Wo wir nicht sind

Meine Wüste ist schön

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
14.09.2022. Die schottisch-sudanesische Autorin Leila Aboulela erzählt in "Anderswo, daheim" von Frauen zwischen Aberdeen, Kairo und Khartum, die gegen das Heimweh und um Anerkennung kämpfen. Am besten liest man die Geschichten zusammen mit Tajib Salichs Klassiker "Zeit der Nordwanderung", in der ein sudanesischer Ökonom in London zur Gegeneroberung ansetzt.
Selten ist Khartum in so hellen Tönen besungen worden wie in den Erzählungen "Anderswo, daheim" der sudanesisch-britischen Autorin Leila Aboulela. Der Himmel ist sandfarben, die Wüstenluft klar, und die Wasser am Zusammenfluss des Nils sind von einem hypnotisierenden Traumblau. Von den Minaretten verbreiten die Gebetsrufe den Klang der Harmonie. Es ist ein sehnsuchtsvolles Bild, das Aboulela in dem Band "Anderswo, daheim" heraufbeschwört, ihre Protagonistinnen hängen ihm an, weil sie in der Fremde leben, isoliert, entwurzelt und voller Heimweh.

In der Erzählung "Das Museum" zum Beispiel, für die Aboulela im Jahr 2000 mit dem Caine Prize ausgezeichnet wurde, versucht die junge Schadia in Aberdeen einen Platz für sich zu finden. Sie ist Tochter aus privilegiertem Elternhaus, in Khartum ist sie verlobt mit dem Erben der 7up-Lizenz, in Aberdeen studiert sie nicht unbedingt aus eigenem Antrieb, sondern weil ihre Eltern sie dorthin geschickt haben: "So verschaffst du dir bei deinen Schwiegereltern Respekt', hatte ihre Mutter gesagt." Für die kalte Stadt im Norden Schottlands interessiert sich Schadia eigentlich nicht, Kontakt zu ihren Kommilitonen hat sie kaum, allenfalls zu anderen ausländischen Studenten. Doch dann nähert sich ihr der scheue Bryan. Es ist eine Notgemeinschaft, in der beide glauben, sie müssten den anderen nicht fürchten. Er fühlt sich ihrer afrikanischer Herkunft überlegen. Sie verachtet seine einfache Familie, fehlenden Glauben und mangelnde Entschlossenheit. Als sie zusammen ein Historisches Museum besuchen, blicken sie in divergierender Einhelligkeit aus eigener Perspektive auf die Geschichte des Empires. "Ich kann ihre Reiselust verstehen", bemerkt Bryan über die Abenteurer und Eroberer, sie hätten weggehen müssen, "um zu entkommen". Schadia erwidert kühl: "'Sie gingen aus Eigennutz', sagte sie. 'Die Leute gehen doch, weil es ihnen auf irgendeine Weise nützt.'"

In der Geschichte "Sommerlabyrinth" muss ein junges Mädchen wie jedes Jahr nach Kairo, um in den Ferien die Verwandten zu besuchen. Nadia möchte aber Londonerin sein, sie lehnt alles Ägyptische ab, das ihre Mutter unbedingt bewahren möchte. Es kommt ihr so verstaubt und überholt vor. Die Mutter hätte ihre Tochter auch gern mit Cousin Chalid verheiratet, doch der hat sich seine Verlobte selbst ausgesucht: Rîm studiert Islamische Architektur, trägt superschicke Kopftücher und nimmt Nadia mit zu den Pyramiden oder ins TGI Friday auf dem Nil. Die Mutter ist entgeistert, die Tochter hingerissen. Am Ende kehren sie beide mit einem neuen Bild von einem coolen Islam zurück, sie sitzen im Flugzeug, der Pilot ruft "Allah den Barmherzigen" an und lässt die Motoren aufheulen.

Die 1965 in Khartum geborene Leila Aboulela ist in den achtziger Jahren mit ihrem Mann nach Aberdeen gegangen. In ihren intimen Porträts von Frauen in der Fremde zeichnet sie genau diese Erfahrungen nach: Die Einsamkeit, die Entwurzelung, den Verlust der eigenen Kultur, die Angst vor den verächtlichen Briten. Ihre Figuren sind mit ihren Familien oder ihrem Ehemann nach England oder Schottland gekommen, es waren die Umstände, die sie herbrachten, nicht der eigene Entschluss. Sie fühlen sich auf die Bühne gestoßen, ohne eine Rolle zu haben. Mit wenigen, präzisen Sätzen schafft sie eine berührende Nähe zu ihren Figuren, meist reichen ihr dafür eine Geste, ein Blick, ein Seufzer.

