bedingungen - den Kampf für die Unabhängigkeit Palästinas unterstützen." Der Wortlaut von Erdogans Rede findet sich bei memri.org.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2024 - Europa

Jörg Seewald unterhielt sich für die FAZ nach einem Auftritt von Pussy Riot in München mit Bandmitglied Masha Alekhina, die erklärt, dass sie auf ihrer Tournee Geld für die Ukraine sammeln. Und die Deutschen könnten verdammt noch mal auch mehr tun: "Ihr müsst mehr Waffen produzieren, die die Ukraine dringend braucht. Ich weiß noch, wie ihr zuerst Helme geschickt habt, um nicht zu provozieren, und dann Gewehre. Zwei Jahre später gabt ihr die F16-Kampfflugzeuge, aber das war eben zwei Jahre zu spät. Da waren viele Gebiete besetzt, dort herrscht nun der absolute Alptraum - in Mariupol und Donezk haben sich einige meiner Freunde entschlossen, in den besetzten Gebieten zu bleiben. Sie sind schockiert, wie es dort zugeht: Morde, Kidnapping, Folter - diese Dinge passieren jeden Tag. Es ist absolut verrückt zu glauben, man könnte den Krieg so einfrieren. Es ist Irrsinn zu glauben, man könne mit Putin verhandeln. Olaf Scholz rufe ich zu: Hab endlich Eier!"

Kerstin Holm reist in Russland über Land zu Kulturveranstaltungen und unterhält sich mit ihren Mitreisenden. Viele Putinfans darunter. Aber was die Mehrheit denkt? Die FAZ-Korrespondentin erfährt es auch bei "Nonfiction" nicht, einer Moskauer Messe für intellektuelles Schrifttum: "Die Kriegsliteratur ist präsent, etwa beim Petersburger Verlag Lira, dessen Stand ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift 'Donbass Lives Matter' ziert. Hier liegen Schriften des von der EU sanktionierten Fernsehpropagandisten Andrej Medwedjew aus, wonach der ukrainische Staat von den westlichen Staaten als Anti-Russland-Projekt geschaffen wurde, sowie illustrierte Ausgaben der Werke der die 'militärische Spezialoperation' preisenden Z-Dichterin Anna Rewjakina, beispielsweise ihr Poem 'Bergarbeitertochter' (Schachtjorskaja dotsch) über ein Mädchen, das wie sie aus dem Donbass stammt und, nachdem ihr Vater im Krieg gegen die Ukrainer umkommt, als Scharfschützin viele von ihnen tötet. ... Der Verlagsmitarbeiter will über diese Titel nicht sprechen und betont, der absolute Bestseller des Hauses sei das Selbstoptimierungsbuch 'Die 1%-Methode' des Amerikaners James Clear."

In den Zeitungen musste Giorgia Meloni viel Kritik einstecken, nachdem die RAI, die inzwischen von Meloni-Anhängern geführt scheint, einen schon gebuchten Auftritt des Schriftstellers Antonio Scurati absagte, der die nicht erfolgte Aufarbeitung des Faschismus in Italien kritisierte (unser Resümee, seine Rede hat die SZ heute auf Deutsch veröffentlicht, hier das Original), berichtet Karen Krüger in der FAZ. Doch immerhin, inzwischen sind andere eingesprungen, um Scurati Gehör zu verschaffen: "Scuratis Monolog wurde mittlerweile in Zeitungen gedruckt, im Radio verlesen. Der Bürgermeister von Bergamo, Giorgio Gori, hat seinen Kollegen in ganz Italien vorgeschlagen, ihn am 25. April auf den Festbühnen zum Tag der Befreiung vorzutragen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 - Europa

Wieder ein Fall von Rechtsextremismus an Behörden? Joachim Wagner recherchiert in der taz zum Verwaltungsgericht Gera, dessen Richter offenbar programmatisch Freiräume für rechtsextreme Parteien schaffen. So hat das Gericht "einer Neonazi-Gruppe und der NPD (heute 'Die Heimat') über Jahre erstaunlich viel Raum für Demonstrationen, Protestaktionen und rechte Rockkonzerte eröffnet. In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe 'Thügida/Wir lieben Ostthüringen' durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2024 - Europa