Die raffiniert gewirkten Geschichten kreisen um den Islam und die Familie. Politik, Geschichte und Gesellschaft spielen keine Rolle. Aboulela ringt um das Bild der islamischen Frau, die den Begriff der Moderne nicht unbedingt westlich verstehen möchte. Sie schreibt aus der Defensive heraus, oft doppelbödig, aber nicht immer. In der Geschichte "Von Früchten" erzählt sie von einer jungen Frau, die vor Bewunderung für eine arabische Schriftstellerin und Feministin entbrennt. Als sie zu einer ihrer Lesungen nach Edinburgh reist, wird sie von ihr brüsk abgewiesen. Mit Bitterkeit erkennt sie: "Diese Spielart des Feminismus war für Schwesterlichkeit nicht empfänglich. Andere Frauen mussten niedergetrampelt werden, wenn man ganz nach oben gelangen wollte, und Mitleid galt als Schwäche."

Aboulela überzeichnet mitunter. Wenn sie einen Punkt machen möchte, scheut sie sich auch nicht davor, ihre eigenen Figuren herabzusetzen, etwa in der Erzählung "Der Strauß": In ihr kehrt die schwangere Samra nach einem Besuch in Khartum zu ihrem Mann Madschdi zurück, der in London seinen Doktor macht. Sie ist ihm ein bisschen peinlich: "Du siehst aus wie aus der Dritten Welt", begrüßt er sie am Flughafen und muss sie immer wieder ermahnen, neben ihm zu laufen: "Es missfällt ihm ,wenn ich ein paar Schritte hinter ihm gehe. 'Was würden die Leute denken', sagte er. 'Dass wir hinterwäldlerisch seien, barbarisch'." Madschdi will in London ankommen, er ist froh, dem Sudan entflohen zu sein, dessen arabisch-islamistische Herrscherclique den schwarzen Süden versklavte und in Dafur die Mordmilizen der Janjaweed wüten ließ. Doch Samra muss vor ihm und seinen Londoner Freunden auf der Hut sein: "Einmal erwähnte ich die Polygamie und sagte, wir sollten etwas, was Allah erlaubt hatte, nicht verurteilen, und fügte hinzu, dass Madschdis Vater eine Nebenfrau habe. Als sie gegangen waren, schlug er mich, und ich Dummkopf verstand nicht einmal, was ich wohl Schlimmes getan hatte. 'Warum denn, warum?, fragte ich, und er schlug erst recht zu."

Man kann in Madschdi eine Gegenfigur sehen zu dem berühmten Mustafa Saîd in Tajjib Salichs Roman "Zeit der Nordwanderung". Zeitgleich mit Aboulelas Erzählungen hat der Lenos Verlag den sudanesischen Klassiker neu aufgelegt. Man muss diesen von tiefer Menschlichkeit und noch größerer Verzweiflung durchdrungenen Roman gelesen haben, ein Meisterwerk der arabischen Literatur. E ist frappierend, wie sich die Diskurse verschoben haben, der Kontrast zu Aboulelas auf Englisch verfassten Geschichten könnte nicht größer sein.

Mit der "Zeit der Nordwanderung" schuf Salich 1966 einen verstörenden Roman über das Aufeinanderprallen von europäischer Moderne und afrikanischer Tradition, von kolonialer Grausamkeit und antikolonialer Gewalt. Es ist die Geschichte des Mustafa Saîd, der sich im Dorf des namenlosen Ich-Erzählers in Nordsudan niedergelassen hat, um dort ein gutes und gerechtes Leben zu führen, ein Leben der Abbitte. Dem Erzähler, der selbst als Beamter in Khartum arbeitet, enthüllt sich nach und nach das Leben jenes rätselhaften Mannes.