Der Gaza-Krieg hat den Ukrainekrieg in den Hintergrund rücken lassen. Und gerade darum kündigt sich jetzt die Katastrophe an, die vor allem mit der seltsamen Taubheit Europas gegenüber der Ukraine zu tun hat, fürchet Stefan Koernelius im Leitartikel der SZ. "Diese Nachlässigkeit hat einen tiefen Grund: Den Europäern fehlt das Bewusstsein, welch historische Zäsur eine Niederlage der Ukraine auslösen würde. Der mangelnden Bereitschaft zur Hilfe geht also eine mangelhafte Analyse der eigenen Betroffenheit voraus. Hier handelt es sich nicht um einen Krieg Russlands gegen die Ukraine, der die Europäer zu Teilzeithelfern wider Willen machte. Dieser Krieg gilt Europa."
Stichwörter: Ukraine

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2024 - Europa

Den Nationalsozialismus abgerechnet, könnte Putin einen neuen "Gipfel des politisch Bösen" erreichen, konstatiert in der NZZ der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow: "Wenn Staatsbedienstete einem Verdächtigen ein Ohr abschneiden und ihn zwingen, dieses zu essen, die ganze Szene auf Video aufnehmen und medial verbreiten, müssen wir uns erst noch überlegen, welchen Namen wir diesem Vorgang geben wollen. In der bestehenden Sprache gibt es dafür noch keine angemessene Bezeichnung. Es ist bestimmt nicht einfach 'Faschismus'. Ich glaube nicht, dass Faschisten solche Dinge getan hätten, selbst wenn sie damals über Handys verfügt hätten. Sie hätten es eher heimlich, im Stillen getan, aber nicht offen, im Namen des Staates. Der IS zum Beispiel könnte so vorgegangen sein, aber der IS ist kein Staat, sondern eine terroristische Organisation. Ein Staat, der sich so etwas gestattet, sollte eine spezielle Benennung haben, aber sicher nicht faschistisch."

Appeasement bringt auch gegenüber Serbien nichts, warnt in der Welt der Politikwissenschaftler Alexander Rhotert, der unter anderem darauf hinweist, dass Serbien über mehr moderne Waffensysteme als alle anderen Westbalkan-Staaten zusammen verfügt. Er erinnert auch daran, dass Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und sein Außenminister Ivica Dacic die "Hauptpropagandisten Milosevics" waren: "Vucic drohte während einer Parlamentssitzung der serbischen Skupstina am 20. Juli 1995, also während des serbischen Srebrenica-Genozids an über 8300 Bosniaken, an dem auch Belgrader Spezialeinheiten, die Skorpione des serbischen Innenministeriums, partizipierten, dass man für jeden von der Nato getöteten Serben 100 Muslime umbringen werden. Dies war die von den Nazis festgelegte Quote während der deutschen Besatzung Jugoslawiens im Zweiten Weltkrieg, nämlich 100 jugoslawische Zivilisten für jeden getöteten Wehrmachtssoldaten zu ermorden. Vucic und seine Gefolgsleute verfolgen den Plan einer 'Serbischen Welt' (Srpski svet), einer adaptierten Neuauflage von Milosevics Großserbien, sprich des Anschlusses der hauptsächlich serbisch-besiedelten Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens an Serbien. Diese umfassen insbesondere die Hälfte Bosniens und den Norden Kosovos. Diese Blut-und-Boden-Ideologie deckt sich mit der 'Russischen Welt' (Ruski mir) Moskaus."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.04.2024 - Europa

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Die Schriftstellerin Joana Osman hat bereits vor dem aktuellen Krieg einen sehr lesenswerten Generationenroman über das Schicksal ihrer palästinensischen Familie geschrieben. Im Spon-Interview schildert sie, wie sie sich für einen Austausch zwischen der israelischen, der iranischen und palästinensischen Zivilgesellschaft einsetzt und versucht zu entschuldigen, weshalb die meisten Palästinenser hierzulande zum Hamas-Angriff schwiegen: "Ich verstehe den Wunsch nach Klarheit. Es ist wichtig, sich rechtzeitig gegen Terror jeder Art zu positionieren. Aber ein Bekenntniszwang hilft nicht weiter, den verlangen wir anderen auch nicht ab. (…) Ich kenne viele Palästinenser, die sich sehr klar gegen Terrorismus und für ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten ausgesprochen haben, die aber auch betonen, dass das, was im Moment in Gaza passiert, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. (…) Vielen wird zu Unrecht vorgeworfen, antisemitisch zu sein. Ich entschuldige niemals Antisemitismus, dafür gibt es keine Rechtfertigung. Man kann trotzdem nicht auf jede Form der Kritik an Israel das Label Antisemitismus setzen. Angst macht mir auch der unsägliche Versuch, Antisemitismus bekämpfen zu wollen, indem man rassistisch wird gegenüber Palästinensern. Umgekehrt wollen einige die Palästinenser vor Rassismus schützen und gleiten in einen perfiden Antisemitismus ab."

Die Parteien der Koalition von Polens Ministerpräsident Donald Tusk hatten im Wahlkampf versprochen, das Abtreibungsrecht in Polen zu liberalisieren, nun hat sich ein überwiegend mit Frauen besetzter Sonderausschuss im Parlament der Sache angenommen, berichtet Reinhard Veser in der FAZ. Aber die Vorstellungen innerhalb der neuen Regierung gehen weit auseinander: "Während eine Mehrheit im Dritten Weg für eine Rückkehr zum Kompromiss von 1993 eintritt, wollen Tusks Bürgerplattform und die Linke die Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlauben; ihre Gesetzesentwürfe unterscheiden sich darin, wie weit sie die Liberalisierung treiben wollen. Hołownia spricht sich angesichts der Zerrissenheit seines Bündnisses in dieser Frage für ein Referendum aus. Der Sejm, in dem Männer über 50 stark überrepräsentiert sind, sei offensichtlich konservativer als die Gesellschaft, argumentiert er. Außerdem könne Präsident Duda das Ergebnis eines Referendums nicht ignorieren. Allerdings hat der Präsident schon deutlich gemacht, dass er ein Referendum nicht zulassen werde."

Die taz gratuliert sich heute zum 45-jährigen Bestehen und widmet ihre Ausgabe der Midlife-Crisis. Unter anderem erinnern sich taz-RedakteurInnen an die vergangenen Jahre. Und weil offenbar vor allem Menschen ab 45 im Bündnis Sahra Wagenknecht vertreten sind, horcht Daniel Bax bei dem Politologen Kai Arzheimer nach, wen die Partei genau ansprechen will: "Das sind vor allem Leute aus der unteren Mittelschicht, klassische Facharbeiter und alle, die sich eine traditionelle sozialdemokratische Politik wünschen - also mehr Staat, höhere Steuern und bessere Sozialleistungen - und zugleich eine Gesellschaftspolitik ablehnen, die sich in ihren Augen zu sehr um Minderheiten, Kultur und Zuwanderung dreht. Gegen das BSW spricht, dass diese Leute vermutlich schon die AfD wählen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2024 - Europa

In der Welt berichtet der Schriftsteller Artur Weigandt von seinem 24-stündigen Aufenthalt in Belgrad, das aus seiner Nähe zu Russland keinen Hehl macht: "Nationalismus liegt in der Luft. So stelle ich mir Russland zu Kriegszeiten vor, wahrscheinlich ist es noch schlimmer. (…) In der Innenstadt erstreckt sich ein großes Wandgemälde, wo die Farben der serbischen und der russischen Flagge ineinander verschmelzen. Dort steht: 'Für die gemeinsame Sache.' Darunter ein Schriftzug von Gazprom. Es ist, als ob sich Serbien tief vor Russland verbeugen würde. Eine Art Patho-Russophilie, eine Art krankhafte Liebe Russland gegenüber."
Stichwörter: Serbien, Russland, Weigandt, Artur