Hochintelligent und Sohn einer verwitweten, aber wohlhabenden Sudanesin aus Khartum, wird  Mustafa Saîd zu Beginn des 20. Jahrhunderts von seinen britischen Lehrern erst nach Kairo auf die Oberschule, dann nach London auf die Universität geschickt. Mit 25 Jahren hat er sich bereits als Professor für Ökonomie einen Namen gemacht mit einem auf Humanität beruhenden Wirtschaftsmodell. Im London der dreißiger Jahre führt er ein ausschweifendes Leben, berauscht vom eigenen Aufstieg, ein Eroberer im Herzen der Kolonialmacht. In den Klubs von Chelsea und Bloomsbury geht er auf Beutezug. Die meisten Frauen fliegen ihm zu, die anderen kann er leicht verführen. Es sind Frauen aus liberalen Elternhäusern, mit Hang zur Rebellion, mit Faible fürs Exotische oder mit labiler Psyche. Ausgerechnet die gehässige Jean Morris, die ihm immer wieder ihre Verachtung vor die Füße wirft, heiratet er, seine Lust auf Abenteuer und sein Wille zu unterwerfen, sind unersättlich: "Mein Bett war ein Höllenpfuhl. Wenn ich nach ihr griff, war es als fasste ich in Wolken, als schliefe ich mit einer Sternschuppe, als bestiege ich den Rücken eines preußischen Militärmarschs."

Salich schreibt mit herrlich bildhaftem Witz, doch er erzählt eine Tragödie. In ihrem Nachwort spricht Regina Karachouli, die den Roman exzellent übersetzt hat, von Mustafa Saîds "antikolonialem Sexkrieg", was ebenfalls ziemlich lustig ist, aber vielleicht die Verlorenheit und Verzweiflung verdrängt, die Mustafa Saîds Eskapaden eigentlich zugrunde liegen. Einige Frauen nehmen sich das Leben. Für den Tof von Jean Morris wird ihm vor Old Bailey der Prozess gemacht. Mustafa wird von Heuchlern angeklagt, aber von den Anständigen verteidigt. Ein Kollege sagt für ihn aus: "Mustafa Said ist ein vortrefflicher Mensch, dessen Geist die westliche Zivilisation in sich aufnahm, dessen Herz jedoch an ihr zerbrach."

Die Geschichte um Mustafa Saîd, diesen tragischen afrikanisch-arabischen Helden, der durchaus vor Eifersucht entbrennt, aber darauf beharrt, kein Othello zu sein, ist eine grandiose Allegorie und bewegendes menschliches Drama zugleich. Salich erzählt sie mit immenser literarischer Kraft, in elegant verschlungener Konstruktion und voller Anspielungen an Shakespeare, Joseph Conrad, Frantz Fanon und die Meister der arabischen Lyrik. Seine Sprache ist voller Poesie und wunderbarer Bilder: Über das Leben an der Biegung des Nils heißt es: "Die Gazelle sagt: Meine Wüste ist schön wie Damaskus."

Der namenlose Ich-Erzähler der Geschichte, der Jahrzehnte später Mustafa Saîds Schicksal in Erfahrung bringt, hat ebenfalls in London studiert. In ihm spiegelt sich Mustafa Saîds Schicksal. Auch er will sein Wissen und seine Ausbildung nutzen, um gegen Armut und Unrecht zu kämpfen. Doch im mittlerweile unabhängigen Sudan richtet sich sein Kampf nicht mehr gegen die britische Kolonialmacht, sondern gegen die rückständigen Traditionen auf dem Land, gegen die Raffgier der eigenen Eliten in der Stadt und gegen eine Kultur der Verantwortungslosigkeit, die sich im Schweigen und Erdulden erschöpft und am Ende die Schuld immer von sich schiebt, meist auf die andere Sippe oder das Böse: "Frauen sind des Teufels Schwestern". Seine Kampf wird vielleicht nicht vergeblich sein, aber ein ebenso tragisches Ende nehmen. Auch er wird für den Tod einer Frau die Verantwortung tragen.

In Leila Aboulelas Geschichten kämpfen die Figuren gegen das Heimweh und um Anerkennung, keine aussichtslose Sache. Bei Tajjib Salich führen sie Krieg, gegen den Unterdrücker, aber auch gegen sich selbst. Der Einsatz war höher, ein Sieg unmöglich.

Leila Aboulela: "Anderswo, daheim". Erzählungen. Aus dem Englischen von Irma Wehrli. Lenos Verlag, Basel 2022, 238 Seiten, 25 Euro. (Bestellen)

Tajjib Salich: Zeit der Nordwanderung. Roman. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Lenos Verlag, Bael 2022, 204 Seiten, 18 Euro.